No.1__La Passione

Christoph Willibald Gluck (1714–1787): Don Juan ou Le Festin de Pierre, Ballet Pantomime (1761). Originale Version
Sinfonia. Allegro / Andante Grazioso / Andante / Allegro forte risoluto / Allegro gustoso / Moderato / Grazioso / Allegro / Moderato – Presto / Risoluto e Moderato / Allegro / Allegro / Allegro / Andante staccato / Larghetto / Allegro non troppo

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Chr. W. GLUCK: DON JUAN OU LE FESTIN DE PIERRE, BALLET PANTOMIME (1761). ORIGINALE VERSION

Sinfonia. Allegro / Andante Grazioso / Andante / Allegro forte risoluto / Allegro gustoso / Moderato / Grazioso / Allegro / Moderato – Presto / Risoluto e Moderato / Allegro / Allegro / Allegro / Andante staccato / Larghetto / Allegro non troppo 

 

Gekürzte Fassung aus:
Sybille Dahms, Einige Fragen zur Originalfassung von Gluck und Angiolinis Don Juan

in: Christoph Willibald Gluck und seine Zeit, hrsg. von Irene Brandenburg, Laaber 2010, S. 148-157.

Als die Ballettpantomime Don Juan mit der Ballettmusik Christoph Wlillibald Glucks und in der Choreographie von Gasparo Angiolini am 17. Oktober 1761 ihre Erstaufführung erlebte, dürfte es nur einem kleinen Teil des Publikums bewusst gewesen sein, dass man einem Ereignis beiwohnte, das später als einer der Meilensteine der Ballettgeschichte gewertet werden würde. Le Festin de Pierre / Das steinerne Gastmahl, wie der Titel der Premiere lautete, war eines der ersten vollständig ausgeführten ballets en action, da hier eine komplette dramatische Handlung ohne den Gebrauch eines gesprochenen oder gesungenen Textes, jedoch ausschließlich mittels der neu entwickelten Sprache der Gestik und Mimik dargestellt wurde – in der Sprache des Körpers en action, wie Noverre dies in seinen Lettres sur la Danse et sur les Ballets nannte. In Don Juan wurde die stumme Körpersprache durch die kongeniale Musik Glucks unterstützt, die all jene semantischen Qualitäten bereitstellte, die zum Ersatz des gesprochenen Wortes notwendig waren. «Musik ist ein wesentlicher Teil des pantomimischen Balletts. Es ist die Musik, die spricht, wir machen nur die Gesten», schreibt Angiolini in seinem Vorwort zum Don Juan-Programm.

In Wien war die Atmosphäre zur Etablierung neuer Entwicklungen in den Künsten ganz allgemein und speziell für das Theater zu dieser Zeit besonders günstig. Im Jahr 1754 war der gebürtige Genueser Graf Giacomo Durazzo, ein Diplomat und passionierter Theaterliebhaber, zum Direktor der Wiener Bühnen ernannt worden – für das Burgtheater (zumeist von der kaiserlichen Familie und dem Adel frequentiert) und für das Kärntnertortheater (das Theater des Bürgertums / der Mittelklasse). In Zusammenhang mit dem vom österreichischen Staatskanzler Fürst Kaunitz eingeleiteten Wandel in der österreichischen Außenpolitik, der zu einer Annäherung zwischen Österreich und Frankreich führte, versuchte Durazzo, die kulturellen Verbindungen beider Länder enger zu gestalten, und als ein Mann der Aufklärung war es sein besonderes Anliegen, konstruktiven Kontakt zu Pariser Künstlern und Intellektuellen herzustellen. Sein wichtigster Korrespondent in Paris war der wendige Charles Simon Favart, der ihn nicht nur mit Libretti und Musikalien für Komödien und Opéras-comiques, sondern auch mit entsprechenden Schauspielern, Tänzern, Bühnenbildnern und Bühnentechnikern versorgte und ihn darin unterstützte, eine französische Theaterkompanie am Burgtheater zu etablieren. Gleichzeitig sammelte Durazzo um sich einen ausgewählten Kreis von Künstlern, Intellektuellen und adeligen Amateuren, die ihn in seinen Bestrebungen für ein autonomes Wiener Theater unterstützten und anregten, einem Theater, in dem sich der neue Geist der Aufklärung mit österreichischer Volkstheatertradition und italienischer Oper verbinden sollte. Ab 1761, nahm Gluck eine Führungsrolle in diesem inspirierten und inspirierenden Kreis ein; hierbei war der Schriftsteller und Abenteurer Ranieri de' Calzabigi an seiner Seite. Ebenfalls zu diesem Kreis zählte der Wiener Ballettmeister Franz Anton Hilverding, der in den 1750er Jahren bereits damit begonnen hatte, mit volkstümlichen Wiener Genreballetten zu experimentieren, die ganz auf der Linie der von Durazzo angestrebten Vorstellungen lagen, wobei ihm bald sein genialer Schüler, der gebürtige Florentiner Gasparo Angiolini, assistierte. Als Hilverding 1758 einem Ruf der Zarin Elisabeth folgte, um am russischen Hof die Position eines Ballettmeisters zu übernehmen, wurde Angiolini sein Nachfolger als Ballettmeister der Wiener Bühnen, nahm aber auch weiterhin die Position des «Premier Danseur» (des ersten Solotänzers) wahr.

Nach 1758 ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Angiolini und Gluck nachweisbar, wobei beide kleine Genreballette à Ia Hilverding zunächst als Experimentierfeld benützten, bis sie sich schließlich 1761, einem bedeutenden Stoff der Weltliteratur für die Ballettpantomime, Le Festin de Pierre / Don Juan, zuwandten. Mit ihrem Don Juan-Ballett schlugen sie nicht nur ein bedeutendes Kapitel der Ballettgeschichte auf, sondern dieses Werk erfüllte darüber hinaus zweifellos auch die Funktion eines Pilotprojektes für Glucks und Durazzos Ideen einer Reform der Oper. Diese Reform sollte nicht nur auf einem Wandel in der musikalischen Dramaturgie basieren, sie sollte zudem einen neuen Typus der dynamischen Annäherung an die Bühnenpräsentation anstreben, die nicht nur die Bewegung auf der Bühne. sondern auch die Bühnenausstattung und -technik betraf, wie dies bereits in den Balletten Hilverdings und Angiolinis während der 1750er Jahre erprobt worden war. So erscheint es nur als logische Folge, dass das Team Gluck, Calzabigi und Angiolini ein Jahr nach Don Juan mit der Azione teatrale Orfeo am 5. Oktober 1762 an die Öffentlichkeit trat, mir jener epochemachenden Oper, in der der Durazzo-Kreis erstmals nahezu alle seine Vorstellungen erfüllt sah.

Dass das Don Juan-BalIett tatsächlich die Funktion eines Pilot-Projektes erfüllte, wird durch das Faktum gestützt, dass es in einer ziemlich großen Zahl von Quellen dokumentiert wurde, die uns nicht nur über das Werk selbst, sondern auch über dessen Entstehungsprozess und über die Rezeption informieren. Doch diese umfangreiche Dokumentation ist - insbesondere was die musikalischen Quellen betrifft – auch mit einigen ernsteren Problemen verbunden, denn wie bei vielen Werken Glucks gilt die autographe Partitur als verloren. Handschriftliche Kopien, die zumeist zu Glucks Lebzeiten entstanden sind und die aus Stimmensätzen, Partituren, Klavierauszügen und anderen Instrumentalbearbeitungen bestehen, überliefern das Ballett in unterschiedlichen Versionen:

Die allgemein bekannte und heute noch gängige Langfassung, die aus 31 Nummern besteht; sie wurde im 20. Jahrhundert zweimal in kritischen Ausgaben vorgelegt. In dieser Fassung war das Ballett auch erstmals im Druck, und zwar in Form eines Klavierauszuges zu Beginn des 19. Jahrhunderts (vermutlich vor 1825) bei Wollank in Berlin erschienen. Diese Langfassung ist in einem einzigen Manuskript vom Ende des 18.Jahrhunderts überliefert; von dieser Quelle ausgehend wurden während des 19. Jahrhunderts verschiedene weitere Abschriften angefertigt.
Die Kurzfassung, die aus 15 Nummern besteht, die alle in der Langfassung enthalten sind, wobei man allerdings eher von 13 Nummern sprechen sollte, denn die Nummer 25 der Langfassung wurde hier in drei Nummern unterteilt. Diese Kurzfassung ist in elf handschriftlichen Kopien überliefert, die sich aufgrund einer Reihe von Indizien (wie etwa Papierqualität, handschriftliche Charakteristika, spärliche Angaben zur Dynamik und Artikulation etc.) auf einen nicht zu weit von den ersten Aufführungen entfernten Zeitraum datieren lassen.
Es existiert überdies eine zweite Langfassung, die sich in der Bibliothek des Konservatoriums in Parma befindet und bislang kaum Beachtung gefunden hat, obwohl sie Glucks Namen auf der Titelseite trägt und mindestens soviel Originalmusik enthält wie die allgemein bekannte Langfassung. Diese Parma-Version besteht aus 19 Nummern, wobei alle Nummern der Kurzfassung Verwendung finden, allerdings oft auf dreifache Länge erweitert.

Doch das Don Juan-Ballett ist nicht nur musikalisch überliefert. Da gibt es das «Programm», das Angiolini vermutlich in Zusammenarbeit mit Calzabigi für die Premiere verfasste und dessen französische Version im Wiener Verlagshaus Trattner, die deutsche im Verlag van Ghelen erschien. Darin veröffentlicht Angiolini einen kurzen Essay, seine erste «Dissertation», in der er den «coup d'essay» der Wiederbelebung der Pantomime «nach Art der Alten» erläutert. Hier verteidigt er auch die Wahl des Stoffes: Don Juan war bereits als gesprochenes Drama aufgeführt worden; warum sollte es nicht auch in getanzter Form erfolgreich sein? Er fügte hierbei auch eine Art Ballettlibretto bzw. Szenar ein, eine Beschreibung der Handlung, die er in drei Akte unterteilte. Obwohl der Inhalt zu dieser Zeit in Wien mehr als bekannt war – Molières Komödie war im französischen Theater aufgeführt worden, und eine deutsche Version wurde mit großem Erfolg im Kärntnertortheater gegeben – war sich Angiolini offensichtlich nicht ganz sicher, ob die neuentwickelte pantomimische Sprache seiner Tänzer-Darsteller wirklich für ein hierin noch unerfahrenes Publikum zur Gänze verständlich wäre.
Aus diesem «Libretto» wird ersichtlich, dass es nur eine äußerst begrenzte Auswahl von Motiven aus dem Spektrum des Don Juan-Mythos' enthielt, aus diesem reichen Fundus von Legenden aus dem mediterranen Raum, die in zahllosen Versionen von zum Teil hoher Literarischer Qualität seit Beginn der 17. Jahrhunderts dramatisiert worden waren. Diese Don Juan-Dramen, die auch einen starken Einfluss auf das musikalische Theater Ihrer Zeit ausübten, führten eine große Vielfalt von Standardmotiven und Topoi ein. Verglichen mit diesem traditionsreichen Repertoire erscheint Angiolinis Don Juan auf ein Minimum reduziert. Die stark gekürzte Handlung ist in drei Akte unterteilt:

Don Juan verführt Donna Elvira, die Tochter des Kommandeurs, dessen fehlgeschlagene Rache und sein Tod im Duell mit Don Juan.
Don Juan gibt ein Fest für seine Freunde und Maitressen. Am Höhepunkt der Vergnügungen erscheint der Geist des toten Kommandeurs als Statue. Die verängstigten Gäste fliehen, Don Juan lädt die Statue zum Gastmahl ein, die Statue lädt Don Juan in ihr Grab ein, Don Juan nimmt die Einladung an, und das Gespenst entfernt sich. Don Juan versucht, seine Gäste aufzumuntern, doch sie fliehen erneut. Don Juan fordert von seinen Diener, ihn zum Friedhof zu begleiten, doch dieser verweigert den Befehl.
Im Mausoleum ermahnt das Gespenst Don Juan zur Reue und rät ihm, seinen Lebenswandel zu ändern. Don Juan bleibt verstockt. Die Hölle öffnet sich, und eine große Menge von Furien quält Don Juan und zieht ihn in den Abgrund.

Hier stellt sich nun die Frage: Sah das Publikum der Erstaufführung das Don Juan-Ballett in der im Programm beschriebenen Form? Zwei unschätzbare Augenzeugenberichte belegen, dass dem nicht so war.
Einer dieser Augenzeugen war Philipp Gumpenhuber: Der Hilfschoreograph und Bühnendirektor an den Wiener Theatern stammte aus einer österreichischen Tänzerdynastie. In seinem handschriftlich überlieferten Repertoire de tous les Spectacles, qui ont été donné [sic] au Théatre de la Ville verzeichnete er tägliche Berichte über alle Proben, Aufführungen oder sonstige wichtige Vorkommnisse des Theateralltags, wozu er höchstwahrscheinlich von Graf Durazzo beauftragt worden war, dem diese Aufzeichnungen auch gewidmet sind.
Gumpenhuber überliefert interessante Fakten bezüglich der Generalprobe, die am selben Tag wie die Premiere stattfand, und er erwähnt, dass das Ballett lediglich aus zwei Teilen bestand und nennt auch nur zwei Protagonisten: Don Juan, getanzt von Angiolini selbst, und den Kommandeur, getanzt von Pierre Bodin, einem der Premiers Danseurs der französischen Kompanie.

