Sinfonien-Finder

1-107 (1757 - 1795)

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SINFONIE NR. 1 D-DUR HOB. I:1 (1757)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 25.11.1759 [1757]

Presto / Andante / Finale: Presto


von Christian Moritz-Bauer

Als Joseph Haydn 17 Jahre alt war, d.h. also 1749, musste er seine erste musikalische Wirkungsstätte – das Kapellhaus von St. Stephan zu Wien – verlassen. Sein Stimmbruch hatte längst eingesetzt und zudem soll er die Dummheit begangen haben, einem Mitsänger den Zopf abzuschneiden ... Es folgten Jahre materieller Not, in denen er sich «kumerhaft herumschleppen» musste, jedoch dabei mit großer Ausdauer komponierte wie musizierte («ich würde das wenige nie erworben haben, wan ich meinen Composition Eyfer nicht in der nacht fortgesezt hätte, ich schriebe fleissig, doch nicht ganz gegründet»). Von folgenreicher Bedeutung war für ihn damals das Zusammentreffen mit Niccolò Porpora, der ihm nicht nur «die ächten Fundamente der sezkunst», sondern auch Kontakte zur adeligen Gesellschaft vermittelte. Der Opern- und Oratorienkomponist von europäischem Ruf residierte nämlich – genau wie Haydn – im sog. Michaelerhaus (letzterer allerdings vergleichsweise ärmlich, in einer ungeheizten, zugigen Dachkammer. Als am Klavier begleitender Assistent des auch als Gesangslehrer überaus gefragten Neapolitaners betreibt Haydn ein mit der Zeit immer erfolgreicheres «networking», trifft in den Stadtpalais und auf den nahegelegenen Landsitzen des Adels auf manch musikalischen Wegbereiter und -begleiter, wie etwa Gluck, Wagenseil und Dittersdorf. Ob es sich nun in Mannersdorf am Leithagebirge, einem Modebad der Zeit, oder doch an einem anderen Ort zugetragen hat – um 1755 trifft Haydn in der Person des Baron Carl Joseph Edler von Fürnberg auf den wichtigsten Förderer seiner noch jungen Karriere, wird von ihm zum gemeinsamen Musizieren auf Schloss Wienzierl in Niederösterreich eingeladen, zur Komposition seiner ersten Streichquartette anregt, und schließlich – welch enormer Schritt in die Zukunft – an die Grafen Morzin, d.h. Ferdinand Maximilian Franz oder vielmehr dessen Sohn Karl Joseph Franz vermittelt, der gerade einen Musikdirektor für seine neue Hofkapelle suchte.. Den migratorischen Gepflogenheiten der Zeit entsprechend verbrachten diese den Sommer auf ihrem Familiensitz, dem nahe Pilsen gelegenen Dolní Lucavice sowie den Winter in Wien, dort allerdings als Mieter im Palais des Fürsten Batthyány.
Die Lebensumstände, derer sich Haydn in seinem ersten Dienstverhältnis erfreuen konnte, schienen im Vergleich zu seiner bisherigen Situation, geradezu hervorragend. Haydn erhielt freie Unterkunft, ein Jahresgehalt von 200 Gulden und wurde an der Offizierstafel verköstigt. Leider wissen wir darüber hinaus so gut wie gar nichts über die Zeit, die Haydn zur Hälfte im westlichen Böhmen verbrachte. Nicht einmal über das Jahr der Anstellung – manche wollen sie auf 1759 datieren, andere früher – ist sich die Nachwelt einig. Dabei scheint des Rätsels Lösung doch ganz einfach – falls man ein wenig um die Ecke zu denken bereit ist und der gegenüber Georg August Griesinger getätigten Aussage vertraut, laut der sich der in die Jahre gekommene Tonschöpfer «lebhaft erinnert» haben soll, dass jenes Werk, um das es im Folgenden gehen wird, unter seinen Sinfonien tatsächlich das erste gewesen sei.

Eine im südböhmischen Krumau aufbewahrte, von einem Wiener Berufskopisten stammende Stimmenabschrift der als zweitälteste angesehenen Haydn-Sinfonie Hob. I:37 trägt die Jahreszahl [1]758. Da nun eine in fürstlichen Diensten entstandene Komposition (den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend) nicht vor einem Jahr nach Vollendung auf dem Musikalienmarkt erscheinen durfte, so stammt sie – wie auch die zuvor entstandene Hob. I:1 – folglich aus 1757. Da Haydn zudem vor seiner Ernennung zum Leiter der Morzin'schen Hofmusik «vermutlich keinen Anlass hatte, Sinfonien oder andere größere, insbesondere mit Bläsern besetzte Werke zu schreiben», dürfte demnach auch sein Amtsantritt in genau jene Zeit gefallen sein.

In wieweit Haydn, der sich sein Handwerkszeug zu größten Teilen autodidaktisch erworben hatte, vor oder während der Komposition seiner sinfonischen Frühwerke nach Vorbildern gesucht oder sich nur hatte inspirieren lassen, ist schwer zu beurteilen. Jedenfalls wurde der Beginn der Sinfonie Nr. 1 lange Zeit mit der sog. Mannheimer Schule und deren zum Sprichwort gewordenem Orchestercrescendo in Verbindung gebracht. Solch eröffnende Gesten mit einer im Tutti angelegten, sich über trommelnden Bässen erhebenden, in Tonhöhe wie Dynamik ansteigenden Linie, wie sie die eröffnenden Takte einnimmt, finden sich aber nicht nur in den Werken der Mannheimer sondern auch manch eines Wiener Zeitgenossen wieder und alle schöpfen sie aus dem Fundus der italienischen Opernsinfonie, in deren dreisätziger Form auch unser Erstlingswerk steht. Seine Energie und überbordende Fülle an kontrastreichem, thematischen Material, seine durch Tremoli, virtuose Läufe mit kontrapunktischen Interaktionen und mitreißenden Hornfanfaren zum Ausdruck gebrachte innere Erregtheit: all dies malt sie mit Tönen nach – die Aufbruchstimmung, die Leidenschaft eines geradezu beflügelt agierenden jungen Künstlers.
Verblasst da nicht alle Kritik der Herren Analytiker? Manch einer gerät sogar ins Schwärmen – Ludwig Finscher beispielsweise – bei dem, über das anfängliche Presto berichtend, von «Konzentration der Form – ein ausgebildeter Sonatensatz mit knapper Durchführung», einem die Reprise vorbereitenden «musikdramatischen Ausbruch» und einem meisterhaften, «ganz detail-ökonomischen Aufbau» die Rede ist.
Das zentrale Andante, in dem (nach frühklassischer Manier) die Bläser zu schweigen haben und ein von den 1. Violinen vorgestelltes, später dialogisch wiederkehrenden Triolenmotiv eine besondere Bedeutung erhält, «begründet die unnachahmlich lebhafte Tiefsinnigkeit, die so charakteristisch für Haydns Andante-Mittelsätze ist.» (James Webster)
Mit einem raketenartig aufsteigenden D-Dur-Dreiklang zündet Haydn im Finalsatz von Hob. I:1 – abermals ist Tempo Presto vorgeschrieben – ein kurzes aber umso leuchtenderes Feuerwerk, welches die Qualität eines typischen «Rausschmeißers» in sich trägt, dabei aber mit einigen (überaus gewollten) unerwarteten Unvorhersehbarkeiten auf sich aufmerksam macht, wie etwa ein satzübergreifendes «Motivrecycling» vor Eintritt der Reprise.

Der Dienst des Joseph Haydn im Hause Morzin währte nur wenige Jahre: In Folge eines Vermögensverlustes, so heißt es, habe der Graf seine Kapelle erst reduzieren und schließlich auflösen lassen. In wieweit Haydn das Ende seines Directeur-Postens hatte kommen sehen, muss dahin gestellt bleiben. Jedenfalls finden wir ihn – und das obwohl per Morzin'schem Vertrag angeblich ein ausdrückliches Heiratsverbot bestand – auf Freiersfüßen wieder. Haydn hatte sich verliebt und zwar in die Tochter des Perückenmachers Johann Peter Keller aus der Wiener Vorstadt Landstraße. Sie hieß Therese und war seine Klavierschülerin gewesen. Aber anstelle in den Bund der Ehe einzugehen, trat sie ins Kloster der Piaristinnen ein. Warum? Wir wissen es nicht. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Eltern Theresens das «Recht der Eheschließung« – weil ihnen ihr Geld nur für eine Mitgift zu reichen erschien – zum Privileg der älteren Tochter erklärten. Diese hieß bei den Kellers Maria Anna Aloysia und sollte am 26. November 1760 mit Haydn die Ringe tauschen – obwohl ihre Natur so überhaupt nicht zu der seinigen passte. Angeblich hatte sie einen Hang zur Geldverschwendung, war zanksüchtig und ganz und gar nicht kunstsinnig. Kurz nach der Hochzeit soll sie erklärt haben, dass es ihr völlig egal sei, ob ihr Ehemann ein Komponist oder ein Schuster sei. Die Ehe blieb ohne Kinder und dauerte beinahe 40 Jahre, bis zum Tode Maria Annas im Jahre 1800.