Diese bereits reduzierte Version von Angiolinis Originalszenar erscheint in der Beschreibung des zweiten Augenzeugen, des Grafen Karl Zinzendorf, sogar noch kürzer. Dieser leidenschaftliche Theaterliebhaber, der keine Premiere und kein bedeutendes Theaterereignis versäumte und dessen Tagebuch daher eine Quelle unschätzbaren Werts für das Wiener Theaterleben dieser Epoche ist, hatte natürlich der Premiere von Don Juan beigewohnt. Die Beschreibung in seinem Tagebuch stimmt nur bezüglich des ersten Aktes und des ersten Teils des zweiten Aktes mit dem gedruckten Szenar überein; doch ab dem Auftritt des Gespenstes unterscheidet sich die Handlung deutlich von der von Angiolini angegebenen. Nach der Flucht der verängstigten Gäste folgt eine Szene, in der Don Juan sich über den Geist lustig macht, indem er seine Bewegungen imitiert: «Don Juan s'en moque et imite tous les mouvements du spectre.» Diese drastische Verspottungsszene leitet unmittelbar zum Finale über mit dem Tanz der Furien und Don Juans Höllenfahrt.
Es fehlt die Einladung des Geistes zum Grabmal, der zweite Auftritt und die zweite Flucht der Gäste, Don Juans Szene mit dem Diener und der dramatische Dialog zwischen dem mahnenden Geist des Kommandeurs und dem verstockten Don Juan. Diese Auslassungen – und hier stimmen die Aufzeichnungen des Grafen mit denen Gumpenhubers überein, indem sie nämlich nur zwei Teile des getanzten Dramas und nur zwei männliche Hauptdarsteller nennen - vermitteln somit den Eindruck, dass Angiolini die im Programm niedergelegten Intentionen zum Zeitpunkt der Premiere nicht realisieren konnte.
Nichtsdestotrotz muss Don Juan selbst in dieser kurzen Version erfolgreich gewesen sein: Das Ballett wurde während der nächsten sechs Wochen zehn mal gegeben, was Angiolini die Zeit und die Möglichkeit gab, über einige notwendige Verbesserungen nachzudenken. Glücklicherweise informieren uns Gumpenhubers Aufzeichnungen unter dem Datum des 2. Februar 1762 über Angiolinis Versuche, das Ballett mit Besetzungsänderungen zu probieren. Der wichtigste Wechsel betraf die Rolle des Kommandeurs: Der Danseur noble Pierre Bodin wurde durch den Charakterdarsteller Turchi cadet (vermutlich Vincenzo Turchi) ersetzt. Der Theatromane Graf Zinzendorf, der das Ballett am 8. Februar 1762 erneut sah, vermerkt in seinem Tagebuch eine erstaunlich andersartige Präsentation der dramatischen Dialogszene zwischen dem Geist des Kommandanten und Don Juan zu Beginn des dritten Aktes, die offensichtlich die Verspottungsszene der Premiere ersetzt hatte. Doch auch nach dieser Veränderung scheint Angiolini seine Experimente mit dem Don Juan-BalIett fortgesetzt zu haben, wie man aus Gumpenhubers Repertoire ersehen kann. Im April 1763 berichtet dieser, dass Angiolini spätestens bis zu diesem Zeitpunkt den Diener, den «domestique» und somit den dritten Protagonisten der Ballettpantomime eingeführt haben muss. Diese hatte damit ihre endgültige Form erlangt und war nun mehr oder weniger in Übereinstimmung mit Angiolinis im gedruckten Programm von 1761 festgelegten Intentionen.
Es gibt keinerlei Nachweis dafür, ob Angiolini oder Gluck jemals ihr erfolgreiches Ballett nach dem 4. Oktober 1763, als es noch ein letztes Mal anlässlich einer Gala-Vorstellung im Schloss Schönbrunn aufgeführt wurde, überarbeitet haben. Die europaweite Rezeption und die diversen Revisionen und Umarbeitungen durch andere begannen jedoch spätestens ab Mitte der 1760er-Jahre, insbesondere in Italien und Deutschland, später in England und Skandinavien und sogar in Spanien und Portugal.

Man hat sich wiederholt die Frage gestellt, ob Gluck möglicherweise zunächst eine größere Zahl von Tanzsätzen komponiert haben könnte, aus der Angiolini genau jene Sätze auswählte, die ihm für seine dramatische Pantomime passend schienen. Für die sehr eingeschränkte Aktion des gedruckten Originalszenars wurde lediglich Musik für eine etwa zwanzigminütige Dauer benötigt, was geradezu perfekt mit der Kurzfassung übereinstimmt – und es scheint (wie wir eingangs sahen), dass Angiolini bei der Premiere am 17. Oktober 1761, als er noch mit der ungewohnt neuen pantomimischen Sprache zu kämpfen hatte, nicht einmal alle diese 15 Nummern verwendete. Doch es steht außer Frage, dass die Handlung des Balletts, wenn der dramatische Darstellungsmodus strikt gehandhabt wurde, in der kürzest möglichen Zeit ablaufen musste, ganz so wie Angiolini dies 1765, also vier Jahre nach Don Juan, in seiner Dissertation für sein tragisches Ballett Semiramis festgestellt hatte: «L'art du geste qui abrève merveilleusement les discours, qui par un seule signe expressive supplée souvent à un nombre considérable de paroles, reserre lui-même par sa nature la durée de I'action pantomime.»

Doch in den folgenden zwei Jahren scheint sich diese Kurzfassung konsolidiert zu haben, wie wir aus einigen jener musikalischen Quellen entnehmen können, die Szenenanweisungen enthalten, die sich mit dem Text des originalen Librettoszenars decken. Später jedoch führten Adaptionen des Balletts, die von diversen Choreographen in Italien und Deutschland durchgeführt wurden, zu einer Erweiterung der originalen Handlung. Diese Erweiterungen machten naturgemäß auch eine Vermehrung von Glucks originaler Musik von 1767, also der Kurzfassung, erforderlich. Dies wird besonders anhand der Langfassung ersichtlich, die sich heute in Parma befindet und aus der sehr klar hervorgeht, dass man hier Stücke der Kurzfassung verlängert und einige neue Stücke hinzugefügt hatte. Wenn wir nun die bekannte Langfassung unter diesem Gesichtspunkt betrachten, müssen wir die Frage stellen, ob diese Fassung, die Glucks Namen trägt, nicht auch Stücke enthalten könnte, die nicht von Gluck stammen, sondern von anderen Komponisten beigetragen wurden, solche Stücke nämlich, die von den Choreographen für ihre Zwecke benötigt wurden - derartige Hinzufügungen waren zu Zeiten Glucks und Angiolinis gängige Theaterpraxis. Somit bestünde die übliche Langfassung aus der Kurzfassung von 1761 und zusätzlichen siebzehn Sätzen, die zumindest teilweise von anderen Komponisten stammen könnten. Folgende Indizien sollen diese Hypothese stützen:
Es war bereits bekannt, dass zwei Sätze der Langfassung (Nr. 15 und 20) vollständig ident sind mit zwei Sätzen aus Joseph Starzers Ballettmusik für Noverres Ballett Adèle de Ponthieu (Wien 1773). Musikwissenschaftler wie etwa Richard Engländer, der Herausgeber der Langfassung in der Gluck-Gesamtausgabe (Bd. II/1), hatten gefolgert, dass Starzer diese Sätze Glucks Don Juan entnommen haben könnte und haben deshalb die Langfassung auf eine Zeit vor 1773 datiert. Doch könnte es nicht genau gegenteilig gewesen sein, insbesondere wenn wir an Starzers ausgezeichnete Ballettmusik denken, die manchmal sogar Mozart zu einigen seiner Instrumentalwerke anregte? Doch hier gibt es noch ein weiteres Indiz: Die erweiterten musikalischen Fassungen, wie die Parma-Version, aber auch Galeottis Adaption für das Kopenhagener Ballett verwenden ausschließlich Sätze aus der Kurzfassung und niemals aus der Langfassung. Schließlich mag als stärkstes Argument das folgende Faktum gelten, dass nämlich Gluck, der bekanntlich für spätere Kompositionen oft Musik früherer Werke verwendete, im Falle des Don Juan-Balletts nur Musik der Kurzfassung, die wir nun wohl als die Originalfassung betrachten sollten, verwendete, etwa für seine Opern Iphigénie en Aulide und für den Pariser Orphée (beide 1774, für die französische Version von Cythère assiégée (1775) und für Armide (1777), wie dies Klaus Hortschansky klar in seiner umfassenden Studie zu Glucks Selbstentlehnungen festgestellt hat. Vielleicht werden sich in näherer Zukunft einige der Rätsel um die bekannte Langfassung lösen lassen, möglicherweise auch mit Hilfe des Datenbankprojektes, das 2003-2006 an der Abteilung Musik- und Tanzwissenschaft / Derra de Motoda Dance Archives an der Universität Salzburg durchgeführt wurde und das mehr als 220 Ballette aus der Zeit der Wiener Klassik, von Komponisten wie Joseph Starzer, Franz Aspelmayer und Florian Deller u.a. umfasst.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint es aber eher klar zu sein, dass die aus 15 (oder 13) Sätzen bestehende Kurzfassung des Don Juan-Balletts als Glucks Originalversion der Ballettmusik betrachtet werden sollte, als die einzige Version, die mit Angiolinis Librettoszenar von 1761 übereinstimmt. In dieser Form ist Don Juan nun dabei, wiederum das Konzertpodium zu betreten und - so ist zu hoffen - bald auch die Bühne.

«La musique est essentielle aux Pantomimes; c'est elle qui parle, nous faisons que les gestes», in: G. Angiolini, Le Festin de Pierre. Ballet pantomime, Wien: Trattner 1761, S. 14.
Für detailliertere Informationen siehe B. A. Brown, Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford 1991.
C. W. Gluck, Don Juan. Pantomimisches Ballett, hrsg. von R. Haas (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 30/2, Bd. 60), Wien 1923. C. W. Gluck, Don Juan / Semiramis. Ballets Pantomimes, hrsg. von R. Engländer (GGA II/1), Kassel etc. 1966.
Staatsbibliothek Berlin (Mus. Ms. 7827).
Diese finden sich in Brüssel (Bibliothèque Royale), München (Bayerische Staatsbibliothek) und Dresden (Sächsische Landesbibliothek).
Zu weiteten Details zu den Quellen sei auf die in Vorbereitung befindliche Edition dieser Version in der Gluck-Gesamtausgabe verwiesen (GGA II/2).
Um nur einige zu nennen: Tirso de Molina, El Burlador de Sevilla y Combidado di Pietra, Madrid 1630; G. A. Cicognini, Il Convitato di Pietra, Florenz und Pisa 1632; Molière, Dom Juan, Paris 1665; T. Shadwell, The Libertine Destroyed, London 1676; C. Goldoni, Don Juan Tenorio o sia Il Dissoluto Punito, Venedig 1736.
Gumpenhubers Repertoire, das die Spielzeiten 1758-63 umfasst (ausgenommen das Jahr 1760) befindet sich heute teilweise in der Harvard Theatre Collection, teilweise in der Musiksammlung der Wiener Nationalbibliothek. Eine kommentierte kritische Ausgabe wird derzeit an der Gluck-Arbeitsstelle der Abteilung Musik und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg zum Druck vorbereitet.
Die Tagebücher des Grafen Karl Zinzendorf umfassen die Jahre 1752-1813 (56 Bände); sie befinden sich im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Ihre Publikation wird seit 1999 im Rahmen eines Internationalen Forschungsprojektes an der Universität Graz vorbereitet. Es gibt überdies eine kommentierte Edition der Jugendtagebücher des Grafen: Karl Graf Zinzendorf, Aus den Jugendtagebüchern (1752-1763), hrsg. von M. Breunlich / M. Mader, Wien 1997.
10 K. Zinzendorf, Die Jugendtagebücher, S. 239ff.
11 Die Kunst der Gestik, die den Dialog auf wunderbare Weise abkürzt und oft durch ein einziges ausdrucksvolles Zeichen eine beträchtliche Zahl von Worten ersetzt, verkürzt durch ihre spezielle Eigenart [Natur] die Dauer der pantomimischen Aktion. G. Angiolini, Dissertation sur les Ballets Pantomimes des Anciens publiée pour servir de Programme au Ballet de Semiramis, Wien 1765, B5. Die Kurzversion umfasst die folgenden Nummern der bekannten Langfassung: 1, 2, 5, 18, 19, 21-26, 30, 31. Zum Vergleich der beiden Versionen siehe die Übersicht im Anhang.
12 Bei diesen Quellen handelt es sich um eine Partitur in der Staatsbibliothek Regensburg, einen Stimmensatz in der Universitätsbibliothek Münster, sowie das sogenannte Pariser Szenar in der Bibliothèque du Conservatoire Paris und in der Staatsbibliothek Berlin. Diese Szenenanweisungen wurden in die in Vorbereitung befindliche kritische Ausgabe des Don Juan eingefügt.
13 K. Hortschansky, Parodie und Entlehnung im Schaffen Christoph Willibald Glucks (Analecta Musicologica 13), Köln 1973, S. 298.
14 Das Datenbankprojekt Ballettmusik im Kontext der Wiener Klassik an der Abteilung Musik- und Tanzwissenschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg (Derra de Moroda Dance Archives – Mitarbeit: Irene Brandenburg und Michael Malkiewicz, Leitung: Sibylle Dahms) wurde mit Mitteln des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung durchgeführt. Es enthält Inzipits aller Sätze der einzelnen Ballette sowie viele weitere Angaben, wie etwa zu Tänzern, Choreographen, Librettoszenaren, Bühnenausstattung.
15 Die Kurz- oder Originalfassung wurde bereits während des Klangbogen-Festivals 2006 in Wien (Theater an der Wien) unter der Leitung von Heinrich Schiff aufgeführt, ebenso von Marc Minkowski mit den Musiciens du Louvre auf einer Europa-Konzerttour im Dezember 2006 sowie bei der Mozartwoche Salzburg 2008. Der Bärenreiter-Verlag hat entsprechendes Aufführungsmaterial hergestellt. Die Partitur, die von der Autorin zum Druck vorbereitet wurde, wird zusammen mit Glucks und Angiolinis Ballett Alexandre et Rosane, hrsg. von I. Brandenburg, als Bd. II/2 der GGA 2010 erscheinen.

VOL. 1 _LA PASSIONE

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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No.2__Il Filosofo

Wilhelm Friedemann Bach (1710–1784): Sinfonia in F-Dur
Vivace / Andante / Allegro / Menuetto I alternativement – Menuetto 2 – Menuetto 1 da capo

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WILHELM FRIEDEMANN BACH (1710–1784): SINFONIA F-DUR C2 FK 67

Vivace / Andante / Allegro / Menuetto I alternativement – Menuetto 2 – Menuetto 1 da capo

 

von Christian Moritz-Bauer

Wie schon die als Jagdstück verklungene Haydn-Sinfonie Nr. 22, so versteht auch ein auf die Dresdner Zeit (1733-1746) des ältesten Bach-Sohnes zurückgehendes Streicherwerk in sich alte mit neuen Kompositionsideen zu verbinden – und das nicht nur wegen des nach Suitenart an die dreiteilige Form der neapolitanischen Opernsinfonia angehängten Menuettsatzes mit kanonisch geführtem Mittelteil, bei welchem, so Peter Wollny, „es sich offenbar um ein Favoritstück Wilhelm Friedemanns handelte.“ Mehrfach auch in anderem Kontext [wie etwa der Cembalo-Sonate in C-Dur Fk 1A] überliefert, erscheint er mit seinem feierlich-ruhigen Ton vom Geiste eines Georg Friedrich Händel erfüllt.
Diesem voran steht hingegen eine Musik, die – um nochmals die Worte Johann Friedrich Daubes aufzugreifen – in der „Veränderung und Zertheilung ihrer melodischen Glieder“, vor keinem auch noch so heftigen Kontrast zurückscheut und selbst auf erfahrene Zuhörer mitunter befremdlich zu wirken vermag: ein Vivace, das wie eine barocke Ouvertüre beginnt, alsbald jedoch von immer gewagteren Intervallsprüngen, plötzlich dahinstürmenden 16tel-Tonrepetitionen und einer von Pausen zerfurchten Rhythmik, die „dem Instrumentalstil eines Jan Dismas Zelenka verpflichtet [scheinen]“ eingenommen wird, ein Andante, das mit seinen fallenden Arpeggi und chromatischen Vorhaltsketten an zeitgenössische Bühnenwerke eines Johann Adolf Hasse erinnert, sowie ein von Echoeffekten, markanter Rhythmik und dynamischen Gegensätzen geprägtes Allegro.

Wenngleich dem von erheblichen Verlusten betroffenen Œuvre Friedemann Bachs traditionellerweise keine besondere Rolle in der Entwicklung der klassischen Sinfonie beigemessen wird, zumal es bis in die letzten, zu Berlin verbrachten Lebensjahren des Komponisten scheinbar keinerlei weitere Verbreitung erfahren hat, genießt es doch heutzutage den Ruf einer auffällig frühen Ausprägung des sog. Empfindsamen Stils, der einst zum Markenzeichen seines damit allerdings weitaus größere Berühmtheit erlangenden Bruders Carl Philipp Emanuel werden sollte.

Wilhelm Friedemann Bach, Gesammelte Werke, Bd. 6, Orchestermusik III: Sinfonien, hrsg. von Peter Wollny, Stuttgart 2010, S. VI.
Die sich daraus ergebende Satzfolge entspricht also nahezu derjenigen des gleichfalls in F-Dur komponierten Brandenburgischen Konzerts Nr. 1 von Johann Sebastian Bach.
Johann Friedrich Daube, Der musikalische Diletantt: eine Abhandlung der Komposition, Wien 1773, S. 162.
Wilhelm Friedemann Bach, Gesammelte Werke, a.a.O, S. VI.
Vgl. Marc Vignal, Die Bach-Söhne: Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Fiedrich, Johann Christian, Laaber 1999, S. 52ff.

VOL. 2 _IL FILOSOFO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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No.3__Solo e pensoso

Joseph Haydn (1732–1809): Ouvertüre «L’Isola Disabitata» Hob.XXVIII:9 (1779) 

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JOSEPH HAYDN: Ouvertüre zu «L'isola disabitata» Hob.XXVIII:9 (1779)

Largo – Vivace assai – Allegretto – Vivace [assai]

 

von Christian Moritz-Bauer

Zum Namenstag von Nikolaus I. Esterházy de Galantha, am 6. Dezember 1779 (oder am Vorabend der dazu anberaumten Feierlichkeiten), also nur drei Wochen nach dem großen Theaterbrand auf Schloss Eszterháza uraufgeführt, nimmt die von niemand geringerem als Pietro Metastasio nach Motiven aus Robinson Crusoe von Daniel Defoe ausgearbeitete Azione teatrale namens L'isola disabitata eine Sonderstellung ein: Mit nur einem Bühnenbild versehen – Ort der Handlung ist eine einsame, von der Meeresbrandung umspülte westindische Insel, auf der dreizehn Jahre zuvor zwei Schwestern von einem Unwetter gezwungenermaßen Zuflucht gesucht und selbige seitdem nicht mehr verlassen haben – ließ sich das Werk ohne die sonst übliche, aufwändige Ausstattung zur Aufführung bringen. Dafür gibt es im ganzen sieben an- bis aufrührende Arien und zu guter Letzt ein Quartett, das die einst von Seeräubern entführten und nun zurückgekehrten Freunde Gernando und Enrico mit Costanza und Silvia gemeinsam anstimmen. Auch werden sämtliche Rezitative accompagnato, d.h. in der besonders dramatischen orchesterbegleiteten Form ausgeführt, wie dies z.B. auch in Orfeo ed Euridice von Christoph Willibald Gluck der Fall ist.
Die Ouvertüre in g-Moll, welche sich (gemäß der darin zum Ausdruck gebrachten theatralischen Affekte) mit dem Idiom des «Sturm und Drang» im sinfonischen Schaffen unseres Komponisten in Einklang bringen lässt, begann schon in den frühen 1780er Jahren ein gewisses Eigenleben zu führen:

[...] was die Sinfonie von meiner dermahligen ganz neuen opera, welche noch gar nicht verfertigt[!] betrifft, kan ich Ihnen mit der Sinfonie nicht eher als nach ersten producirung dienen, wollen Sie aber unterdessen zwey andere von meinigen Opern, welche noch niemand, ja gar keine Seele in besiz hat, könen Sie das Stück per 5 Ducaten haben, Verspreche anbey, daß ich Ihnen das halbe duzent ergänzen werde [...] 1

Dass es sich bei diesen gegenüber der Wiener Kunst- und Musikalienhandlung Artaria & Comp. im August 1782 angepriesenen Vorschusslorbeeren zunächst noch um das im Entstehen befindliche Instrumentalvorspiel des Orlando paladino handelte, sei nur am Rande erwähnt. Jedenfalls konnte der in Geschäftsdingen bekanntermaßen tüchtige Haydn bereits wenige Wochen später «anverlangte 5 Stück, rein, und Corect geschriebener und gut verfasster Sinfonien» auf den Postweg schicken, deren «Herausgabe, welche wegen Kürze der Stücke den stich sehr wohlfeil machen, einen nahm haften gewinst machen werden» 2. Schließlich erfuhren sie (infolge einer nicht immer spannungsfrei verlaufenden weiteren Korrespondenz mit den Firmeneignern Carlo und Francesco Artaria) dann als SEI SINFONIE A GRAND ORCHESTRE Opera XXXV ihre Wiedergeburt: die Orchestervorspiele der Esterháza-Opern L'incontro improvviso, Lo Speziale, La vera costanza und L'infedeltà delusa, gefolgt vom oratorischen Il ritorno di Tobia und angeführt von L'isola disabitata als Sinfonia I.
Die in vier Abschnitte unterteilte Ouvertüre zu L'isola disabitata gehört zweifelsohne zu den am interessantest gearbeiteten ihrer Art: Während Haydn andere Arbeiten entweder in der traditionellen Dreisätzigkeit der italienischen Opernsinfonie stehen oder deren einsätzige Gestalt – wie bei Il mondo della luna – den Komponisten zur Wiederverwendung als Kopfsatz einer Konzertsinfonie verleiteten, fungiert sie hier als veritable Vorwegnahme des anschließenden dramatischen Geschehens: eine Art tonmalerischer Darstellung der trotz aller quälenden Verzweiflungszustände gebliebenen inneren Standhaftigkeit der Hauptprotagonistin.
Haydn hatte seine «unbewohnte Insel» wohl besonders geliebt: «wan Sie erst meine operett l’Isola disabitata und meine lezt Verfaste opera la fedeltà premiata hören würden: dan ich Versichere, daß dergleichen arbeith in Paris noch nicht ist gehört worden und vielleicht eben so wenig in Wienn» 3, schrieb er im Mai 1781. Auch wenn er der Oper keine zweite Spielzeit zugestehen konnte – zu sehr war die herausfordernde Rolle der Costanza auf das besondere Können der italienischen Sopranistin Barbara Ripamonti zugeschnitten – so konnte doch wenigstens deren Ouvertüre verbreitet über div. Abschriften und Nachdrucke noch im Verlauf des 18. Jahrhunderts an allerlei Orten in Europa gefallen, darunter in einer Bearbeitung des Allegretto für Gesang, Pianoforte und weitere ad libitum gesetzte Instrumentalstimmen über einen eigens dazu gedichteten englischen Liedtext: „Gentle Sleep, mine eyelids close“.

Haydn an den Verleger Artaria Wien, 16. August 1782, siehe: Joseph Haydn. Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Dénes Bartha, Kassel u.a. 1965, S. 118.
Haydn an den Verleger Artaria, Wien, 29. September 1782, siehe ebd., S. 119.
Haydn an den Verleger Artaria, Wien, 27. Mai 1781, siehe ebd., S. 97.

VOL. 3 _SOLO E PENSOSO

Giovanni Antonini, Francesca Aspromonte, Il Giardino Armonico

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Joseph Haydn (1732–1809): Arie «Solo e Pensoso» Hob.XIVb:20 (1798)

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JOSEPH HAYDN: Arie «SOLO E PENSOSO» HOB. XIVb:20 (1798)

von Christian Moritz-Bauer
 

Bei jener Arie, die freundlicherweise ihren ersten Vers als Motto zum 3. Teil unter den Projekten von Haydn2032 zur Verfügung gestellt hat, haben wir die Ehre einer Darbietung von Joseph Haydns letzter säkularer Komposition für Sologesang mit Orchesterbegleitung beizuwohnen. Im Jahr 1798 wurde hier eine Vertonung des Sonetts XXXV aus Petrarcas Il Canzioniere von ca. 1337 zu Papier gebracht, dessen Textwahl von den HerausgeberInnen der Haydn-Gesamtausgabe als «für das späte 18. Jahrhundert äußerst ungewöhnlich» 1 bewertet wurde. Tatsächlich stellt aber die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im äußersten Osten Europas – gemeint ist das russische Zarenreich – eine Zeit des intensivem Interesses der dortigen gebildeten Bevölkerung an jenem italienischen Dichter dar, der aufgrund seiner Werke zu den wichtigsten Persönlichkeiten der abendländischen Kulturgeschichte gezählt und durch deren Übertragung ins Russische der Wunsch zur Beförderung der eigenen Nationalsprache zum Ausdruck gebracht wurde. 2 So erscheint es jedenfalls als kein Zufall, dass Haydn, der in frühen 1780er Jahren in persönlichen Kontakt zum damaligen russischen Thronfolgepaar geriet und noch 1804 die deutschstämmige Kaiserinwitwe Maria Feodorowna mit der Übersendung seiner (ein- bis mehrstimmigen) Gesänge mit Begleitung des Piano-Forte nach Sankt Petersburg beglückte, im Jahr der vollendeten Schöpfung durch einen russischen Großfürsten, also den späteren Zaren Alexander I. oder dessen jüngeren Bruder Konstantin, mit dem Vorschlag konfrontiert wurde, das eben erst von Michail Kajserow neu übersetzte petrarkische Sonett – wenngleich natürlich in seiner italienischen Originalfassung – in Musik zu setzen. Solches ist zumindest aus der autographen Beschriftung der Titelseite herauszulesen, die da lautet «Aria. del Haydnmpria / le parole del gran Prencipe di Russia».

Haydns Sonett-Vertonung wurde wiederholt vorgehalten, sie habe die metrische Struktur der an sich undramatischen poetischen Vorlage den Gesetzmäßigkeiten der Oper geopfert. 3 Schlimmer noch: Seine Musik laufe Gefahr einen schwerwiegenden ästhetischen Fehler zu begehen, in dem sie den inneren Dialog mit Amor, als personifiziertes Ebenbild der unerfüllten Liebe zu Petrarcas Madonna Laura, nicht als beständigen Diskurs, sondern im Sinne eines lichtbringenden Auswegs für das ins freiwillige Exil gezogene, weil den Säften der Melancholie anheim gefallene Ich interpretiere. (Wer mag da nicht gerne an Haydns brieflich geäußerte eigene Stimmungslage denken, als er aus der Einsamkeit des pannonischen Winters 1790 an seine Wiener Herzensfreundin Maria Anna von Gennzinger schreibt: «Nun – da siz ich in meiner Einöde – verlassen – wie ein armer waiß – fast ohne menschlicher Gesellschaft – traurig – voll der Errinerung vergangener Edlen täge …»). 4

Der in «Solo e pensoso» vollzogene Abschied an die italienische Arie zeigt einige Merkmale des späten Haydn'schen Orchestersatzes auf, verlangt nach zwei Klarinetten anstelle des üblichen Oboenpaares und schafft in seinem eröffnenden Adagio-Ritornell eine fast schon religiös anmutende Stimmung, die sich zu Beginn des Allegretto-Abschnitts noch zusätzlich verdichtet. Motivische Verwandschaftsverhältnisse zum Agnus Dei der Nelson- bzw. Vorwegnahmen hinsichtlich des Credos und Et resurrexit aus der Harmoniemesse unterstreichen diesen Eindruck. In dieses Bild hinein bricht die eigenartige harmonische Struktur des Werkes, welche von B- über F- ins submediante Des-Dur fortschreitet, wo sie dann bis zu Beginn der Terzett-Strophe verharrt und auf die rauen und wilden Wege Bezug nimmt, die das vor Sehnsucht innerlich brennende Ich in seiner Einsamkeit zurücklegt. Der Rückweg in die Tonika lässt jedenfalls Raum für ein paar schlichte, aber umso mehr berührende fioriture in den vokal-instrumentalen Melodiestimmen.