Dieser wie auch die folgenden O-töne Haydns entstammen der sog. "Skizze einer Autobiographie" welche am 6. Juli 1776 und in Briefform an eine Mademoiselle Leonore verfasst, wohl zur Aufnahme in «Das gelehrte Österreich», ein lexikographisches Werk des Staatsrechtler und Schriftstellers Ignaz de Luca gedacht war.
Dass es einst der jüngere Morzin gewesen war, der für Haydns Anstellung gesorgt hatte, kann wiederum aus der autobiographischen Skizze von 1776 abgeleitet werden, in der der Autor von der «Reccomendation des Sel: [also verstorbenen] Herrn v. fürnberg bey Herrn grafen v. Morzin» berichtet. Wenn es in Wahrheit der ältere Morzin (†1763) gewesen wäre – hätte ihm hier nicht korrekterweise auch etwas «Seligkeit» zugeteilt werden müssen?
Hinzu kommt, dass Haydn – als er in späten Jahren im Auftrag des Verlagshaus Breitkopf & Härtel eine Liste seiner Sinfonien durchsah – die früheste Gruppe mit dem Zeitraum 1757-67 überschrieb.
Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 130.
Derzeitigen Erkenntnissen zufolge sollen es in etwa vierzehn Sinfonien gewesen sein, bevor ihn der Ruf der Fürsten Esterházy ereilte. Nach traditioneller, jedoch chronologisch neu geordneter Zählung handelt es sich dabei um die Nummern 1, 37, 4, 5, 25, 32, 33, 11, 3, 107 («A»), 2, 15, 10 und 27.
Als dem Beginn Haydn-Sinfonie besonders nahestehendes Vergleichswerk führt A. Peter Brown (The Symphonic Repertoire Vol. II – The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert, Bloomington 2002) Florian Leopold Gassmanns Sinfonia zur Oper L'Issipile (1758) an.
Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, S. 133.

VOL. 1 _LA PASSIONE

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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2

SINFONIE NR. 2 C-DUR HOB. I:2 (1757/59?)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: vor 12.3.1764 [1757/1759]

Allegro / Andante / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Jean-Baptiste Venier, einem in der französischen Hauptstadt zwischen 1755 und 1782 aktiven Verleger venezianischer Abstammung, der auch als Violinist und Cembalist (u.a. in den Concerts spirituel) tätig war, darf der Verdienst zugesprochen werden als allererster seiner Zunft eine Sinfonie Joseph Haydns veröffentlicht zu haben – so geschehen im Jahr 1764 mit der Sinfonie C-Dur Hob. I:2. Als Opus 14 in der Pubikationsreihe Sinfonie à più stromente composte da varii autori unter der Rubrik « noms inconnus bons à connoitre » (zu dt. etwa: „unbekannte Namen, die man sich merken sollte“) erschienen, sollte sie den Grundstock einer beispiellosen Erfolgsgeschichte in den Annalen des europäischen Musikverlagswesen legen. Laut Erstanzeige vom 12. März 1764, waren zu den auch im Einzeldruck erhältlichen Werken der Sammlung, die u.a. noch Sinfonien von Pieter van Maldere, Johann Christian Bach und Ignaz Fränzl enthielt, auch in Kopistenschrift verfasste Bläserstimmen erhältlich. Im Fall der Haydn-Sinfonie haben sich selbige allerdings nur in nicht aus Paris stammenden Quellen erhalten.

Zu den hervorstechenden Merkmalen unserer noch auf die Jahre von Haydns erster kapellmeisterlichen Anstellung im böhmischen Lukavec zurückgehenden Komposition gehören: Der generelle Verzicht auf Wiederholungszeichen, der sie unter ihresgleichen und unter Einbezug des fünfteiligen Schlussrondos als ein „formales Unikat“1 erscheinen lässt. Ferner wurde (von A. Peter Brown) bemerkt, dass hier eine Synthese aus barockem Gruppenkonzert und italienischer Ouvertüre vorläge, die wiederum auf eine alte (Wiener) Tradition von Stücken zurückgreife, die sich stufenförmig aufgebauter Themenkomplexe bediene.2 Schließlich gibt es da aber auch noch das bläserlos geführte zentrale Adagio. „Hier“, so wiederum Landon, „haben wir ein anderes Experiment: eine Art Perpetuum mobile, bei dem die Violinen zwischen der ersten und letzten Note – beide von einer Achtel Länge – durchgehend in Sechzehnteln spielen, wobei die daraus entstehende Struktur in einem fort durch die Verwendung von Trillern unterbrochen wird.“ Das Ganze würde „eine grässliche Faszination“ ausüben, etwa so, „wie das gemalte Grinsen eines Harlekins in einer dieser Puppentheateraufführungen, die während des Sommers in den Gärten Roms zu erleben waren.“3

Sonja Gerlach: „Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie“, in: Haydn-Studien 7/1–2 (1996), S. 62.
Vgl. A. Peter Brown: The Symphonic Repertoire Volume II. The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven, and Schubert. Bloomington & Indianapolis 2002, S. 53 (Übers.: Christian Moritz-Bauer).
3 .C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn: The Early Years: 1732–1765, London 1980, S. 287.

VOL. 11 _AU GOÛT PARISIEN

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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3

SINFONIE NR. 3 G-DUR HOB. I:3 (1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1762 [1761]

Allegro / Andante moderato / Menuet – Trio / Finale. Alla breve


von Christian Moritz-Bauer

Infolge seiner Ernennung zum Kapellmeister der Fürsten Esterházy, genauer gesagt zwischen Juni und Dezember 1761 waren nicht nur die sog. «Tageszeiten-Sinfonien» mit ihren Concerto grosso-ähnlichen Soloauftritten für die Stimmführer seines Orchesters, sondern vermutlich direkt zuvor auch je eine Sinfonie in D- bzw. G-Dur entstanden. Ein prägendes Moment der letzteren, Hob. I:3 ist ihre ungewöhnliche Konzentration kontrapunktischer Satzmodelle, die nicht nur in der Alla breve-Fuge am Ende der Komposition, sondern ausgehend vom Allegro mit seinem sogettoartigen Thema auch in den beiden mittleren Sätzen anzutreffen sind. Ein Grund hierfür dürfte Haydns Bemühen gewesen sein, seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der polyphonen Stimmführung unter Beweis zu stellen, in der sich nicht zuletzt auch der ihm vorgesetzte Gregor Werner als eine gewisse Autorität verstand.
Wenn Haydn sich kontrapunktischer Formen bediente, so tat er dies meist im «freien Satz», in dem im Vergleich zum sog. Stile antico die Regeln von Dis- und Konsonanz in einer gelockerten, dem Geschmack des Tonsetzers und seines Publikums angepassten Weise befolgt werden. So gleicht etwa der ganztaktig voranschreitende Gang der Violinen und Oboen vom Beginn des Kopfsatzes, einem Cantus firmus, während das im Kanon der hohen und tiefe(re)n Streicher geführte Menuet seiner französischen Satzbezeichnung alle Ehre macht – erinnert es in puncto Melodieführung wie Klangfarbenkombination doch sehr an den Stil eines Jean-Philippe Rameau (1683-1764). So weit alles schön und gut. Zu einer durch und durch eigenständigen Hochform läuft der 29-jährige Haydn indes im Finale auf, welches dem Urteil James Websters zufolge als ein frühes Meisterwerk gelten dürfe, da es alles Vorangegangene «mit einer großartigen Synthese aus Fuge und Sonatenstil» übertrumpfe. Hervorhebenswert erscheint aber auch der dynamische Aufbau des Fugensatzes, dessen gesamte Exposition bis zum ersten Orchestertutti im Pianissimo gehalten ist, bevor es in einem Wechsel aus Forte- und Pianoblöcken und unter Beihilfe eines kurzen Orgelpunkts dem überaus wirkungsvollen Werkschluss entgegen geht.