Auch wenn sich das persönliche Befinden des Komponisten mittlerweile längst in einen Zustand der inneren Freiheit und Ruhe gewandelt hatte, dürfte ihm das hier vorgezeichnete, in pittoreske landschaftliche Szenen gesetzte Selbstportrait eines Dichters ausgesprochen nachvollziehbar erschienen sein. Passenderweise geschah die Uraufführung der Arie zur Zeit der inneren Einkehr, nämlich im Rahmen zweier vorweihnachtlicher Konzerte der Wiener Tonkünstler-Societät vom 22. und 23. Dezember 1798, wobei die Solistenrolle einer gewissen Antonie Flamm zugetragen wurde, die als Altistin mit der bis zum b'' reichenden Partie jedoch ein wenig überfordert gewesen sein soll. 5

Joseph Haydn Werke, Reihe XXVI, Band 2, Arien, Szenen und Ensembles mit Orchester, 2. Folge, hg. von Julia Gehring, Christine Siegert und Robert v. Zahn, München 2013, S. XIX.
vgl. Tatiana Yakushkina, Was there petrarchism in Russia?, in: Forum Italicum 47(1), S. 15-37.
vgl. Andrea Chegai, Divergenze tra forma poetica ed effetto estetico: «Solo e pensoso» musicato da Haydn, in: Atti del Convegno Internazionale di Studi VII Centenario della nascita di Francesco Petrarca Arezzo, 18-20 Marzo 2004, hg. Von Andrea Chegai u. Cecilia Luzzi, Lucca, S. 425-433.
Haydn an Maria Anna von Gennzinger, 9. Februar 1790, siehe: Joseph Haydn. Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Dénes Bartha, Kassel u.a. 1965, S. 228.
vgl. H.C. Robbins Landon, Haydn: Chronicle and Works, Bd. 4, Haydn: The Years of 'The Creation' 1796-1800, London 1977, S. 334.

VOL. 3 _SOLO E PENSOSO

Giovanni Antonini, Francesca Aspromonte, Il Giardino Armonico

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No.4__Il Distratto

Domenico Cimarosa (1749–1801): Il maestro di cappella (1793?)
Szene für Bassbariton und Orchester

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D. CIMAROSA: IL MAESTRO DI CAPPELLA (1793?)

Szene für Bassbariton und Orchester

 

von Christian Moritz-Bauer

Die Musik zur Komödie des Zerstreuten machte Karriere, wurde neben Eszterháza und Pressburg alsbald auch am Wiener Kärtnertor sowie im Salzburger Neuen Hoftheater mit einer für seine Zeit ausgesprochen ungewöhnlichen Medienresonanz zur Aufführung gebracht. Der Erfolg war also da und die Erwartung nach weiteren Schauspielmusiken aus der Feder Joseph Haydns entsprechend groß. So versteht es sich auch beinahe von selbst, dass die von Nikolaus I. unter Vertrag genommenen Schauspielgesellschaften es seit dieser Zeit nie mehr versäumten, in den alljährlich erscheinenden Theaterkalendern den esterházyschen Hofkapellmeister als ihren persönlichen »Musikdirekteur« anzuführen.

Unterdessen war selbigem vonseiten seines Dienstherren um etwa 1776 eine neue Hauptaufgabe angetragen worden. In diesem Jahr nämlich wurde auf Schloss Eszterháza der regelmäßige Opernbetrieb aufgenommen, welcher sich alsbald bei einer Jahresproduktion von etwa 100 Vorstellungen einpendelte – wobei natürlich weiterhin auch Werke des Sprechtheaters wie Farsen, Lust- und Trauerspiele aber auch Ballette, Pantomimen, Marionettenopern, sowie von Zeit zu Zeit eine Orchesterakademie gegeben wurden und auf den fürstlichen Bühnen (bis auf die Karwoche und an hohen kirchlichen Feiertagen) somit beinahe alltäglich Programm war!

Der mit Abstand am häufigsten gespielte Opernkomponist auf Schloss Eszterháza war Domenico Cimarosa. Insgesamt zwölf seiner über 60 Bühnenwerke brachte Haydn in den Jahren 1780-90 zur Aufführung – ein Zeitraum, in welchem sich der zu Aversa bei Neapel Geborene anschickte einer der europaweit Erfolgreichsten seiner Zunft zu werden. Höhepunkt war dabei sicher die Anstellung am Sankt Petersburger Hof von Katharina der Großen, wo er von 1787-91 erstmals selbst den Kapellmeister geben durfte, ein Amt, welches er erst im Jahr zuvor in einer Farsa per musica, genannt L'impresario in angustie, so trefflich karrikiert hatte.

In diesem Kontext wäre auch jene in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts für das Konzertrepertoire wiederentdeckte Szene für Bassbariton und Orchester anzusiedeln, welche ihre Uraufführung möglicherweise am 2. Juli 1793 im Königlichen Nationaltheater zu Berlin durch den aus Mailand stammenden Sänger und Komponisten Antonio Bianchi erleben durfte: Il maestro di cappella.

Der etwa 20-minütige sängerische Alleingang stellt eine geistreiche Parodie dar, in der ein Kapellmeister „der alten Schule“ versucht, das Ensemblespiel seines Orchesters, bestehend aus Flöten, Oboen, Hörner und Streichern „auf Vordermann“ zu bringen. Zu seinem Leidwesen reagieren die Spieler aber äußerst undiszipliniert: Sie sind nicht bei der Sache, kommen mit falschen Einsätzen und zerstreiten sich auf musikalische Weise. In seiner Not versucht der Maestro – um nicht noch weiterhin den Clown zu geben – die einzelnen Stimmgruppen mittels lautmalerisch vorgesungener Passagen auf einander Acht zu geben und vor allem richtig zu zählen. Der Erfolg beschert im Recht und – ein harmonisches Lärmen!

Während des Versuchs seinen Musikern noch das nötige Feingefühl für ein »cantabile Allegro« näher zu bringen, muss er allerdings feststellen, dass das Spiel der Hörner seine Vorstellung von orchestraler Klangmischung nachhaltig ins Wanken bringt und beendet die Probe mit höflichem Getue.

D. Cimarosa: Il maestro di cappella
VOL. 4 _IL DISTRATTO

Giovanni Antonini, Riccardo Novaro, Il Giardino Armonico

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No.5__L'Homme de Génie

Joseph Martin Kraus (1756–1792): Sinfonie in c-Moll VB 142 (1783?)
Larghetto – Allegro / Andante / Allegro assai

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J. M. Kraus: SINFONIE C-MOLL VB 142 (Wien, 1783)

Larghetto – Allegro / Andante / Allegro assai

 

von Christian Moritz-Bauer

Als Sohn des kurmainzischen Beamten Johann Bernhard Kraus und der aus einer Baumeister-Dynastie hervorgegangenen Anna Dorothea geb. Schmitt, eine humanistische Ausbildung am Mannheimer Jesuitenkolleg genießend, gerät der am 20. Juni 1756 zu Miltenberg am Main geborene Joseph Martin Kraus schon mit jungen Jahren in Kontakt mit jener am Musenhof Carl Theodors von der Pfalz angesiedelten Künstlergemeinschaft, als deren besonderes Aushängeschild die Mitglieder der dortigen Hofkapelle einen geradezu legendären Ruf von europaweiter Verbreitung genießen. Der Aufnahme eines Philosophie- und Jura-Studiums in Mainz (Januar 1773), wo sich sein jugendlich-ungestümer Kopf erste gesellschaftspolitische Freiräume erdenkt, folgt bald der Wechsel an die Universität in Erfurt. Die dortigen Lehrstunden des Bachschülers Johann Christian Kittel weiß Kraus während der folgenden gut einjährigen Studienunterbrechung, die er wegen einer gegen den Vater geführten Verläumdungskampagne in Buchen im Odenwald, mittlerweile Wohnsitz der Familie, verbringen sollte, für die Komposition von Kirchenwerken zu nutzen. Unter dem Eindruck des von Heinrich Leopold Wagner aus dem Französischen des Louis-Sébastien Mercier übersetzten «Neuen Versuch[s] über die Schauspielkunst», sowie um sich seinen Unmut gegenüber der absolutistischen Obrigkeit von der Seele zu schreiben, fließt aus seiner Feder alsbald auch der Tolon, eine Tragödie in drei Akten. Ihre Sprache, die sich in auffälliger Weise des Tonfalls der literarischen «Sturm und Drang»-Bewegung bedient, wird künftig auch die Briefseiten des kritischen Bürgersohnes füllen, der im November 1776 nach Göttingen zieht, um dort seine Studien wieder aufzunehmen.

In der niedersächsischen Universitätsstadt gerät Kraus mit dem sog. «Hainbund», einer Gruppe sich literarisch betätigender Studenten in Kontakt, dem u.a. Carl Friedrich Cramer, Friedrich Hahn, Anton Leisewitz, Heinrich Voss, die Vettern Miller und die Brüder Stolberg angehörten. Den Hainbündlern gemeinsam war die Verehrung Klopstocks und Bürgers, eine ausgeprägte Vaterlands- und Freiheitsliebe sowie die leidenschaftliche Ablehnung des Ancien Regime und eines angeblichen Sittenverderber namens Christoph Martin Wieland, die sie mit ihrem Sprachrohr, dem «Göttinger Musenalmanach» an die Öffentlichkeit trugen. Zwar war der Bund als solcher bei Eintreffen des jungen Odenwälders bereits zur Geschichte geworden, seinem Gedankengut durch die vorübergehende Rückkehr Hahns aber eine kurze sommerliche Nachspielzeit gegönnt.

Für Kraus jedenfalls scheint sich dessen Freundschaft wie ein Befreiungsschlag auf sein folgendes künstlerische Schaffen ausgewirkt zu haben. Dies jedenfalls verrät schon die binnen weniger Monate zu Papier gebrachte und anonym veröffentlichte Schrift namens Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, in der es Kraus sich angedeihen lässt, auf gleichsam wortgewandte wie respektlose Weise manch einer komponierenden Größe der Gegenwart die Stirn zu bieten.
Bei all dem was einem dort an Interjektionen und Ausrufezeichen, an lebhaften Einwürfen und kurzen Gegenreden von benannten wie namenlosen Gesprächspartnern begegnet, wird schnell eines klar: was hier sich erhebt, ist wieder die Stimme des «Sturm und Drang», des zur Mode gewordenen Geniekults. Und dennoch sei einem die Frage gestattet, ob denn die hier so überaus deutlich hervortretende Parteinahme für das Reformprogramm des Bühnendramatikers Gluck tatsächlich einem Akt der Bewunderung und nicht vielmehr einer nur anerworbenen Hainbund-bedingten Ablehnung gegenüber der Wieland'schen Alceste von 1773 entstammte. Als Kraus dann einige Jahre später das Glück zuteil werden sollte, den Grandseigneur des klassischen Musiktheaters persönlich zu begegnen, zeichnet er ein Bildnis desselben, als ob dieser gerade einer Klopstock'schen Heldendichtung entsprungen sei: «Meinen Gluck habe ich gefunden – er schäzt mich, das ist gut; aber er liebt mich auch, und das ist besser! Ein herzguter Mann, aber feurig wie der Teufel, und da bin ich blos Spaß gegen ihn. Wenn er ins Zeug neinkömt – hei! Da braußts und jede Nerve ist gespant und hallet wieder.»

Zwischenzeitlich haben sich in des jungen Mannes Leben weitere wichtige Momente ereignet, an deren erster Stelle die noch zu Göttingen getroffene Entscheidung zu nennen wäre, sich fortan nurmehr der Musik zu widmen und auch der Heimat den Rücken zu kehren. Ein mehr oder weniger direkter Anstoß dürfte dabei von Carl Stridsberg, einem Kommilitonen und Dichterfreund ausgegangen sein, der nicht nur mit Kraus gemeinsam ein Bühnenwerk entworfen, sondern letzterem gegenüber auch ein verlockendes Bild seiner Heimat als Paradies der Schönen Künste gezeichnet haben dürfte. Ausgangspunkt jener Zeit der kulturellen Blüte, die das Königreich Schweden gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlebte, war der deutschstämmige Gustav III. Bereits in den ersten Jahren seiner Regierungszeit (1771-1792) gründete er zu Stockholm zwei Akademien – eine für die Musik, die andere für die bildenden Künste –, an deren leitende Positionen er hervorragende Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland befahl. Zu diesen zählte schließlich auch unser Kraus, nachdem er – der zuvor jegliche Protektion und Empfehlung von höherer Stelle aus abgelehnt hatte – ganze zwei Jahre nach seiner Ankunft in Schweden, d.h. im Juni 1780, endlich daselbst mit einem Opernauftrag bedacht wurde: Das Libretto mit Namen Proserpin verfasste der Hofdichter Johan Henrik Kellgren.
Von nun an geht es schnell bergauf: Vor Ende des Jahres wird Kraus die Einstudierung von Glucks Alceste aufgetragen und er zum Mitglied der Musikakademie berufen. Es folgen die erfolgreiche Uraufführung der Proserpin auf Schloss Ulriksdal (1. Juni 1781) und kaum zwei Wochen später die Ernennung zum zweiten Hofkapellmeister.
Der Weg zum Erfolg scheint geebnet: Zu Beginn des Jahres 1782 soll am Stockholmer Gustav-Adolf-Platz das seit 1775 in Bau befindliche königliche Opernhaus mit einem weiteren Bühnenwerk des frischgebackenen Vizekapellmeisters – Aeneas i Carthago lautet der Titel – eröffnet werden. Doch der Einweihungstermin verzögert sich und schlimmer noch: Als die Komposition bereits mehr als zur Hälfte abgeschlossen ist, muss Kraus seinen Eltern voll Bedauern die Nachricht von der Flucht der für die Rolle der Dido vorgesehenen Primadonna Caroline Müller überbringen, die das vorzeitige Ende seiner bisher größten Unternehmung in der Welt des Musiktheaters erzwungen haben soll. Dass Kraus binnen einer Woche nach der Eröffnung des Opernhauses, die nun am 30. September 1782 mit einem Singspiel von Naumann über die Bühne geht, von seinem König auf eine Bildungsreise zu den kulturellen Zentren Europas entsendet wird, war jedoch nicht als ein Akt Wiedergutmachung, sondern bereits seit längerer Zeit geplant gewesen.

Berlin, Dresden, Wien, Eszterháza, Venedig, Florenz, Rom, Neapel und Paris, dazu je ein Abstecher zu Padre Martini nach Bologna sowie zu den Londoner Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Händel – die Stationen der Reise werden diejenigen, welche um die Bedeutung des Musiktheaters im Schaffen des deutsch-schwedischen Tonkünstlers wissen, kaum verwundern. Und doch sind es vor allem die Sinfonien (von denen bei Anbruch der Reise bereits mehr als ein Dutzend verschiedene Werke existiert haben dürften), die den entscheidenden Teil zum Nachruhm des «Klassizisten» Kraus beigetragen haben. Dabei scheint, als ob es ihm – der sich seines «Genies» durchaus bewusst und (um mit den Worten des Hainbündlers Stolberg zu sprechen) mehr als nur einmal der «Fülle des Herzens» gegenüber Vernunft der Väter den Vorrang gab – kaum jemals daran gelegen war, sich durch den Verkauf mitgeführter Musikalien seine Reisekasse aufzustocken.
So zeigt sich denn nicht nur ein Haydn verwundert und erntet auf den gut gemeinten Rat mitunter auch der «klingenden Münze» zu gedenken nur einen beißenden Kommentar in des Reisenden Briefkorrespondenz. Hier darf sich indes eine andere Bekanntschaft – es ist der Handelsagent Johann Samuel Liedemann – schon einer ganz anders gearteten Geste erfreuen, von dem es in einem Schreiben an Emerich Horváth-Stansith de Gradec, Sproß einer ungarischen Adelsfamilie und Vize-Gespan des Komitats Zips heißt: «Alles, was wir von ihn besizen, besteht in 1 Ouverture von seiner Oper, 1 Quartett von seinen frühern Arbeiten, und eine Sonate, die er als ein Andenken seiner Freundschaft mir gewidmet hat. Jezt arbeitet er an einer Symphonie, die er mir aber auch überlaßen wird.» Es ist September, das Jahr 1783. Seit Anfang April weilt Joseph Martin Kraus in der Hauptstadt des Habsburger Reiches, hat Opern- und Oratorienaufführungen beigewohnt, Privatkonzerte im Haus seines Freundes Liedemann gegeben und die Größen der Wiener Musikszene getroffen. Ganz oben auf der Besuchsliste steht Christoph Willibald Gluck, zu dem es ihn wie einen «Pilgrim zu des heiligen Landes Überbleibseln» zieht. Es folgen Begegnungen mit Salieri und Vanhal, dem «kreuzbraven» Albrechtsberger und eine Audienz bei Kaiser Joseph II. Von einem Treffen mit Mozart fehlt indes jeglicher Bericht und der Entschluss, sich kurz vor der von König Gustav befohlenen Weiterreise nach Italien «noch auf eine kleine Zeit nach Esterhazi zu begeben, um von meinem Hayden Abschied zu nehmen», scheint – wegen des laufenden Theaterbetriebs auf Schloss Eszterháza und der daraus herrührenden Unabkömmlichkeit des dortigen Kapellmeisters – wohl dann die erste und einzige Zusammenkunft von Kraus und Haydn herbeigeführt zu haben.
Bis hin zu jener Begegnung sollten aber noch einige Tage und Wochen verstreichen in denen sich der junge Wahlschwede offensichtlich doch bemühte etwas zur Distribution seines musikalischen Œuvres beizutragen. So wird also nicht nur komponiert, sondern auch ein Kontakt zur Kopistenwerkstatt des Johann Traeg aufgebaut, deren Notenabschriften sich einer weit über die Landesgrenzen hinweg reichenden Verbreitung erfreuen. Und immer wieder wird in diesem Kontext von einer «Sinfonie aus C moll» die Rede sein, ein Werk, welches in fernerer Zukunft einst aus dem kleinen, aber durchaus erlesenen Kanon der sinfonischen Werke von Joseph Martin Kraus als eines «der bedeutendsten Beispiele seiner Gattung aus den 1780 Jahren» hervorgehoben werden sollte.

Die eigentliche Erfolgsgeschichte der C-moll-Sinfonie, welche in Traeg'schen Stimmenabschriften wohl seit Beginn des Jahres 1784 erhältlich gewesen sein dürfte, kam allerdings erst richtig in Fahrt, als sie – durch die Fredrik Samuel und Gustav Abraham Silverstolpe veranlasst – 1797 bei Breitkopf und Härtel in Leipzig erschienen war. Dass in der neu gegründeten, verlagseigenen Allgemeinen musikalischen Zeitung alsbald eine lobende Besprechung folgen sollte, scheint den Bemühungen der Brüder Silverstolpe dabei ebenso zuträglich gewesen zu sein, wie die Worte Joseph Haydns, dieser in noch im gleichen Jahr gegenüber dem auf diplomatischen Dienst in Wien befindlichen Frederik Samuel geäußert haben soll: «Kraus war der erste Mann von Genie, den ich ie gekannt habe. Warum mußte er sterben? Er ist ein unersetzlicher Verlust für unsere Kunst.»
Das Werk, dessen autographe Überlieferungsform wohl eine auf Kraus' späteren Parisaufenthalt zurückgehende, um ein zweites Hörnerpaar erweiterte und an den zu Wien gewonnenen Eindrücken geschulte Umarbeitung einer noch in Stockholm entstandenen Sinfonia in cis-Moll darstellt, beginnt mit langsamer Einleitung und diese wiederum mit einer Verneigung vor seinem «Pan Gluck», indem sie aus dessen Iphigénie en Aulide den Anfang der Ouvertüre auf klangfarblich erweiterte wie kontrapunktisch verdichtete Weise zitiert. Was dann im weiteren Verlauf der Komposition in eindringlicher Klangrede zum Ausdruck kommt, das beschrieb wohl nie jemand bisher so treffend, wie die sprachgewandte Feder des Musiktheoretikers und -rezensenten Justin Heinrich Knecht:«Man muss die ausgesuchten, alle Saiten der Seele erschütternden Modulationen, welche in dieser Sinfonie stromweise aufeinander folgen, den prächtigen und ausgezeichneten Gang der Bässe, die fleissige Bearbeitung der Mittelstimmen, die schöne und simple Begleitung der Blasinstrumente, und überhaupt die pathetischen Gedanken dieses großen Meisters in der That bewundern.»
Auch wenn – um wieder zu Haydn zurückzukehren – sich dessen Enthusiasmus gegenüber Kraus wohl vielmehr an der ihm durch Silverstolpe als Geschenk überreichten Trauersinfonie auf den Tod Gustav III., als jenem Fall eines in Töne gesetzten Denkmals der Gluck-Verehrung entzündet haben dürfte, so können wir doch einem weiteren sich auf beider Begegnung zu Eszterház berufenden Briefzitat des Johann Samuel Liedemann vom Dezember 1783 entnehmen, dass zwar «die Krausischen Sachen [...] nicht im Geschmack seines Fürsten gearbeitet; wenn der Fürst aber abwesend, und er sich einen guten Tag machen will», er sich dieselben habe vorspielen lassen.
So dürfte denn Kraus auch jener Tage mit einem gewissen Gefühl der Befriedigung ins Italienische weitergezogen sein, und das nicht nur, weil man sich – von fürstlich-esterházyscher Seite aus – ihm gegenüber «sehr herablassend» gezeigt und er zu Wien neue Freundschafts- und Geschäftsbeziehungen hatte schließen können. Sein kompositorisches Werk war jedenfalls daselbst auch merklich angewachsen – und zwar um etwa zwanzig Liedkompositionen, ein Streichquartett, ein Flötenquintett und mindestens eine, wenn nicht gar mehrere Sinfonien ...

Zit. aus einem Brief an die Eltern in Amorbach (Odenwald), datiert auf „Wien den 28t Junius 1783“.
Zit. nach Ingrid Fuchs: „Haydniana in einer altösterreichischen Adelskorrespondenz“ in: Internationales musikwissenschaftliches Symposium „Dokumentarische Grundlagen der Haydnforschung“ im Rahmen der Internationalen Haydntage Eisenstadt, 13. und 14. September 2004, hg. von Georg Feder & Walter Reicher, Tutzing 2006, S. 55-79, hier S. 72.
Zit. aus einem Briefentwurf an den Stockholmer Theatdirektor Christoffer Bogislaus Zibeth, datiert auf „[Wien,] den 15. [Apri 1783]“.
Siehe Fußnote 1.
Zit. nach Gabriela Kombrach, Artikel „Kraus, Joseph Martin“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 10 Kemp-Lert, Kassel, Stuttgart u.a. 2003, Spalten 622-626, hier: Spalte 624.
Zit. aus einem Brief F. S. Silverstolpes an Marianne Lämmerhirt geb. Kraus, die Schwester des Komponisten, agedruckt in Helmut Brosch: „Quellen zur Biographie von Joseph Martin Kraus, c) Frederik Samuel Silverstolpes Briefwechwechseö mit Kraus' Vater, Schwester und Schwager“ in: Mitteilungen der Internationalen Joseph-Martin-Kraus-Gesellschaft, Heft 5/6, 1986, S. 1-35, hier S. 21.
Zit. nach Justin Heinrich Knecht: „Recensionen. Oeuvre de Joseph Kraus, Maitre de Chapelle de S.M. Le Roi de Suede. Premier Cahier […] 1) Sinfonie für ein grosses Orchester [...]“, in: Allgemeine musikalische Zeitung. Erster Jahrgang vom 3. Oct. 17987´bis 15. September 1799, Leipzig bey Breitkopf und Härtel, Spalten 9-11, hier Spalte 11.
Zit. nach Ingrid Fuchs: „Haydniana in einer altösterreichischen Adelskorrespondenz“, S. 73.

J. M. Kraus: Sinfonie in c-Moll VB 142
VOL. 5 _L'HOMME DE GÉNIE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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No.7__Gli Impresari

Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791): Thamos, König in Egypten KV 345/336a
Maestoso – Allegro / Andante / Allegro – Allegretto (Melodram) / Allegro vivace assai / ohne Tempobezeichnung

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W .A. MOZART: MUSIK ZU THAMOS, KÖNIG IN EGYPTEN KV 345/336a (Salzburg, 1775/76)

Nr. 2-5 & 7a  (Salzburg, 1775/76)

Maestoso – Allegro / Andante / Allegro – Allegretto (Melodram) / Allegro vivace assai / ohne Tempobezeichnung
(Pherons Verzweiflung, Gotteslästerung und Tod)

 

[Impresario: Carl Wahr]

Um die Jahreswende 1775/76 – zu etwa jener Zeit also als Haydn sich mit der Umwidmung seiner Musik zur Jagdlust Heinrich des Vierten in eine Konzertsinfonie beschäftigte, feierte sein Kollege Carl Wahr am Salzburger Theater im Ballhaus Erfolge. So wurde am 3. Januar 1776 daselbst und mit musikalischer Unterstützung der unter der Leitung von Michael Haydn, Josephs jüngerem Bruder stehenden fürsterzbischöflichen Hofkapelle, das heroische Drama Thamos, König von Egypten aus der Feder des Tobias Freiherr von Gebler gegeben. Die Musik zum Drama sollte – was seinerzeit mitnichten üblich war – im Theaterwochenblatt für Salzburg Erwähnung finden, wenngleich nur mit der abschätzigen Bemerkung, dass der „Compositeur der Chöre […] den fünften Akt durch die Wiederholungen zu sehr verlängert“ habe. Jener Compositeur – so ist sich die Musikforschung mittlerweile sicher – dürfte allerdings kein geringerer als Wolfgang Amadeus Mozart gewesen sein, der schon in zeitlicher Nähe seines Wiener Aufenthalts von Juli – September 1773 und zwar im direkten Auftrag des Dichters eine Frühfassung der angesprochenen Chöre geschrieben hatte. Dass zusätzlich zu diesen in die Bühnenhandlung integrierten Vokalnummern auch vier Zwischenakte samt Melodram und einer musikalischen Höllenfahrt „à la Don Juan“ erklungen, ja sogar eigens für die besagte, am (katholischen) Festtag des Namensgebung Jesu veranstaltete Aufführung komponiert worden waren, ergab der Befund div. Untersuchungen im Bereich der Schriftchronologie und Wasserzeichen des Mozart'schen Autographs genauso, wie dass dessen mögliche Entstehung auf ein Zeitfenster von ca. April 1775 bis Juli 1776 eingeschränkt werden könne.1

Die Geschichte spielt im alten Ägypten. Ramasses hat König Menes von Thron gestossen, der seitdem nicht mehr gesehen und folglich für tod erklärt wurde. Tatsächlich hat er sich – als Oberpriester Sethos getarnt – in die schützenden Mauern des Sonnentempels zurückgezogen. Hier dient, ohne dass er davon weiß auch Tharsis, seine Tochter und Erbin, unter dem ihr verliehenen Namen Sais. Sie liebt im Geheimen Thamos, den Sohn des Ramasses, der nach dem Tod seines Vaters den Thron besteigen soll.