James Webster: Hob.I:3 Symphonie in G-Dur. Informationstext zur Sinfonie Nr. 3 von Joseph Haydn im Rahmen des Projektes «Haydn 100&7» der Haydn-Festspiele Eisenstadt: http://www.haydn107.com/index.php?id=2&sym=3

Sinfonie Nr. 3
VOL. 6 _LAMENTATIONE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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4

SINFONIE NR. 4 D-Dur HOB. I:4 (1757-1760)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr:bis 1762 [1757/1760]

Presto / Andante / Finale. Tempo di Menuet

 

von Christian Moritz-Bauer

Die Sinfonie in D-Dur Hob. I:4 gehört zu jenen Kompositionen Joseph Haydns, die seiner Stellung als Kapellmeister bei Graf Karl Joseph Franz von Morzin im westböhmischen Dolní Lukavice (Unter-Lukawitz, südlich von Pilsen gelegen) zugeschrieben werden und von 1757 bis kurz vor Haydns Ruf nach Eisenstadt im Frühjahr 1761 gedauert haben dürfte. Zwar lautet ihre älteste mit einer (wahrscheinlich verlorengegangenen) Abschrift in Verbindung stehende Datierung auf 1762, doch konnte sie die Haydnforscherin Sonja Gerlach infolge ihrer chronologischen Untersuchungen im entstehungsgeschichtlich direkten Anschluss an die vier sogenannten «Erstlinge» – gemeint sind die Sinfonien Nr. 1, 37, 18 und 2 – einreihen. 1 (Bekannterweise geht die nach wie vor gebräuchliche traditionelle Nummerierung auf ein 1908 publiziertes Verzeichnis von Eusebius Mandyczewki für die von Breitkopf und Härtel begonnene Gesamtausgabe der sinfonischen Werke Haydns zurück, dem zwar in vielen Fällen eine nur unzureichende Reihung, dafür aber bereits eine einwandfreie Trennung von originalen wie unterschobenen Kompositionen gelungen war.)
Als Hauptquelle des nicht in der Eigenschrift des Komponisten erhalten gebliebenen Werks wird ein Stimmensatz aus der im ungarischen Keszthely aufbewahrten «Fürnberg-Sammlung» gewertet, wobei sich deren Name auf Karl Joseph Edler von Fürnberg bezieht, dessen Familienstammsitz sich einst in Schloss Weinzierl im niederösterreichischen Wieselburg an der Erlauf befand. Jedenfalls soll der Baron nicht nur den jungen Tonschöpfer an den befreundeten Morzin empfohlen, sondern im Laufe der kommenden Jahre auch eine Reihe an Musikhandschriften erworben haben, die für die Dokumentation von Haydns sinfonischem Frühwerk von besonderer Bedeutung ist.

Zu den Charakteristika der ersten Haydn-Sinfonien gehören neben der zumeist nur dreisätzigen Anlage oft ein Finale im 3/8-Takt, das im Fall von Hob. I:4 dann im Tempo di Menuet vorzutragen wäre, v.a. aber «schlanke Texturen, tadellose formale Logik [...] sowie eine überraschend kontrapunktisch gedachte Stimmführung, die sich gar gerne unter einer Fassade galanter Gesten versteckt hält». 2
Eben diese letztgenannten galanten Gesten sind es, die – gepaart mit einem tänzerischen «drive“ und prägnanten Horneinwürfen – das eröffnende Presto durchziehen. Besondere Beachtung gebührt auch dem kontrastierenden in der Molldominante angesiedelten Seitengedanken, vor allem aber – so James Webster 3 – jener «eindrucksvoll zweifach modulierten Crescendo-Sequenz sowie dem langen spannungsgeladenen Übergang» vom zweiten zum dritten «Hauptperioden» (um mit den zeitgenössischen Termini des Rudolstädter Musiktheoretikers Heinrich Christoph Koch zu operieren).

In eine geradezu befremdlich andere, uns aus den Alleinseins-Szenarien der L'isola disabitata-Ouvertüre sowie Haydns Vertonung des Petrarca-Sonetts «Solo e pensoso» vielleicht schon etwas vertraut gewordene Welt entführt das anschließende Andante mit unruhig gegeneinander verschobenem Grundrhythmus, über den sich eine «einsame» Kantilene der ersten Violinen erhebt und durch sein con sordino auszuführendes Klangbild eine mithin als «geisterhaft“ umschriebene Atmosphäre bewirkt. Jedenfalls vermag der Mittelsatz einen durchaus nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, durchzieht doch ein leiser Faden der Melancholie das bereits erwähnte, indes auch vergnügliche Züge annehmende Finale, welcher an einer Stelle sogar recht unüberhörbar hervor bricht, wenn nämlich «die vom Forte ins Piano und Pianissimo zurückgehende Dynamik, die plötzliche Wendung von D-Dur nach d-Moll, die stockende Melodik der Violinen und zuletzt das Hinzutreten der beiden Hörner mit einer lang gehaltenen Oktave» […] zur «Intensivierung des Orgelpunkts» beitragen. (Walter Lessing nimmt hier auf die gleichmäßig pochende Achtelbewegung der tiefen Streicher zu Beginn des zweiten Formabschnitts Bezug.) 4

Sonja Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in Haydn-Studien 7/1-2 (1996), S. 70ff.
Neal Zaslaw, Rezension „Joseph Haydn, The Morzin Symphonies 1758-1760, […] L'Estro Armonico, directed by Derek Solomons, in: Early Music, January 1983, S. 125.
James Webster, Joseph Haydn. Sinfonien für Graf Morzin, ca. 1757-60, in: Haydn Symphonies c. 1757-60 […] The Academy of Ancient Music, Christopher Hogwood, volume 1, London 1993, S. 49f.
Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Band I, Baden-Baden 1987, S. 16.

VOL. 3 _SOLO E PENSOSO

Giovanni Antonini, Francesca Aspromonte, Il Giardino Armonico

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5

SINFONIE NR. 5 A-DUR HOB. I:5 (1760/1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1762 [1760/1761]
6

SINFONIE NR. 6 D-DUR «LE MATIN» HOB. I:6 (Eisenstadt / Wien 1761)

Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, Hr, Str (mit Solo-Str)
Entstehungsjahr: bis 1733 [1761]

Adagio – Allegro / Adagio – Andante – Adagio / Menuet – Trio / Finale. Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

 

Der wenigstens auf Drey Jahr lang beschlossen[e] Dienstvertrag, den Joseph Haydn als frisch gebackener Vice – Capel – Meister am 1. Mai 1761 in den Räumen des Palais Esterházy in der Wallnerstraße zu Wien unterzeichnete, band ihn an insgesamt vierzehn mehr oder weniger streng formulierte Klauseln. Für ein Salär von 400 rheinischen Gulden verpflichtete er sich darin, Verantwortung für die gesamte esterházysche Musikpflege in Wien sowie den verschiedenen fürstlichen Herrschaften (mit Ausnahme der Chor – Musique in Eisenstadt) zu übernehmen und diese auf Verlangen Sr. Hochfürstl. Durchlaucht mit neuen Kompositionen zu versorgen. Weiterhin solle er […] all-täglich […] vor – und nach Mittag in der Anti – Chambre erscheinen, und sich melden lassen, allda die Hochfürstl. Ordre, ob eine Musique seyn solle? abwarthen.

Von einer Situation wie eben dieser scheint also die Rede zu sein, als Albert Christoph Dies im auf den 11. Mai 1805 datierten „Fünften Besuch“ seiner Biographischen Nachrichten von Joseph Haydn berichtet, wie jener einst von seinem Fürsten „die vier Tageszeiten zum Thema einer Komposition“ erhalten habe. Auch wenn es sich bei den daraus resultierenden Tonschöpfungen nicht um vier und schon gar nicht um solche „in Form von Quartetten“ handelte, so zählen sie doch ohne Zweifel zu den am häufigsten gespielten Frühwerken Haydns: Die Sinfonien Le Matin, Le Midi und Le Soir.

Während Le Midi sich in einem auf das Jahr 1761 datierten, in der persönlichen Sammlung des Komponisten zeitlebens wie einem Schatz gehüteten Autograph erhalten hat, sind im Fall seiner beiden Schwesternwerke nur Abschriften auf uns zugekommen, allerdings solche, die aufgrund ihrer einschlägigen, meist französisch gehaltenen Titel und ihrer kompositorischen Eigenarten keine Zweifel an der gemeinsamen zyklischen Zusammengehörigkeit aufkommen lassen.

Manch komponiertes Vorbild hat man im Laufe der Zeit an Haydns Tageszeiten-Sinfonien festzumachen versucht: Von der Thematik her betrachtet wäre da z. B. ein der Feder von Gregor Joseph Werner, seinem damaligen Vorgesetzten entstammender Neuer und sehr curios-Musicalischer Calender, Parthien-weiß mit 2 Violinen und Basso ò Cembalo in die zwölf Jahrs-Monat eingetheilet. Oder eine Serie aus vier Ballettmusiken – Le Matin, Le Midi, Le Soir und La Nuit betitelt, die „die Land-Beschäftigung und -Unterhaltung durch die vier Tags Zeiten“ zum Ausdruck bringen versuchten. Sie wurden dem Komponisten Joseph Starzer zugeschrieben und 1755 in Laxenburg choreographiert von Franz Anton Hilverding zur Aufführung gebracht. Zum absoluten Favoriten unter den tönenden Vorbildern der Haydnschen Triologie hat die über Musik schreibende Zunft allerdings Antonio Vivaldis Le quattro stagionibenannte Reihe aus vier Violinkonzerten deklariert, die dieser als Teil der Sammlung Il cimento dell’armonia e dell’inventione, seinem Opus 8, dem Grafen Wenzeslaus von Morzin gewidmet hatte. (Letzterer war übrigens ein Onkel zweiten Grades von Haydns erstem Dienstherren, Karl Joseph Franz von Morzin und Vivaldis Werksammlung zudem Teil des unter Paul Anton um das Jahr 1740 angelegten Thematischen Katalogs der fürstlich-esterházyschen Notenbestände gewesen).

Ein weiteres Diskussionsfeld setzt sich aus Fragen nach möglichen, (un)mittelbaren Anlässen zur Komposition, des dahin führenden Auftrags, sowie dem genauen Wann und Wo ihrer Uraufführung zusammen. Dazu ein paar Antworten, welche die bisherige Haydnforschung in weitgehend verlässlicher Form aus dem Dunkel der Vergangenheit zutage fördern konnte:
Die Tageszeiten-Sinfonien dürften tatsächlich in zeitlicher Nähe des Vertragsschlusses mit Haydn und weiterer Aufnahmen in die esterházysche Hofkapelle, wie etwa die des Flötisten und Oboisten Franz Sigl (7. Mai 1761) entstanden sein – den Untersuchungsergebnissen Sonja Gerlachs zufolge allerdings erst nach den Sinfonien Nr. 15 und 3, die beide schon bei Haydn2032 zu erleben waren1. Für einen entstehungszeitlichen Anhaltspunkt sorgt überdies eine von Karl Graf von Zinzendorf am Abend des 22. Mai 1761 besuchte musikalische Soirée im Palais Esterházy, bei der ein im Kopfsatz von Le Soir zitierter Gassenhauer „Je n'aimais pas le tabac beaucoup“ zum Vortrag kam. (Kein geringerer als Christoph Willibald Gluck hatte ihn zur Produktion einer Opéra comique namens Le Diable a quatre durch das Wiener Théâtre Français im Jahr 1759 komponiert, ein Kassenschlager, der erst wenige Wochen zuvor, am 11. April 1761 eine Wiederaufnahme bekommen sollte.) Hinzu kommt ein astronomisches Ereignis, das in aufklärerisch gebildeten Kreisen seinerzeit für reichlich Gesprächsstoff sorgte und der Hauptstadt des Habsburgerreiches in der Person des César François Cassini de Thury einen illustren Gast bescherte, der in den Wiener Adels-Salons jener Tage wie allgegenwärtig erschien: Die Venuspassage vom 6. Juni 1761. Ihre Beobachtung und gleichzeitige Vermessung von verschiedenen über den ganzen Globus verteilten Orten sollte der Wissenschaft Auskunft über den Abstand der Erde zur Sonne vermitteln, und schließlich – wenngleich erst in späteren Jahrhunderten – zur exakten Bestimmung der sogenannten Astronomischen Einheit führen. Da es auch in der Familiengeschichte der Esterházy ein geradezu dynastisches Interesse in puncto Sternenkunde zu verzeichnen gibt, könnte das besagte Himmelschauspiel durchaus mit in die Themenvorgabe hinein gespielt haben, zumal in der Person Paul Antons ein ehemaliger Student der Universität Leiden2 den Auftrag zur Komposition der Tageszeiten erteilte. Sie, so Elaine Sisman, wäre nämlich nicht allein dem damals in Schrift und Bild weit verbreiteten Motiv des einfachen ländlichen vom Rhythmus der Natur abhängigen Lebens, sondern ganz konkret dem tageszeitlichen Verlauf der Sonnenbahn bzw. dem Stand unseres Licht und Wärme spendenden Himmelskörpers, am Morgen, zu Mittag und am Abend gewidmet: „Haydns Sonne“, mit der die Musik ganz programmatisch beginnt, „beleuchtet die Welten von Wissenschaft und Religion sowie Natur und Kunst.“3

Von den drei Sonnenaufgängen aus Haydns kompositorischem Œuvre stellt derjenige aus Le Matin das mit Abstand jüngste Beispiel dar. Wie seine Vergleichsmomente aus der Schöpfung (UA: 30. April 1798; Instrumentalvorspiel zum Rezitativ des Uriel „In vollem Glanze steiget jetzt die Sonne strahlend auf“) und Die Jahreszeiten (UA: 24. April 1801; „Sie steigt herauf, die Sonne“, Chor mit Soli aus „Der Sommer“) so steht auch er in D-Dur (hier wie in der Schöpfung sogar auf einem einzelnen, unbegleiteten Ton D beginnend), arbeitet eine aufsteigende Notenskala heraus und kadenziert zum dynamischen Höhepunkt auf der Dominante.

Dass Paul II. Anton nicht nur ein leidenschaftlicher Liebhaber der Musik – und zwar in beiden seinerzeit führenden nationalstilistischen Ausprägungen, der italienischen wie der französischen – sondern auch ein Flötist von beachtlicher Begabung war, galt seinem gesellschaftlichen Umfeld als offenes Geheimnis. So erklärt sich auch der für Haydns sinfonisches Frühwerk durchaus untypische Beginn des auf den Sonnenaufgang folgenden Allegros: Im Piano erklingt der (bald von den Oboen imitierte) Weckgesang der Flöte, auf den sich die Natur in abwechselnden Forte- und Piano-Abschnitten zu regen beginnt. Wenn schließlich anstelle des erwarteten Eintritts der Reprise die Hörner mit lautschallendem Unisono dem Flötenthema um zwei Takte vorauseilen, so ist dies gewiss als Anspielung auf eine andere große Leidenschaft zu verstehen, die hier mit dem Fürsten „durchzugehen“ scheint: die Jagd, natürlich...

Vom folgenden, durch ein kurzes Adagio gerahmten Andante lesen wir bei Hermann Kretzschmar, dass es sich dabei um die Parodie einer morgendlichen Solmisationsstunde nebst folgender, humorvoller Anspielungen auf schulmeisterliche Kunstfertigkeiten handeln solle.4 Sisman widerspricht dem entschieden und erkennt hierin das Auf- und Absteigen weiterer, die Morgensonne begleitender Himmelskörper wie etwa der Mond oder die bereits erwähnte Venus: „Der Morgen hat die Verbannung der Nacht zur Folge, eine Wende von Diana zu Aurora, die die zunehmende Irrelevanz des Mondes offenbart – selbst wenn er in der Regel noch im Morgengrauen am Himmel gegenwärtig ist.“5 In diesem Sinn wäre das Bild des Gesangslehrers wohl in das des Helios (oder seines Nachfolgers Apollon) mit dem von Horen begleiteten Sonnenwagen abzuändern, eine mythologische Gestalt, die die Fürsten Esterházy, zur ikonographischen Überhöhung ihrer selbst, wiederholt auf den Deckenfresken ihrer prachtvollen Schlossbauten anbringen ließen.

Nachdem die Mondwolken vertrieben sind, macht ein Menuett von sich hören, in dem sich die Sonne als Tanzmeisterin hervortut. Zu den Solisten am Parkett zählen abermals die Flöte, dazu die Oboen, das Fagott und schließlich im Trio die Viola wie erstmals im vorliegenden Zyklus der fünfsaitige Violone, auch Wiener Quart-Terz-Violon genannt. Den Finalsatz, ein Allegro, hat H. C. Robbins Landon einst mit der treffenden Metapher „Neuer Wein in alte Flaschen gegossen“ bedacht und meint damit, dass hier das kompositorische Prinzip des Concerto grosso – die Flöte, das Violoncello, ja selbst beide Hörner, vor allem aber der von Haydn persönlich übernommene Part des Violino principale werden mit solistischen Aufgaben bedacht – mit neuem Leben erfüllt erscheint.6

In Achtung des einst von Peter Gülke vorgebrachten Einwands in Bezug auf die mannigfaltigen Deutungsversuche von Haydns Tageszeiten – „er leiht sich den Anschein des ganz und gar Programmatischen und schreibt [doch] Musik von so autonomer Struktur, dass es des Anhalts an Vorstellungen, wie sie die Titel vorgaben, eigentlich nicht bedarf“7 – sind wir mit unseren Betrachtungen bei Le Midi angekommen, dem einzigen Werk des heute erklingenden Zyklus, von dem die Eigenschrift des Komponisten erhalten geblieben ist.