Die eigentliche Handlung beginnt sich zu entfalten. Der verräterische Pheron, den Thamos fatalerweise für einen seiner engsten Freunde und Berater hält, schickt sich an die bevorstehende Thronbesteigung zu seinen Gunsten zu beeinflussen (Maestoso – Allegro). Die Synkopen, welche die musikalische Textur dominieren, unterstreichen die beständig steigende Dramatik. Der zweite Akt schließt mit einer Musik (Andante), die – so die stichwortartige Kennzeichnung der autographen Partitur durch Leopold Mozart – den falschen Charakter Pherons dem von Grund auf ehrlichen des Thamos mit solistischer Oboe zu in Terzen geführter Antwort des Fagott-Paares gegenüber stellt.

Pheron stiftet eine Verschwörung gegen Thamos an. Mithilfe seiner Komplizin Mirza, oberste der Sonnenjungfrauen, sucht er Tharsis Zuneigung zu gewinnen um durch eine eheliche Verbindung selbst auf den Thron zu gelangen. Jegliches Mittel – einschließlich der Lüge, dass Thamos in Wirklichkeit eine gewisse Myris liebe und (schlimmer noch) Pheron dazu auserkoren habe, sich mit Sais zu vermählen. Sie indes, sich gegen die vermeintliche Bestimmung zur Heirat mit Pheron wehrend, beschließt – zu den dramatisch gesteigerten Mitteln des Melodrams greifend – sich den Göttern zur Sonnenpriesterin zu weihen (Allegro – Allegretto).

Nachdem Pheron erkennt, dass sein Plan zum Scheitern verurteilt ist, versucht er den Thron mit Waffengewalt zu erobern. Thamos wiederum wird gewahr, dass er und Sais / Tharsis einem Betrug anheim gefallen sind. Der vierte Akt schließt in einer Situation der „allgemeinen Verwirrung“ (Allegro vivace assai).

Der Moment ist gekommen, da Menes, der alte König, sich zu erkennen gibt und die Verhaftung des Pheron befehlen lässt. Um ihre letzte Aussicht auf Erfolg gebracht erdolcht sich Mirza, während Pheron, nachdem er die Götter verflucht vom Blitz getroffen wird („Pherons Verzweiflung, Gotteslästerung und Tod“, ohne Tempobezeichnung). Sethos eint Tharsis, deren Gelübde keine Gültigkeit hat, da es ohne die Zustimmung ihres Vaters abgelegt wurde, mit Thamos und erklärt die beiden zu rechtmäßigen, sofortigen Erben seines verlorenen Throns.

Vgl. u. a.: Alfred Orel, „Mozarts Beitrag zum deutschen Sprechtheater: die Musik zu Geblers Thamos“, in: Acta Mozartiana, Bd. 4 (1957), S. 43-53, 74-81. Harald Heckmann: Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie II, Werkgruppe 6, Band 1: Chöre und Zwischenaktmusiken zu Thamos, König in Ägypten. Krtitischer Bericht. Kassel und Basel, 1958, S. 4-7. Alan Tyson: Wasserzeichen-Katalog. Kassel und Basel, 1992 (= W. A. Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie X, Werkgruppe 33, Abt. 2), Teilband 1, S. 

W. A. Mozart: Musik zu Thamos, König in Egypten KV 345/336a
VOL. 7 _GLI IMPRESARI

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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No.8__La Roxolana

Anonymus (Heinrich Ignaz Franz Biber zugeschrieben): Sonata Jucunda D-Dur C. App. 121 / B. IV 100 (Kroměříž / Kremsier, ca. 1677–1680)
Adagio – Presto – Adagio – Allegro – [ohne Tempobezeichnung]

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ANONYMUS (H. I. F. Biber zugeschrieben) SONATA JUCUNDA D-DUR C. App. 121 / B. IV 100 (Kroměříž / Kremsier, ca. 1677–1680)

Adagio – Presto – Adagio – Allegro – [ohne Tempobezeichnung]

 

von Christian Moritz-Bauer

Zum Beginn des zweiten Programmteils unternehmen wir einen Abstecher in eine der kulturell wie (volks)musikalisch reichsten Gegenden des ehemaligen Habsburgerreichs: die Region Hanna im tschechischen Mähren, deren BewohnerInnen durch ihren in Mittel- und Osteuropa betriebenen Handel weithin bekannt waren.

Das wohl bedeutendste Werk des späten 17. Jahrhunderts, das die Musik der Hannaken auf kunstvolle Weise zu imitieren sucht, stellt die anonym überlieferte ⁄ für zwei Violinen, drei Bratschen und Basso continuo dar. In der bedeutenden Sammlung des Bischofs Karl von Liechtenstein-Kastelkorn in Kroměříž (Kremsier) erhalten geblieben, wurde die «heitere Sonate» durch den Komponisten, Trompeter und Chorleiter Paul Josef Vejvanovský und zwar vermutlich zwischen 1677 und 1680 zu Papier gebracht.1

Wie bei anderen Werken, die an bäuerliches Musizieren erinnern, wird auch hier – etwa ab der Mitte der Komposition – der Eindruck eines ungeordneten, bisweilen sogar fehlerhaften Zusammenspiels vermittelt. So kommt es beispielsweise zu einer Situation, in der die Stimmen von Violino primo und Violetta zur gleichen Zeit in D-Dur und D Mixolydisch erklingen, wozu sich wenige Takte später die tiefer gelegenen Bratschen mit (auf leeren Saiten gespielten) offenen Quinten gesellen. Ausgesprochen scherzhaft gibt sich auch der folgende Abschnitt, der die kleine Sekunde zum komischen Merkmal erklärt. Die Pointe hierzu wird in den letzten sechs Takten der Sonata quasi «nachgeliefert»: der Streit um die richtige Tonart ist endlich beigelegt und eine kurze, aber feierliche Solopassage beendet den fröhlichen Reigen.

Vgl. Robert Rawson: «Courtly Contexts for Moravian Hanák Music in the 17th and 18th centuries», in: Early Music, Bd. 40, Heft 4, November 2012, S. 577-591.

Anonymus (H.I.F. Biber zugeschrieben): Sonata Jucunda
VOL. 8 _LA ROXOLANA

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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Béla Bartók (1881–1945): Rumänische Volkstänze (1917)
für Streichorchester bearbeitet von Arthur Willner (1881–1959)

Jocul cu bâtă (Stockspiel) / Brâul (Schärpentanz) / Pe loc (Auf der Stelle) / Buciumeana (Tanz aus Butschum) / Poarga Românească (Rumänische Polka) / Mărunțel (Schnell-Tanz)

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BÉLA BARTÓK: RUMÄNISCHE VOLKSTÄNZE (1917)

für Streichorchester bearbeitet von Arthur Willner (1881–1959)
 

Jocul cu bâtă (Stockspiel) / Brâul (Schärpentanz) / Pe loc (Auf der Stelle) / Buciumeana (Tanz aus Butschum) / Poarga Românească (Rumänische Polka) / Mărunțel (Schnell-Tanz)

 

von Christian Moritz-Bauer

In den Rumänischen Volkstänzen, deren Melodien in den Jahren 1910 und 1912 auf mehreren nach den Komitaten Bihar, Maros-Torda, Torda-Aranyos und Torontál führenden Reisen gesammelt und 1915 für Klavier bzw. 1917 für kleines Orchester bearbeitet wurden, machte Béla Bartók von einer Reihe kompositorischer Stilmittel Gebrauch, die sich unter den Begriffen dűvő und esztam zusammenfassen lassen. Sie halfen dem komponierenden Ethnografen dabei, jener Idee von Einfachheit, Reinheit und Authentizität Ausdruck zu verleihen, mit der er die Musik seiner ungarischen Heimat aus den eigenen volksmusikalischen Wurzeln heraus neu zu beleben versuchte.1

Der erste Tanz, Jocul cu bâtă genannt, stellt ein Stockspiel dar, das Bartók einst von zwei Roma-Musikern und einem flinkfüßigen Burschen im Dorf Voiniceni auf der Violine und dem Kontra vorgetragen wurde. (Letzteres in Transsylvanien weit verbreitete Instrument ermöglicht – dank seines abgeflachtem Stegs – das gleichzeitige Spiel aller Saiten, von denen es insgesamt drei besitzt und hier einen durchgehenden dűvő zum Besten gibt.) Grundlage für Brâul, ein Schärpentanz junger Tänzerinnen, sowie Pe loc mit seinen exotisch wirkenden Arabesken war das Spiel eines etwa 50-jährigen Mannes auf der Furulya, dem traditionellen Flöteninstrument der Schäfer.

Der vierte Tanz stammt aus dem Ort Bucium. Seine übermäßigen Sekunden gehören zum Standardrepertoire der Darstellung (fern)östlicher Folklore in der europäischen Kunstmusik. Poarga Românească (zu deutsch: rumänische Polka) besticht mittels durchgehender Wechsel zwischen 2/4- und 3/4 Takt. Zugleich bildet sie den Auftakt zu einem rasanten Finale, das in zwei Schnelltänzen oder Mărunțel seinen feurigen Ausgang findet.

Vgl. Joshua S. Walden: Sounding Authentic: The Rural Miniature and Musical Modernism. Oxford University Press: Oxford, New York u. a., 2014, Chapter Six: „Béla Bartóks Rural Miniatures and The Case of Romanian Folk Dances“, besonders S. 170-171.

Anonymus (H.I.F. Biber zugeschrieben): Sonata Jucunda
VOL. 8 _LA ROXOLANA

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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No.9__L'Addio

Franz Joseph Haydn (1732–1809: Scena «Berenice, che fai?» Hob. XXIVa:10

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JOSEPH HAYDN: SCENA «BERENICE, CHE FAI?» Hob. XXIVa:10

 

von Pietro Metastasio

Gegen Ende seines zweiten Londoner Aufenthalts schuf Haydn zum Vortrag der italienischen Sopranistin Brigida Giorgi Banti die Solokantate «Berenice, che fai». Als eine der meistvertonten Abschiedsszenen des mittleren wie späten 18. Jahrhunderts dem Dramma per musica L'Antigono von Pietro Metastasio entnommen, wurde sie einst bei jener Dr. HAYDN's Night vom 4. Mai 1795 aus der Taufe gehoben, in der auch die Sinfonie D-Dur Hob. I:104, des Komponisten letztes großes Orchesterwerk zum ersten Mal erklingen sollte.
Obwohl die ägyptische Prinzessin Berenike dem makedonischen König Antigonos versprochen wurde, ist sie in dessen Sohn Demetrios verliebt. Zerrissen zwischen dem Gefühl der Gegenliebe und der Pflicht sich den Interessen seines Vaters entsprechend loyal zu verhalten, kann Demetrios keinen Ausweg aus seiner misslichen Lage finden und hat beschlossen, sich das Leben zu nehmen. In einer Folge aus Rezitativ, (mitten im Vers unterbrochener) Kavatine, Rezitativ und Arie beklagt die trostlose Heldin ihr Schicksal und sehnt sich danach, an der Seite ihres Geliebten zu sterben – zwischen Wahnsinn und Liebe schwankende Seelenzustände, die Haydn auf so dramatische wie grandiose Weise zum Ausdruck brachte.

Scena / composta / per la Signora Banti / da me Giuseppe Haydnmpria
[Parole del signor abate Pietro Metastasio]

[Recitativo]
Berenice, che fai? Muore il tuo bene, stupida, e tu non corri! Oh Dio! vacilla l'incerto passo; un gelido mi scuote insolito tremor tutte le vene, e a gran pena il suo peso il piè sostiene. Dove son? Dove son? Qual confusa folla d'idee tutte funeste adombra la mia ragion? Veggo Demetrio; il veggo che in atto di ferir – Fermati! Fermati! Vivi! D'Antigono io sarò. Del core ad onta volo a giurargli fè: dirò, che l'amo; dirò... Misera me! S'oscura il giorno! balena il ciel! L'hanno irritato i miei meditati spergiuri. Ahimè! lasciate ch'io soccorra il mio ben, barbari Dei, voi m'impedite, e intanto forse un colpo improvviso... Ah, sarete contenti: eccolo ucciso... Aspetta, anima bella: ombre compagne a Lete andrem. Se non potei salvarti potrò fedel... Ma tu mi guardi, e parti? Non partir!

Cavatina
Non partir, bell'idol mio
per quell'onda
all'altra sponda
voglio anch'io passar con te, ...

Recitativo
Me infelice, che fingo? che ragiono? Dove rapita sono dal torrente crudel dei miei martiri, misera Berenice, ah, tu deliri?

Aria
Perché! se tanti siete
che delirar mi fate,
perché non m'uccidete,
affanni del mio cor?
Crescete, oh Dio, crescete,
affani del mio cor,
finché mi porga aita
con togliermi di vita
l'eccesso del dolor.