Mit seiner von großer Geste bewegten langsamen Einleitung, aus der französischen Ouvertüre entlehnten markanten Punktierungen und breit aufgefächertem zwölfstimmigen Partiturbild vermag der Kopfsatz der C-Dur-Sinfonie durchaus die Vorstellung eines prächtigen Mittagsmahls mit begleitender Tafelmusik evozieren. Letzteres „bestätigt“ sich gewissermaßen im anschließenden Allegro durch seine von rauschender Sechzehntelbewegung ummalten konzertierenden Alleingänge zweier Soloviolinen, eines Solocellos, sowie beider Oboen und des Fagotts auf Seite der Blasinstrumente. Doch mit einem Male schlägt sie um, die festliche Stimmung. Sollte die nun folgende Satzkombination aus düster hereinbrechendem Instrumentalrezitativ und „befreiendem“ Übergang in einen „reich figurierten Zwiegesang zwischen einer Solovioline und einem Solocello“8 samt auskomponierter Kadenz tatsächlich als Parodie eines „nach dem Mahle“9 veranstalteten Mittagskonzert zu verstehen sein, so hätte man dem Publikum daraufhin wohl einst eine kräftige Verdauungshilfe reichen müssen. Lukas Haselböck10 und abermals Elaine Sisman haben jedenfalls eine andere alternative Lesart anzubieten: Sie lehnt sich an den ersten Satz des Konzerts L'estate („Der Sommer“) aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, mit dem der Rezitativ-Satz der Haydn-Sinfonie eine „unheimliche Ähnlichkeit“11 aufzuweisen habe. Beide würden sie einer in der antiken Dichtkunst verwurzelten Erzähltradition folgen, nach der der Mittag jene Stunde darstelle, in der „mit oft katastrophalen Folgen“ Götter für Menschen sichtbar werden und letztere eine Zuflucht aufsuchen, wenn „Licht, Hitze, […] Stille und Stillstand zu bedrückend werden.“ Eben dieser Ort, „der schattige Hain, das von plätschernden Flussläufen und frischen Brisen durchzogene Tal erscheint im nachfolgenden Adagio […] dank seiner murmelnden, in Terzen geführten Flöten umso lebhafter“12, und bereiten den Protagonisten, Violine und Violoncello, eine pastoral anmutende Szenerie. So erscheint es auch absolut passend, wenn das nun folgende Menuett sich eher rustikal als höfisch gibt, während der Schlusssatz sich abermals der kunstvollen Kombination aus Sinfonie- und Konzertsatz hingibt, wobei der besondere klangliche Reiz dieses Allegros aus der kontrastreichen Gegenüberstellung der Violini concertatimit dem wieder auf ein Instrument reduzierten Flötenpart herrührt.

Mit Le Soir und seinem sich über das gesamte Thema des Kopfsatzes hinweg bewegenden, zu guter Letzt gar im Kanon geführten Zitat des Gluckschen Tabaklieds aus Le Diable a quatre – der Name selbiger Opéra comique steht im Französischen für einen turbulenten Charakter, der viel Lärm macht und Unordnung verursacht – kehren wir zurück zu der Frage nach der Idee, die ursprünglich hinter dem Auftrag zur Komposition der sog. Tageszeiten-Sinfonien gestanden haben könnte. Daniel Heartz, der Finder des Gluck-Zitats, hat – davon ausgehend, dass Haydn einst seitens seines Dienstherren über dessen besondere, diesbezügliche Vorliebe bestens informiert gewesen war – dazu folgende These entwickelt:

Wie der Hochadel um Maria Theresia überhaupt im Zeichen französischer Kultur stand, so auch Fürst Anton Esterházy, der Paris kannte und der für sich eine Bibliothek französischer Bücher, Partituren und Bilder eingerichtet hatte, die laufend mit den letzten Neuerscheinungen aus Paris beliefert wurde, im Jahre 1761 z. B. mit Rousseaus (in Österreich verbotenen!) Schriften. Die Vermutung, dass er auch mit den Arbeiten François Bouchers, die damals hoch im Kurs standen, vertraut war, liegt nicht fern. Eine Bilderserie Die Tagesstunden im Leben einer Dame galante malte Boucher im Auftrag des Schwedischen Gesandten in Paris im Jahr 1745. Eine andere Serie, Points du Jour, enthält ein Bild namens Le Soir mit dem Untertitel La Dame allant au Bal, das Ganze von einem kommentierenden Vers begleitet.
Hat diese modische Dame vielleicht sogar Modell gestanden für Margot? Margot, die ausgeht in der Absicht zu tanzen und – anstelle des Versleins im Bilde – ihr Tabaklied zum Besten gibt. Am Ende […] erinnern wir daran, dass Haydn seine Abendsinfonie mit La Tempesta beschließt. Die Hintergründe erscheinen vieldeutig: Ist es ein Gewitter, wie es die schlimme Marquise, Margots Gegenspielerin, heraufbeschwört? Ist es der Himmel, der sich im Gewitter zusammenballt – als bewegter Ausklang am Tagesende?13

Die Vorstellung einer abendlichen, sich am Gesang, an der Schönheit des Sonnenuntergangs, am Tanz und der Behaglichkeit einer vor den abendlichen Wetterkapriolen eines heißen Sommertags schützenden Behausung erfreuenden Gesellschaft – sie könnte durchaus jenen Gedanken entsprochen haben, die Haydn einst bei seiner kompositorischen Arbeit an Hob. I:8 im Kopf herumgingen. Vielleicht wäre hier noch anzumerken, wie der Komponist im Finalsatz von Le Soir auf geniale Weise mit den überlieferten Topoi von Sturm- und Gewittermusiken umzugehen pflegt: Wider Erwarten zeigt er sich in der Verwendung der selbigen nämlich ausgesprochen umsichtig, stets darauf bedacht den Solisten seines Instrumentalensembles alle nur denkbaren Freiräume zur Präsentation ihrer virtuosen Musizierkünste zu ermöglichen.

In Giuseppe Carpanis Biographie Le Haydine lesen wir gar von einer weiteren bereits zu Paul Antons Geburtstag am 22. April 1761 verfertigten „solennen“ Sinfonie, hinter der Daniel Heartz die C-Dur-Sinfonie Hob. I:25 vermutet.
Im niederländischen Leiden würde 1633 die erste Universitätssternwarte der Welt eröffnet.
Elaine Sisman, „Haydn's Solar Poetics The Tageszeiten Symphonies and Enlightenment Knowledge“, in: Journal of the American Musicological Society, Bd. 66, Nr. 1 (Spring 2013), S 5-102, hier S. 91.
Vgl. Hermann Kretzschmar, „Die Jugendsinfonien Joseph Haydns“, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, 15. Jg, 1908, S. 69-90, hier S. 84.
Sisman, S. 55.
H.C. Robbins Landon, Haydn: Chronicle and Works, Bd. 1, Haydn: The Early Years: 1732-1765, London 1980, S. 556.
Peter Gülke, „Haydns »Tageszeiten«-Sinfonien“, in: Ders., Die Sprache der Musik. Essays zur Musik von Bach bis Holliger, Stuttgart, Weimar, Kassel 2011, S. 170-175, hier S. 170f.
Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Bd. 1, Baden-Baden 1987, S. 36.
Jürgen Braun, Sonja Gerlach: Sinfonien 1761 bis 1763. In: Joseph Haydn-Institut Köln (Hg.): Joseph Haydn Werke. Reihe I, Bd. 3, München 1990, Seite VIII.
10 Lukas Haselböck, „Vivaldis Le quattro stagioni und Haydns Tageszeiten-Sinfonien“, in: Laurine Quetin, Gerold W. Gruber und Albert Gier (Hg.), Joseph Haydn und Europa vom Absolutismus zur Aufklärung (= Musicorum 7), Tours 2009, S. 183-192.
11 Sisman, S. 61.
12 Sisman, S. 66.
13 Daniel Heartz, „Haydn und Gluck im Burgtheater um 1760: Der neue krumme Teufel, Le Diable à quatre und die Sinfonie „Le soir“, in: Gesellschaft für Musikforschung. Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bayreuth 1981, hg. von Christoph-Hellmut Mahling und Sigrid Wiesmann, Kassel 1984, S. 120-135, hier: S. 132 & 135.

Sinfonie Nr. 6 "Le Matin"
VOL. 10 _LES HEURES DU JOUR

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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7

SINFONIE NR. 7 C-DUR «LE MIDI» HOB. I:7 (Eisenstadt / Wien 1761)

Besetzung: Fl, 2 Ob/2Fl, Fg, 2 Hr, Str (mit Solo-Str)
Entstehungsjahr: 1761

Adagio – Allegro / Recitativo. Adagio – Allegro – Adagio / [Duetto.] Adagio / [Menuet] – Trio / Finale. Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

Der wenigstens auf Drey Jahr lang beschlossen[e] Dienstvertrag, den Joseph Haydn als frisch gebackener Vice – Capel – Meister am 1. Mai 1761 in den Räumen des Palais Esterházy in der Wallnerstraße zu Wien unterzeichnete, band ihn an insgesamt vierzehn mehr oder weniger streng formulierte Klauseln. Für ein Salär von 400 rheinischen Gulden verpflichtete er sich darin, Verantwortung für die gesamte esterházysche Musikpflege in Wien sowie den verschiedenen fürstlichen Herrschaften (mit Ausnahme der Chor – Musique in Eisenstadt) zu übernehmen und diese auf Verlangen Sr. Hochfürstl. Durchlaucht mit neuen Kompositionen zu versorgen. Weiterhin solle er […] all-täglich […] vor – und nach Mittag in der Anti – Chambre erscheinen, und sich melden lassen, allda die Hochfürstl. Ordre, ob eine Musique seyn solle? abwarthen.