Szene, komponiert für die Signora Banti, von mir Joseph Haydn [Nach den Worten des Abbé Pietro Metastasio]

[Rezitativ]
Berenike, was tust du? Dein Geliebter stirbt, und du, Törichte, sputest dich nicht! O Gott! Mein unsicherer Schritt strauchelt. Ein eisiger, ungewohnter Schauer rast durch meine Venen, mein Fuß vermag kaum, seine Last zu tragen. Wo bin ich? Wo bin ich? Welch wirrer Schwarm düsterer Gedanken umnachtet meinen Sinn? Demetrios erblicke ich, bereit, sich zu durchbohren... Halt ein! Halt ein! Du sollst leben! Ich will mich Antigonos hingeben. Blutenden Herzens eile ich, ihm Treue zu schwören; ich will ihm sagen, dass ich ihn liebe; ihm sagen... Weh mir, der Himmel überzieht sich, es blitzt! Meine wohlerwogenen Lügen haben ihn erzürnt. Weh! Grausame Götter, lasst mich dem Geliebten beistehen! Doch ihr verwehrt es; indessen mag ein Schlag aus heiterem Himmel... Ach, gebt euch zufrieden; er ist tot... Warte, teure Seele! Gemeinsam wollen wir als Schatten Lethe überqueren. Zwar konnte ich dich nicht retten, doch treu... Doch du blickst mich an und verlässt mich? Verlass mich nicht!

Kavatine
Verlass mich nicht, mein Ein und Alles,
auch ich will mit dir
über diese Fluten setzen,
das andere Gestade zu erreichen, ...

Rezitativ
Ich Unglückliche! Was fällt mir ein? Wo denke ich hin? Raubt das grausame Maß meiner Leiden mir die Sinne? Elende Berenike, du rasest!

Arie
Warum, da ihr so zahlreich seid,
die ihr mir den Verstand raubt,
warum gebt ihr mir nicht den Tod,
ihr Qualen meines Herzens?
Nehmt zu, o Gott, nehmt zu,
bis mir das Übermaß des Leidens
Linderung schafft,
indem es mir das Leben raubt.

Joseph Haydn: Scena «Berenice, che fai?»
VOL. 9 _L'ADDIO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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No.10__Les heures du jour

Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791): Serenade D-Dur «Serenata notturna» KV 239
Marcia. Maestoso / Menuetto – Trio (Menuetto 2do) / Rondeau. Allegretto – Adagio – Allegro

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W. A. MOZART: SERENADE IN D-DUR «SERENATA NOTTURNA» KV 239 (Salzburg im Januar 1776)

Marcia. Maestoso / Menuetto – Trio (Menuetto 2do) / Rondeau. Allegretto – Adagio – Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

„Für die Geschichte von Serenade und Divertimento ist Mozarts Name zum Sinnbild geworden“, beginnt ein Beitrag von Thomas Schipperges im 2006 erschienenen Mozart-Handbuch der Verlagsunion Bärenreiter und Metzler. Und er fährt mit der Feststellung fort, dass „[i]nnerhalb von Mozarts eigenem Schaffen [eben jenes] Genre – Musik jenseits von Kammer oder Kirche, Theater oder Tanzsaal – als peripher“ gelte, um sogleich zu betonen, dass „über einzelne Fragen der Terminologie und der Datierung, des Aufführungsanlasses und der Aufführungspraxis [viel geschrieben wurde], hinter „das philologische Detail […] die einzelnen Kompositionen, […] die Musik [selbst aber] meist zurück[getreten sei]“.1

Im Fall des Werks, das in der Musikgeschichte als „Serenata notturna“ Bekanntheit erlangte und sich auch heutzutage immer noch mehr oder wenig regelmäßig auf klassischen Konzertprogrammen wiederfindet, hat es schon mit der Beantwortung der besagten Fragen so seine Tücken. Regelmäßig bekommen wir etwa zu lesen, dass der über das Autograph gesetzte Titel, der eigentlich „Serenada notturna“ lautet, wie auch der Author- und Datierungshinweis „di Wolfgango Amadeo Mozart. / nel gennaio 1776“ von Leopold Mozart stamme. Zudem soll die Komposition eigentlich als Freiluftmusik gedacht gewesen, seiner bläserlosen Besetzung und Entstehungszeit wegen aber für die Kammer, womöglich gar als Neujahrsmusik verfasst worden sein. Im Grunde genommen herrsche über das genaue Wann, Wo und Warum ihrer Erstaufführung und des damit „zweckhaft“ verbundenen Kompositionsanlasses aber Ahnungslosigkeit.

Die erste Korrektur, welche an der traditionellen Erzählung um KV 239 vorzunehmen wäre, gilt dem vermeintlichen Werktitel. Er – so können wir es im 1988 durch Ernst Hintermaier nachgereichten „Kritischen Bericht“ zum bereits 1962 von Günther Haußwald herausgegebenen Notenband der Neuen Mozart-Ausgabe lesen2 – stammt in Wahrheit nicht von Vater Leopold, sondern vielmehr aus der Feder eines gewissen Franz Gleissner – ein Sachverhalt, der sogar von überaus prominenten Mozartforschern bis in die heutige Zeit hinein schlicht und ergreifend übergangen wurde. Selbiger Gleissner, kurfürstlich-bayerischer Hofmusiker, Komponist und Miterfinder des lithografischen Notendrucks, war von 1800 bis 1801 im Offenbacher Verlag des Johann Anton André mit der Erstellung eines nach Gattungen geordneten Verzeichnisses jener Kompositionen beschäftigt, die letzterer ein Jahr zuvor von Mozarts Witwe Constanze käuflich erworben hatte. So dürfte das ursprünglich unbetitelte Werk auch zu seinem, aus den Ordnungsbegriffen Serenade und Notturno zusammengesetzten, posthum verliehenen „Taufnamen“ gelangt sein. (Die Überschrift des öfteren als ihr Schwesternwerk angesehenen Notturno für vier Orchester KV 286, dessen Autograph in den Wirren des 2. Weltkriegs verloren ging, und dessen hervorstechende Merkmale der mehrchörigen Instrumentalbesetzung sowie des dreisätzigen Aufbaus es mit KV 239 teilt, könnte entsprechender Weise ebenso von Gleissner stammen).

Weiters gibt es guten Grund zur Annahme, dass das Werk tatsächlich nicht – wie der Mehrheit der Serenaden und Divertimenti Mozarts – als Freiluft- oder Huldigungsmusik gegenüber einer höher gestellten, oder auch einer dem Komponisten freund- oder verwandtschaftlich verbundenen Person(engruppe) und schon gar nicht als Neujahrsmusik gedacht gewesen war. Vielmehr scheint der Anlass zur Komposition der „Serenata Notturna“ im Bereich der seinerzeit im Salzburger Rathaus am Kranzlmarkt veranstalteten Redouten oder Maskenbälle zu liegen, wie sie einst zwischen Mariä Lichtmess und Aschermittwoch jeden Mittwoch und Sonntag gegeben und von den hohen wie mittleren Ständen der Stadt, darunter auch Leopold und Wolfgang Mozart regelmäßig und mit Begeisterung aufgesucht wurden. Ferdinand von Schidenhofen, salzburgischer Hofrat, Landschaftskanzler und Freund der Familie Mozart berichtet in seinem Tagebuch:

Mitwochs den 14t Hornung [Februar 1776].
[…] Abends [...] gienge ich zum [Johann von] Geÿer, wo die Compagnie auf mich Wartete, die auf der Redute eine französische Werbung vorstelte. Um halbe 10 uhr Tratten wir ein. Voraus gienge Mr Meisner als Regiernde Tambour, dann 6 Spilleut. Dann Obriststallmeister [Leopold Graf] Kuenburg a1s Corporal, und General [Franz Johann Nepomuk Anton Felix] Graf Arco, Graf Lizzow [Johann Gottfried Graf Lützow] Schlos Oberster, B: [Polycarp von] Lilien, Mr Schmid, H [Ferdinand] v Geÿer Fähndrich, und Graf [Anton Willibald von] Wolfegg als Commandirte. Dann [Wolf Joseph] Graf Überacker, Hauptmann [Felix Johann von] Freitag, und ich als Recruten, Leitenant Riser als Gefangner, und Graf Wicka als Margetenter. Weiters machte [Johann Rudolph] Graf Czernin eine Gegenwerbung von Cavallerie, wobeÿ der B: [Franz Christoph von] Lehrbach, die Pagen, und andere waren. Ich gienge um 3 uhr nach Hause, dann zum Tanzen ware es zu voll weil 410 Massquen da waren.3

Nicht nur, dass man sich kaum vorzustellen vermag, wie ein solcher Aufzug, den Schidenhofen an jenem Abend, eine Woche vor Beginn der Fastenzeit des Jahres 1776 zusammen mit seinen Standesgenossen vor mehreren hundert Ballgästen aufs Parkett legte, ohne eine begleitende, analoge Musik hätte stattfinden können. In einem Kontext wie diesem würden sich außerdem gleich mehrere Auffälligkeiten der Komposition – von der geforderten Ensemblebesetzung (ein solistisch besetztes „Serenadenquartett“ steht einer chorisch besetzten Streichergruppe gegenüber, die das Spiel des vorherigen kommentiert und unterstreicht, dazwischen ein das musikalische Geschehen antreibender Paukist) bis hin zur durchwegs ungewöhnlichen Satzfolge – gleich wie von selbst erklären: Marcia. Ein Marschmotiv erklingt, allerdings nur als Signal, auf das die Protagonisten unseres kleinen karnevalesken Spiels Aufstellung nehmen mögen. Bereits im dritten Takt straft ein charmanter Auftritt des besagten Solistenquartetts den scheinbaren Ernst der Szene Lüge und wird vom versammelten Orchestertutti mit instrumentalen Hochrufen bejubelt. Schließlich sind die Werber ja Franzosen, die sich um die Anwerbung von Soldaten zur Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bemühen. Der ganze Satz lebt vom Wechselspiel der Gruppen und Motive in welches bei Gelegenheit leise Paukenschläge und Streicherpizzicati eingestreut werden, die eine geheimnisvolle, nächtliche Stimmung verbreiten.

Wie es sich zum Auftakt eines Maskenballs gebührt, folgt ein Menuetto. Kommt dieser zunächst etwas steif daher, so zeichnet sich sein zweiter Teil – von Mozart einst nach französischem Vorbild mit „Menuetto 2do“ überschrieben – durch eine vom Serenadenquartett allein bestrittene, entspannte Triolenbewegung aus.

Mit einem kompositorisch ausgefuchsten Rondeau tritt die vermeintliche Compagnie alsbald wieder ihren Rückzug an, den sie durch mehrere durchaus komisch wirkende Einschübe, darunter ein Adagio-Rezitativ sowie eine beschleunigte Wiederkehr des Satzthemas mit pizzicato / coll'arco-Kontrasten auszuschmücken versteht. Zum finalen Paukenwirbel mischt man sich schließlich unter die Menge der Masken.

Thomas Schipperges, „ Mozart und die Tradition gesellschaftsgebundener Unterhaltungsmusik im 18. Jahrhundert“, in: Silke Leopold (Hg.): Mozart-Handbuch, Stuttgart, Weimar, Kassel 2005, S. 562-564, hier S. 562.
Wolfgang Amadeus Mozart, Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Serie IV Orchesterwerke, Werkgruppe 12: Kassationen, Serenaden und Divertimenti für Orchester, Bd. 3: Notenband, vorgelegt von Günter Haußwald, Kassel 1962 und Kritischer Bericht von Ernst Hintermaier, Kassel 1988.
Joachim Ferdinand von Schidenhofen, ein Freund der Mozarts. Die Tagebücher des Salzburger Hofrats. Hg. und kommentiert von Hannelore und Rudolph Angermüller unter Mitarbeit von Günther G. Bauer, Bad Honnef 2006, S. 136.

 

VOL. 10 _LES HEURES DU JOUR

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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No.12__Les jeux et les plaisirs

Johann Michael Haydn (1737–1906) et al. attrib.: Sinfonia in C-Dur «Berchtoldsgadner» („Kinder-Sinfonie“) Hob. II:47 (~1760/1770)
Urtext Edition Sonja Gerlach

Allegro / Menuetto – Trio / Presto

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J. M. HAYDN ET AL. ATTRIB.: SINFONIA IN C «BERCHTOLDSGADNER» („KINDER-SINFONIE“) (~1760/1770) HOB. II:47

VOL. 12 _LES JEUX ET LES PLAISIRS

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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No.14__L'Impériale

Joseph Haydn (1732–1809): Sinfonia D-Dur (Ouvertüre zu «Genovefens vierter Theil»?) Hob. Ia:7 (1777)

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SINFONIA D-DUR (OUVERTÜRE ZU «GENOVEFENS VIERTER THEIL»?) HOB. IA:7 (1777)

Presto (verwendet als 4. Satz in Hob. I:53, Frühfassung B, um 1777/78?)