Von einer Situation wie eben dieser scheint also die Rede zu sein, als Albert Christoph Dies im auf den 11. Mai 1805 datierten „Fünften Besuch“ seiner Biographischen Nachrichten von Joseph Haydn berichtet, wie jener einst von seinem Fürsten „die vier Tageszeiten zum Thema einer Komposition“ erhalten habe. Auch wenn es sich bei den daraus resultierenden Tonschöpfungen nicht um vier und schon gar nicht um solche „in Form von Quartetten“ handelte, so zählen sie doch ohne Zweifel zu den am häufigsten gespielten Frühwerken Haydns: Die Sinfonien Le Matin, Le Midi und Le Soir.

Während Le Midi sich in einem auf das Jahr 1761 datierten, in der persönlichen Sammlung des Komponisten zeitlebens wie einem Schatz gehüteten Autograph erhalten hat, sind im Fall seiner beiden Schwesternwerke nur Abschriften auf uns zugekommen, allerdings solche, die aufgrund ihrer einschlägigen, meist französisch gehaltenen Titel und ihrer kompositorischen Eigenarten keine Zweifel an der gemeinsamen zyklischen Zusammengehörigkeit aufkommen lassen.

Manch komponiertes Vorbild hat man im Laufe der Zeit an Haydns Tageszeiten-Sinfonien festzumachen versucht: Von der Thematik her betrachtet wäre da z. B. ein der Feder von Gregor Joseph Werner, seinem damaligen Vorgesetzten entstammender Neuer und sehr curios-Musicalischer Calender, Parthien-weiß mit 2 Violinen und Basso ò Cembalo in die zwölf Jahrs-Monat eingetheilet. Oder eine Serie aus vier Ballettmusiken – Le Matin, Le Midi, Le Soir und La Nuit betitelt, die „die Land-Beschäftigung und -Unterhaltung durch die vier Tags Zeiten“ zum Ausdruck bringen versuchten. Sie wurden dem Komponisten Joseph Starzer zugeschrieben und 1755 in Laxenburg choreographiert von Franz Anton Hilverding zur Aufführung gebracht. Zum absoluten Favoriten unter den tönenden Vorbildern der Haydnschen Triologie hat die über Musik schreibende Zunft allerdings Antonio Vivaldis Le quattro stagionibenannte Reihe aus vier Violinkonzerten deklariert, die dieser als Teil der Sammlung Il cimento dell’armonia e dell’inventione, seinem Opus 8, dem Grafen Wenzeslaus von Morzin gewidmet hatte. (Letzterer war übrigens ein Onkel zweiten Grades von Haydns erstem Dienstherren, Karl Joseph Franz von Morzin und Vivaldis Werksammlung zudem Teil des unter Paul Anton um das Jahr 1740 angelegten Thematischen Katalogs der fürstlich-esterházyschen Notenbestände gewesen).

Ein weiteres Diskussionsfeld setzt sich aus Fragen nach möglichen, (un)mittelbaren Anlässen zur Komposition, des dahin führenden Auftrags, sowie dem genauen Wann und Wo ihrer Uraufführung zusammen. Dazu ein paar Antworten, welche die bisherige Haydnforschung in weitgehend verlässlicher Form aus dem Dunkel der Vergangenheit zutage fördern konnte:
Die Tageszeiten-Sinfonien dürften tatsächlich in zeitlicher Nähe des Vertragsschlusses mit Haydn und weiterer Aufnahmen in die esterházysche Hofkapelle, wie etwa die des Flötisten und Oboisten Franz Sigl (7. Mai 1761) entstanden sein – den Untersuchungsergebnissen Sonja Gerlachs zufolge allerdings erst nach den Sinfonien Nr. 15 und 3, die beide schon bei Haydn2032 zu erleben waren1. Für einen entstehungszeitlichen Anhaltspunkt sorgt überdies eine von Karl Graf von Zinzendorf am Abend des 22. Mai 1761 besuchte musikalische Soirée im Palais Esterházy, bei der ein im Kopfsatz von Le Soir zitierter Gassenhauer „Je n'aimais pas le tabac beaucoup“ zum Vortrag kam. (Kein geringerer als Christoph Willibald Gluck hatte ihn zur Produktion einer Opéra comique namens Le Diable a quatre durch das Wiener Théâtre Français im Jahr 1759 komponiert, ein Kassenschlager, der erst wenige Wochen zuvor, am 11. April 1761 eine Wiederaufnahme bekommen sollte.) Hinzu kommt ein astronomisches Ereignis, das in aufklärerisch gebildeten Kreisen seinerzeit für reichlich Gesprächsstoff sorgte und der Hauptstadt des Habsburgerreiches in der Person des César François Cassini de Thury einen illustren Gast bescherte, der in den Wiener Adels-Salons jener Tage wie allgegenwärtig erschien: Die Venuspassage vom 6. Juni 1761. Ihre Beobachtung und gleichzeitige Vermessung von verschiedenen über den ganzen Globus verteilten Orten sollte der Wissenschaft Auskunft über den Abstand der Erde zur Sonne vermitteln, und schließlich – wenngleich erst in späteren Jahrhunderten – zur exakten Bestimmung der sogenannten Astronomischen Einheit führen. Da es auch in der Familiengeschichte der Esterházy ein geradezu dynastisches Interesse in puncto Sternenkunde zu verzeichnen gibt, könnte das besagte Himmelschauspiel durchaus mit in die Themenvorgabe hinein gespielt haben, zumal in der Person Paul Antons ein ehemaliger Student der Universität Leiden2 den Auftrag zur Komposition der Tageszeiten erteilte. Sie, so Elaine Sisman, wäre nämlich nicht allein dem damals in Schrift und Bild weit verbreiteten Motiv des einfachen ländlichen vom Rhythmus der Natur abhängigen Lebens, sondern ganz konkret dem tageszeitlichen Verlauf der Sonnenbahn bzw. dem Stand unseres Licht und Wärme spendenden Himmelskörpers, am Morgen, zu Mittag und am Abend gewidmet: „Haydns Sonne“, mit der die Musik ganz programmatisch beginnt, „beleuchtet die Welten von Wissenschaft und Religion sowie Natur und Kunst.“3

Von den drei Sonnenaufgängen aus Haydns kompositorischem Œuvre stellt derjenige aus Le Matin das mit Abstand jüngste Beispiel dar. Wie seine Vergleichsmomente aus der Schöpfung (UA: 30. April 1798; Instrumentalvorspiel zum Rezitativ des Uriel „In vollem Glanze steiget jetzt die Sonne strahlend auf“) und Die Jahreszeiten (UA: 24. April 1801; „Sie steigt herauf, die Sonne“, Chor mit Soli aus „Der Sommer“) so steht auch er in D-Dur (hier wie in der Schöpfung sogar auf einem einzelnen, unbegleiteten Ton D beginnend), arbeitet eine aufsteigende Notenskala heraus und kadenziert zum dynamischen Höhepunkt auf der Dominante.

Dass Paul II. Anton nicht nur ein leidenschaftlicher Liebhaber der Musik – und zwar in beiden seinerzeit führenden nationalstilistischen Ausprägungen, der italienischen wie der französischen – sondern auch ein Flötist von beachtlicher Begabung war, galt seinem gesellschaftlichen Umfeld als offenes Geheimnis. So erklärt sich auch der für Haydns sinfonisches Frühwerk durchaus untypische Beginn des auf den Sonnenaufgang folgenden Allegros: Im Piano erklingt der (bald von den Oboen imitierte) Weckgesang der Flöte, auf den sich die Natur in abwechselnden Forte- und Piano-Abschnitten zu regen beginnt. Wenn schließlich anstelle des erwarteten Eintritts der Reprise die Hörner mit lautschallendem Unisono dem Flötenthema um zwei Takte vorauseilen, so ist dies gewiss als Anspielung auf eine andere große Leidenschaft zu verstehen, die hier mit dem Fürsten „durchzugehen“ scheint: die Jagd, natürlich...

Vom folgenden, durch ein kurzes Adagio gerahmten Andante lesen wir bei Hermann Kretzschmar, dass es sich dabei um die Parodie einer morgendlichen Solmisationsstunde nebst folgender, humorvoller Anspielungen auf schulmeisterliche Kunstfertigkeiten handeln solle.4 Sisman widerspricht dem entschieden und erkennt hierin das Auf- und Absteigen weiterer, die Morgensonne begleitender Himmelskörper wie etwa der Mond oder die bereits erwähnte Venus: „Der Morgen hat die Verbannung der Nacht zur Folge, eine Wende von Diana zu Aurora, die die zunehmende Irrelevanz des Mondes offenbart – selbst wenn er in der Regel noch im Morgengrauen am Himmel gegenwärtig ist.“5 In diesem Sinn wäre das Bild des Gesangslehrers wohl in das des Helios (oder seines Nachfolgers Apollon) mit dem von Horen begleiteten Sonnenwagen abzuändern, eine mythologische Gestalt, die die Fürsten Esterházy, zur ikonographischen Überhöhung ihrer selbst, wiederholt auf den Deckenfresken ihrer prachtvollen Schlossbauten anbringen ließen.

Nachdem die Mondwolken vertrieben sind, macht ein Menuett von sich hören, in dem sich die Sonne als Tanzmeisterin hervortut. Zu den Solisten am Parkett zählen abermals die Flöte, dazu die Oboen, das Fagott und schließlich im Trio die Viola wie erstmals im vorliegenden Zyklus der fünfsaitige Violone, auch Wiener Quart-Terz-Violon genannt. Den Finalsatz, ein Allegro, hat H. C. Robbins Landon einst mit der treffenden Metapher „Neuer Wein in alte Flaschen gegossen“ bedacht und meint damit, dass hier das kompositorische Prinzip des Concerto grosso – die Flöte, das Violoncello, ja selbst beide Hörner, vor allem aber der von Haydn persönlich übernommene Part des Violino principale werden mit solistischen Aufgaben bedacht – mit neuem Leben erfüllt erscheint.6

In Achtung des einst von Peter Gülke vorgebrachten Einwands in Bezug auf die mannigfaltigen Deutungsversuche von Haydns Tageszeiten – „er leiht sich den Anschein des ganz und gar Programmatischen und schreibt [doch] Musik von so autonomer Struktur, dass es des Anhalts an Vorstellungen, wie sie die Titel vorgaben, eigentlich nicht bedarf“7 – sind wir mit unseren Betrachtungen bei Le Midi angekommen, dem einzigen Werk des heute erklingenden Zyklus, von dem die Eigenschrift des Komponisten erhalten geblieben ist.

Mit seiner von großer Geste bewegten langsamen Einleitung, aus der französischen Ouvertüre entlehnten markanten Punktierungen und breit aufgefächertem zwölfstimmigen Partiturbild vermag der Kopfsatz der C-Dur-Sinfonie durchaus die Vorstellung eines prächtigen Mittagsmahls mit begleitender Tafelmusik evozieren. Letzteres „bestätigt“ sich gewissermaßen im anschließenden Allegro durch seine von rauschender Sechzehntelbewegung ummalten konzertierenden Alleingänge zweier Soloviolinen, eines Solocellos, sowie beider Oboen und des Fagotts auf Seite der Blasinstrumente. Doch mit einem Male schlägt sie um, die festliche Stimmung. Sollte die nun folgende Satzkombination aus düster hereinbrechendem Instrumentalrezitativ und „befreiendem“ Übergang in einen „reich figurierten Zwiegesang zwischen einer Solovioline und einem Solocello“8 samt auskomponierter Kadenz tatsächlich als Parodie eines „nach dem Mahle“9 veranstalteten Mittagskonzert zu verstehen sein, so hätte man dem Publikum daraufhin wohl einst eine kräftige Verdauungshilfe reichen müssen. Lukas Haselböck10 und abermals Elaine Sisman haben jedenfalls eine andere alternative Lesart anzubieten: Sie lehnt sich an den ersten Satz des Konzerts L'estate („Der Sommer“) aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, mit dem der Rezitativ-Satz der Haydn-Sinfonie eine „unheimliche Ähnlichkeit“11 aufzuweisen habe. Beide würden sie einer in der antiken Dichtkunst verwurzelten Erzähltradition folgen, nach der der Mittag jene Stunde darstelle, in der „mit oft katastrophalen Folgen“ Götter für Menschen sichtbar werden und letztere eine Zuflucht aufsuchen, wenn „Licht, Hitze, […] Stille und Stillstand zu bedrückend werden.“ Eben dieser Ort, „der schattige Hain, das von plätschernden Flussläufen und frischen Brisen durchzogene Tal erscheint im nachfolgenden Adagio […] dank seiner murmelnden, in Terzen geführten Flöten umso lebhafter“12, und bereiten den Protagonisten, Violine und Violoncello, eine pastoral anmutende Szenerie. So erscheint es auch absolut passend, wenn das nun folgende Menuett sich eher rustikal als höfisch gibt, während der Schlusssatz sich abermals der kunstvollen Kombination aus Sinfonie- und Konzertsatz hingibt, wobei der besondere klangliche Reiz dieses Allegros aus der kontrastreichen Gegenüberstellung der Violini concertatimit dem wieder auf ein Instrument reduzierten Flötenpart herrührt.

Mit Le Soir und seinem sich über das gesamte Thema des Kopfsatzes hinweg bewegenden, zu guter Letzt gar im Kanon geführten Zitat des Gluckschen Tabaklieds aus Le Diable a quatre – der Name selbiger Opéra comique steht im Französischen für einen turbulenten Charakter, der viel Lärm macht und Unordnung verursacht – kehren wir zurück zu der Frage nach der Idee, die ursprünglich hinter dem Auftrag zur Komposition der sog. Tageszeiten-Sinfonien gestanden haben könnte. Daniel Heartz, der Finder des Gluck-Zitats, hat – davon ausgehend, dass Haydn einst seitens seines Dienstherren über dessen besondere, diesbezügliche Vorliebe bestens informiert gewesen war – dazu folgende These entwickelt:

Wie der Hochadel um Maria Theresia überhaupt im Zeichen französischer Kultur stand, so auch Fürst Anton Esterházy, der Paris kannte und der für sich eine Bibliothek französischer Bücher, Partituren und Bilder eingerichtet hatte, die laufend mit den letzten Neuerscheinungen aus Paris beliefert wurde, im Jahre 1761 z. B. mit Rousseaus (in Österreich verbotenen!) Schriften. Die Vermutung, dass er auch mit den Arbeiten François Bouchers, die damals hoch im Kurs standen, vertraut war, liegt nicht fern. Eine Bilderserie Die Tagesstunden im Leben einer Dame galante malte Boucher im Auftrag des Schwedischen Gesandten in Paris im Jahr 1745. Eine andere Serie, Points du Jour, enthält ein Bild namens Le Soir mit dem Untertitel La Dame allant au Bal, das Ganze von einem kommentierenden Vers begleitet.
Hat diese modische Dame vielleicht sogar Modell gestanden für Margot? Margot, die ausgeht in der Absicht zu tanzen und – anstelle des Versleins im Bilde – ihr Tabaklied zum Besten gibt. Am Ende […] erinnern wir daran, dass Haydn seine Abendsinfonie mit La Tempesta beschließt. Die Hintergründe erscheinen vieldeutig: Ist es ein Gewitter, wie es die schlimme Marquise, Margots Gegenspielerin, heraufbeschwört? Ist es der Himmel, der sich im Gewitter zusammenballt – als bewegter Ausklang am Tagesende?13

Die Vorstellung einer abendlichen, sich am Gesang, an der Schönheit des Sonnenuntergangs, am Tanz und der Behaglichkeit einer vor den abendlichen Wetterkapriolen eines heißen Sommertags schützenden Behausung erfreuenden Gesellschaft – sie könnte durchaus jenen Gedanken entsprochen haben, die Haydn einst bei seiner kompositorischen Arbeit an Hob. I:8 im Kopf herumgingen. Vielleicht wäre hier noch anzumerken, wie der Komponist im Finalsatz von Le Soir auf geniale Weise mit den überlieferten Topoi von Sturm- und Gewittermusiken umzugehen pflegt: Wider Erwarten zeigt er sich in der Verwendung der selbigen nämlich ausgesprochen umsichtig, stets darauf bedacht den Solisten seines Instrumentalensembles alle nur denkbaren Freiräume zur Präsentation ihrer virtuosen Musizierkünste zu ermöglichen.

In Giuseppe Carpanis Biographie Le Haydine lesen wir gar von einer weiteren bereits zu Paul Antons Geburtstag am 22. April 1761 verfertigten „solennen“ Sinfonie, hinter der Daniel Heartz die C-Dur-Sinfonie Hob. I:25 vermutet.
Im niederländischen Leiden würde 1633 die erste Universitätssternwarte der Welt eröffnet.
Elaine Sisman, „Haydn's Solar Poetics The Tageszeiten Symphonies and Enlightenment Knowledge“, in: Journal of the American Musicological Society, Bd. 66, Nr. 1 (Spring 2013), S 5-102, hier S. 91.
Vgl. Hermann Kretzschmar, „Die Jugendsinfonien Joseph Haydns“, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, 15. Jg, 1908, S. 69-90, hier S. 84.
Sisman, S. 55.
H.C. Robbins Landon, Haydn: Chronicle and Works, Bd. 1, Haydn: The Early Years: 1732-1765, London 1980, S. 556.
Peter Gülke, „Haydns »Tageszeiten«-Sinfonien“, in: Ders., Die Sprache der Musik. Essays zur Musik von Bach bis Holliger, Stuttgart, Weimar, Kassel 2011, S. 170-175, hier S. 170f.
Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Bd. 1, Baden-Baden 1987, S. 36.
Jürgen Braun, Sonja Gerlach: Sinfonien 1761 bis 1763. In: Joseph Haydn-Institut Köln (Hg.): Joseph Haydn Werke. Reihe I, Bd. 3, München 1990, Seite VIII.
10 Lukas Haselböck, „Vivaldis Le quattro stagioni und Haydns Tageszeiten-Sinfonien“, in: Laurine Quetin, Gerold W. Gruber und Albert Gier (Hg.), Joseph Haydn und Europa vom Absolutismus zur Aufklärung (= Musicorum 7), Tours 2009, S. 183-192.
11 Sisman, S. 61.
12 Sisman, S. 66.
13 Daniel Heartz, „Haydn und Gluck im Burgtheater um 1760: Der neue krumme Teufel, Le Diable à quatre und die Sinfonie „Le soir“, in: Gesellschaft für Musikforschung. Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bayreuth 1981, hg. von Christoph-Hellmut Mahling und Sigrid Wiesmann, Kassel 1984, S. 120-135, hier: S. 132 & 135.