 

von Christian Moritz-Bauer

Haydns Sinfonie Nr. 53 stellt in seiner (handschriftlichen) Überlieferung ein alles andere als unproblematisches Werk dar, was sich etwa dadurch zeigt, dass Antony van Hoboken einst in sein Haydn-Werkverzeichnis nicht weniger als sieben verschiedene Fassungen der selbigen aufgenommen hatte. Von diesen blieben nach eingehenden wissenschaftlichen Untersuchungen allerdings schlussendlich nur zwei ‚authentische‘ Fassungen über: eine Frühfassung (Hobokens „Fassung B“) sowie die in No. 14 L’Impériale wiedergegebene, für „endgültig“ befundene „Fassung A“1.  Der Unterschied zwischen den beiden besteht v. a. darin, dass „Fassung B“, die in handschriftlicher Form eine nicht unerhebliche Verbreitung erfuhr, noch über keine langsame Einleitung und dazu einen anderen, wohl provisorisch angefügten Schlusssatz verfügte, als jenes Capriccio Moderato, mit dem Haydn schließlich sein Werk zu beenden gedachte. Es war dies ein Satz in D-Dur und Tempo Presto, der im Gegensatz zu den Sätzen 1-3 von Hob. I:53 als Autograph überliefert und mit der Jahreszahl 1777 datiert ist, somit also in seiner Niederschrift der Wandlung von Sinfonie Nr. 53 in ihre „Fassung A“ um etwa ein Jahr vorausgegangen war. Auffällig an jenem Prestosatz ist, dass dieser ursprünglich mit Überleitung und Halbschluss auf der Dominante G-Dur endete, also recht offensichtlich als Ouvertüre zu einem Bühnenwerk verfasst worden war – ein Umstand dem Haydn zunächst dadurch Abhilfe zu schaffen versuchte, dass er die Überleitung strich und direkt davor ein „Fine“ mit anschließenden, doppelten Taktstrichen setzte. Später, nachdem Hob. I:53 zwischenzeitlich seine endgültige Form gefunden hatte und vermutlich bei einer der auf Schloss Eszterház gegebenen Akademien zu Anfang des Jahres 1778 zur Aufführung gebracht worden war, sollte Haydn abermals eine Verwendung für den ‚verwaisten‘ Ouvertürensatz finden und zwar im Zuge einer weiteren, wiederum in scheinbarer Eile erstellten Komposition in D-Dur, der Sinfonie Nr. 62 von 17802, bei der er ihn diesmal allerdings als Kopfsatz verwendete und dahingehend einer vergleichsweise umfangreicheren Bearbeitung unterzog.
Auf der Suche nach jenem Bühnenwerk, dem die Ouvertüre, die im Hobokenverzeichnis die Nummer Ia:7 trägt, einst zugedacht war, geriet dem Haydn-Forscher Stephen C. Fisher ein Werk des auf Schloss Esterház seit 1773 betriebenen Marionettentheaters in die Hände, besser gesagt ein Libretto zu dem selbigen, das infolge seines Titelzusatzes „im Sommer 1777 zum ersten Male aufgeführet“ wurde. Der Sommer 1777 wiederum, genauer gesagt die Tage zwischen dem 3. und 6. August, standen unter dem Zeichen der Feierlichkeiten zur Hochzeit des zweitältesten Sohnes von Fürst Nikolaus I. Joseph, dem Grafen Nikolaus Laurenz mit Maria Anna Franziska geb. Reichsgräfin Ungnadin von Weissenwolff, einer Nichte seiner Frau Maria Elisabeth, die mit der Uraufführung von Haydns Oper „Il mondo della luna“ begannen und mit einer Aufführung des Marionettensingspiels „Genovefens vierter Theil“ endeten. Letzteres stellte den abschließenden Teil einer Tetralogie aus der Feder des damaligen Direktors der esterházyschen Marionettenbühne, Carl Michael von Pauerspach, dar und muss – im Gegensatz zu den ihm einst vorangestellten Teilen 1-3 – auch mit einem gewissen, von Haydn persönlich stammenden kompositorischen Anteil über die Bühne gegangen sein. Schließlich wird es in der „Biographischen Skizze“ von Albert Christoph Dies als eines seiner eigenen Werke, im zwischen ca. 1799 und 1804 erstellten Verzeichnis von „275 Verschiedene[n] Opern, Oratorien, Marionetten, und Cantatten Büchel“, welche sich einst im Besitz des esterházyschen Kapellmeisters befanden, allerdings als „von verschieden Meistern“ stammend ausgewiesen3.  Fisher stellte jedenfalls fest, dass jene sechs Bifolianten (Doppelblätter), die das Autograph der Ouvertüre Hob. Ia:7 bilden, aus denselben Papiersorten besteht, wie diejenigen der Partitur von „Il mondo della luna“. Außerdem beweisen an dem selbigen seitlich angebrachte Löcher, dass es einst Teil einer größeren, zusammengenähten Partiturhandschrift gewesen sein muss. Insgesamt hält Fisher – und folglich auch ein nicht geringer Teil der Haydn-Forschung – die Übereinstimmung von Hob. Ia:7 mit der Ouvertüre des (verlorengegangenen) Marionettensingspiels „Genovefens vierter Theil“ weiterhin für „eine Hypothese, wenngleich eine sehr attraktive“4

1 Vgl. Stephen C. Fisher, Sonja Gerlach, „Vorwort“, in: Joseph Haydn-Institut Köln (Hg.): Joseph Haydn. Sinfonien um 1777 – 1779, München 2002 (= Joseph Haydn Werke. Reihe I, Band 9), S. IX-XI.
Vgl. Haydn2032 No. 15 „La Reine“.
Vgl. H. C. Robbins Landon, Haydn: The Late Years 18001–1809. London: Thames and Hudson, 1977 (= Haydn: Chronicle and works Bd. 5), S. 320–325.
Vgl. / zit. nach Stephen Carey Fisher, Haydn’s Overtures and their adaptions as concert orchestral works, Ph. D. Diss., University of Pennsylvania (Philadelphia), 1985, S. 301–303.

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No.15__La Reine

Joseph Haydn (1732–1809): Konzert für Violine und Streicher A-Dur Hob. VIIa:3 (um 1765–70)
Moderato / Adagio / Finale. Allegro

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JOSEPH HAYDN: KONZERT FÜR VIOLINE UND STREICHER A-DUR HOB. VIIa:3 (um 1765–70)

Moderato / Adagio / Finale. Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

Während Haydns Sinfonie Nr. 62 in D-Dur eindeutig auf das Jahr 1780, in ihrer überlieferten Form vielleicht sogar auf die unmittelbar dem 15. Oktober selbigen Jahres vorausgehenden Tage datiert werden kann, lässt sich die Entstehung seines dritten von ursprünglich vier komponierten Violinkonzerten nur recht grob auf den Zeitraum 1765 – 1770 beschränken, der dafür von zwei für die kaiserliche Familie überaus bedeutsamen Jahreszahlen eingegrenzt wird: derjenige der Hochzeit von Erzherzog Leopold mit der spanischen Prinzessin Maria Ludovica in Innsbruck, während deren Feierlichkeiten es zum unvorhersehbaren Tod von Kaiser Franz I. Stephan gekommen war, sowie die der Vermählung von Erzherzogin Maria Antonia mit Louis-Auguste de France, Duc de Berry und Thronerbe des Königs von Frankreich.

Vieles spricht dafür, dass Haydn seine Konzerte mit solistischer Violine – trotz durchaus vorhandenem Vermögen nicht für den Eigengebrauch, sondern für seinen Konzertmeister aus den Reihen der esterházy‘schen Hofkapelle schrieb. Dies war bekannterweise der 1741 in Pesaro geborene (Aloisio) Luigi Tomasini, der noch zu Zeiten von Fürst Paul II. Anton seine Anstellung daselbst gefunden hatte. Jedenfalls trägt eines der im Haydns „Entwurfkatalog“ eingetragenen konzertanten Werke den Zusatz „Concerto per il Violino fatto per il luigi“. Hinzu kommt, dass insbesondere das heute erklingende A-Dur-Konzert durch seine Anweisung zum ersten Satz („Moderato“) sowie in der vom Solisten geforderten virtuos-konzertierenden Spielweise an die Quartettdivertimenti op. 9 von 1769/1770 erinnert, bei denen sich Haydn am besonderen Können Tomasinis orientiert hatte. Hervor sticht unter dieser, seiner mit Abstand umfangreichsten Partitur für Violine mit Begleitung eines Streicherensembles, deren wichtigste allesamt handschriftliche Quellen heute im Musikkonservatorium Benedetto Marcello in Venedig bzw. in der Musikaliensammlung von Stift Melk in Niederösterreich liegen, besonders das Finale, das kein ungestümes Presto, sondern vielmehr ein so subtil wie dicht gearbeitetes Allegro im unüblichen ¾-Takt darstellt, der aber eindeutig nicht dem Charakter eines „Tempo di Menuetto“ folgt.

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No.16__The Surprise

Gioachino Rossini (1792–1868): Ouvertüre zu «La scala di seta» (1812)
Sinfonia. Allegro vivace – Andantino – Allegro

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GIOACHINO ROSSINI: OUVERTÜRE ZU «LA SCALA DI SETA»

Gioachino Rossini (1792–1868)

 

Sinfonia. Allegro vivace – Andantino – Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

Am 29. Februar 1792, also nur 2 Tage vor der Londoner Uraufführung von Haydns Sinfonie Nr. 98 in B-Dur, wurde im seinerzeit noch kirchenstaatlich regierten Adriastädtchen Pesaro in ein musikalisches Elternhaus – der Vater Giuseppe Rossini war Hornist, die Mutter Anna, geb. Guidarini, Sängerin – ein Sohn namens Giovacchino Antonio geboren. Im Laufe seines 76 Jahre währenden Lebens gelang es ihm, der seinen Vornamen später in Gioachino ändern sollte, sich zu einem der bedeutendsten Komponisten der Musikgeschichte, insbesondere auf dem Gebiet der Oper und in so bedeutenden Musikstädten wie Venedig, Mailand, Neapel und Rom, Wien, London und Paris emporzuarbeiten – eine Karriere, die allerdings bereits 1830 ihr frühzeitiges Ende fand, als ihn die revolutionsbedingte Abdankung des französischen Königs Karl X. Philipp sämtlicher Ämter beraubte.
Rossini verehrte die Musik der Wiener Klassik, versetzte das Publikum der Donaumetropole während seines dortigen Aufenthalts 1822 in einen zum Sprichwort gewordenen gleichnamigen Taumel, erregte den Ehrgeiz des jungen Franz Schubert, der nichts lieber als auch im Bereich des Musiktheaters reüssiert hätte und erfreute sich der Hochachtung Beethovens. Von Joseph Haydn ging zudem ein bedeutender Einfluss auf seine Musik, vor allem diejenige seiner Ouvertüren, aus – einer, der sich besonders an den dort so zahlreich anzutreffenden kompositorischen Einfällen, die auf einen ausgeprägten Sinn für Humor schließen lassen, festmachen lässt. Die vielen überraschenden Akkorde in „L’italiana in Algeri“ und „Semirade“ hätte dem älteren Meister jedenfalls sicher gefallen, ebenso wie die scherzhaften Pausen und farbreich-virtuosen Bläsersoli in „La scala di seta“ oder die scharfen Synkopierungen vom Ende des Vorspiels zu „Guillaume Tell“.
Im Mai 1812 im Teatro San Moisé in Venedig uraufgeführt und zur musikalischen Gattung der farsa comica gehörend, basiert „La scala di seta“ (Die seidene Leiter) auf einer gleichnamigen Komödie des französischen Dichters Eugène Planard. Die Sinfonia des einaktigen Bühnenwerks folgt dem von Rossini favorisierten Schema: eine langsame Einleitung – hier durch einen improvisatorisch wirkenden, triolischen und „alla corda“, also mit beständigem Druck auf die Saiten auszuführenden Eingang der ersten und zweiten Violinen vorbereitet – geht in eine Sonatenform ohne Durchführung über, deren Reprise das berühmte „Rossini-Crescendo“ aufzuweisen hat.

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No.17__Per il Luigi

Joseph Haydn (1732–1809): Konzert für Violine und Streicher Nr. 1 C-Dur «Per il Luigi» Hob. VIIa:1 (1761–1765)
Allegro moderato / Adagio (molto) / Finale. Presto

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JOSEPH HAYDN: KONZERT FÜR VIOLINE UND STREICHER NR. 1 "PER IL LUIGI" HOB. VIIa (1761–1765)

Allegro moderato / Adagio (molto) / Finale. Presto


von Christian Moritz-Bauer

 

Vom Violinkonzert in C-Dur steht im 1765 begonnenen, sogenannten «Entwurf-Katalog» zu lesen, es sei «fatto per il luigi», «für den Luigi gemacht» worden. Mit dieser denkbar knapp formulierten Widmung meinte Haydn den brillanten Geigenvirtuosen Luigi Tomasini (1741–1808) aus Pesaro, der per 1. Juni 1761 als Geiger und Konzertmeister in die Reihen der esterházy’schen Hofkapelle aufgenommen wurde und über Jahrzehnte hinweg der Freund Joseph Haydns bleiben sollte. Insgesamt komponierte Haydn vier Violinkonzerte, von denen dasjenige in D-Dur bis heute verschollen ist. Alle diese Werke (die drei erhaltenen stehen in A-Dur, G-Dur und C-Dur), entstanden im ersten Jahrzehnt der Anstellung Haydns am Hof der Fürsten Esterházy wie überhaupt das Gros seiner Sololiteratur mit Orchesterbegleitung als auch das seiner Sinfonien mit umfangreichen, satz- bzw. werkbestimmenden Solopartien auf die Jahre 1761–72 zurückgeht.

Von Anbeginn seines ersten Violinkonzerts stellt Haydn die virtuosen Fähigkeiten Luigi Tomasinis in den Mittelpunkt, zu denen – so augen- wie ohrenscheinlich – ein wohlintoniertes, doppelgriffiges Spiel, halsbrecherische Intervallsprünge und gefühlvoll ausgeführte Triolenketten gehörten. Im Allegro moderato-Hauptsatz, in dem eben diese auf besondere Weise wie kompositorischen Dichte gefordert werden, herrschen zudem französisch-punktierte Rhythmen vor – zweifellos ein Erbe der musikalischen Epoche des scheidenden Barocks, dessen Ende ‚herbeizukomponieren‘ Haydn endgültig im Begriff war. Einer der berühmtesten Sätze der musikalischen Vorklassik ist das dreiteilige Adagio molto: Während die beiden vergleichsweise kurzen äusseren Abschnitte von einer emporsteigenden Tonleiter der Solovioline geprägt sind, stellt der mittlere ein weitschweifendes serenadenartiges Cantabile ins Zentrum, in dem die Violine von einem homophonen, durchgehend pizzicato spielenden Streichersatz begleitet wird. Hohe spieltechnische Anforderungen an den Solisten stellt daraufhin nochmals das im 3/8-Takt gehaltene Presto-Finale, wiederum mit Doppel- und Dezimengriffen sowie federnden Spiccato-Strichen mit füllig-akkordischer Wirkung.

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