Sinfonie Nr. 7 "Le Midi"
VOL. 10 _LES HEURES DU JOUR

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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8

SINFONIE NR. 8 G-DUR «LE SOIR» HOB. I:8 (Eisenstadt / Wien 1761)

Besetzung: Fl, 2 Ob/2Fl, Fg, 2 Hr, Str (mit Solo-Str)
Entstehungsjahr: bis 1767 [1761]

Allegro molto / Andante / Menuet – Trio / La Tempesta. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Der wenigstens auf Drey Jahr lang beschlossen[e] Dienstvertrag, den Joseph Haydn als frisch gebackener Vice – Capel – Meister am 1. Mai 1761 in den Räumen des Palais Esterházy in der Wallnerstraße zu Wien unterzeichnete, band ihn an insgesamt vierzehn mehr oder weniger streng formulierte Klauseln. Für ein Salär von 400 rheinischen Gulden verpflichtete er sich darin, Verantwortung für die gesamte esterházysche Musikpflege in Wien sowie den verschiedenen fürstlichen Herrschaften (mit Ausnahme der Chor – Musique in Eisenstadt) zu übernehmen und diese auf Verlangen Sr. Hochfürstl. Durchlaucht mit neuen Kompositionen zu versorgen. Weiterhin solle er […] all-täglich […] vor – und nach Mittag in der Anti – Chambre erscheinen, und sich melden lassen, allda die Hochfürstl. Ordre, ob eine Musique seyn solle? abwarthen.

Von einer Situation wie eben dieser scheint also die Rede zu sein, als Albert Christoph Dies im auf den 11. Mai 1805 datierten „Fünften Besuch“ seiner Biographischen Nachrichten von Joseph Haydn berichtet, wie jener einst von seinem Fürsten „die vier Tageszeiten zum Thema einer Komposition“ erhalten habe. Auch wenn es sich bei den daraus resultierenden Tonschöpfungen nicht um vier und schon gar nicht um solche „in Form von Quartetten“ handelte, so zählen sie doch ohne Zweifel zu den am häufigsten gespielten Frühwerken Haydns: Die Sinfonien Le Matin, Le Midi und Le Soir.

Während Le Midi sich in einem auf das Jahr 1761 datierten, in der persönlichen Sammlung des Komponisten zeitlebens wie einem Schatz gehüteten Autograph erhalten hat, sind im Fall seiner beiden Schwesternwerke nur Abschriften auf uns zugekommen, allerdings solche, die aufgrund ihrer einschlägigen, meist französisch gehaltenen Titel und ihrer kompositorischen Eigenarten keine Zweifel an der gemeinsamen zyklischen Zusammengehörigkeit aufkommen lassen.

Manch komponiertes Vorbild hat man im Laufe der Zeit an Haydns Tageszeiten-Sinfonien festzumachen versucht: Von der Thematik her betrachtet wäre da z. B. ein der Feder von Gregor Joseph Werner, seinem damaligen Vorgesetzten entstammender Neuer und sehr curios-Musicalischer Calender, Parthien-weiß mit 2 Violinen und Basso ò Cembalo in die zwölf Jahrs-Monat eingetheilet. Oder eine Serie aus vier Ballettmusiken – Le Matin, Le Midi, Le Soir und La Nuit betitelt, die „die Land-Beschäftigung und -Unterhaltung durch die vier Tags Zeiten“ zum Ausdruck bringen versuchten. Sie wurden dem Komponisten Joseph Starzer zugeschrieben und 1755 in Laxenburg choreographiert von Franz Anton Hilverding zur Aufführung gebracht. Zum absoluten Favoriten unter den tönenden Vorbildern der Haydnschen Triologie hat die über Musik schreibende Zunft allerdings Antonio Vivaldis Le quattro stagionibenannte Reihe aus vier Violinkonzerten deklariert, die dieser als Teil der Sammlung Il cimento dell’armonia e dell’inventione, seinem Opus 8, dem Grafen Wenzeslaus von Morzin gewidmet hatte. (Letzterer war übrigens ein Onkel zweiten Grades von Haydns erstem Dienstherren, Karl Joseph Franz von Morzin und Vivaldis Werksammlung zudem Teil des unter Paul Anton um das Jahr 1740 angelegten Thematischen Katalogs der fürstlich-esterházyschen Notenbestände gewesen).

Ein weiteres Diskussionsfeld setzt sich aus Fragen nach möglichen, (un)mittelbaren Anlässen zur Komposition, des dahin führenden Auftrags, sowie dem genauen Wann und Wo ihrer Uraufführung zusammen. Dazu ein paar Antworten, welche die bisherige Haydnforschung in weitgehend verlässlicher Form aus dem Dunkel der Vergangenheit zutage fördern konnte:
Die Tageszeiten-Sinfonien dürften tatsächlich in zeitlicher Nähe des Vertragsschlusses mit Haydn und weiterer Aufnahmen in die esterházysche Hofkapelle, wie etwa die des Flötisten und Oboisten Franz Sigl (7. Mai 1761) entstanden sein – den Untersuchungsergebnissen Sonja Gerlachs zufolge allerdings erst nach den Sinfonien Nr. 15 und 3, die beide schon bei Haydn2032 zu erleben waren1. Für einen entstehungszeitlichen Anhaltspunkt sorgt überdies eine von Karl Graf von Zinzendorf am Abend des 22. Mai 1761 besuchte musikalische Soirée im Palais Esterházy, bei der ein im Kopfsatz von Le Soir zitierter Gassenhauer „Je n'aimais pas le tabac beaucoup“ zum Vortrag kam. (Kein geringerer als Christoph Willibald Gluck hatte ihn zur Produktion einer Opéra comique namens Le Diable a quatre durch das Wiener Théâtre Français im Jahr 1759 komponiert, ein Kassenschlager, der erst wenige Wochen zuvor, am 11. April 1761 eine Wiederaufnahme bekommen sollte.) Hinzu kommt ein astronomisches Ereignis, das in aufklärerisch gebildeten Kreisen seinerzeit für reichlich Gesprächsstoff sorgte und der Hauptstadt des Habsburgerreiches in der Person des César François Cassini de Thury einen illustren Gast bescherte, der in den Wiener Adels-Salons jener Tage wie allgegenwärtig erschien: Die Venuspassage vom 6. Juni 1761. Ihre Beobachtung und gleichzeitige Vermessung von verschiedenen über den ganzen Globus verteilten Orten sollte der Wissenschaft Auskunft über den Abstand der Erde zur Sonne vermitteln, und schließlich – wenngleich erst in späteren Jahrhunderten – zur exakten Bestimmung der sogenannten Astronomischen Einheit führen. Da es auch in der Familiengeschichte der Esterházy ein geradezu dynastisches Interesse in puncto Sternenkunde zu verzeichnen gibt, könnte das besagte Himmelschauspiel durchaus mit in die Themenvorgabe hinein gespielt haben, zumal in der Person Paul Antons ein ehemaliger Student der Universität Leiden2 den Auftrag zur Komposition der Tageszeiten erteilte. Sie, so Elaine Sisman, wäre nämlich nicht allein dem damals in Schrift und Bild weit verbreiteten Motiv des einfachen ländlichen vom Rhythmus der Natur abhängigen Lebens, sondern ganz konkret dem tageszeitlichen Verlauf der Sonnenbahn bzw. dem Stand unseres Licht und Wärme spendenden Himmelskörpers, am Morgen, zu Mittag und am Abend gewidmet: „Haydns Sonne“, mit der die Musik ganz programmatisch beginnt, „beleuchtet die Welten von Wissenschaft und Religion sowie Natur und Kunst.“3

Von den drei Sonnenaufgängen aus Haydns kompositorischem Œuvre stellt derjenige aus Le Matin das mit Abstand jüngste Beispiel dar. Wie seine Vergleichsmomente aus der Schöpfung (UA: 30. April 1798; Instrumentalvorspiel zum Rezitativ des Uriel „In vollem Glanze steiget jetzt die Sonne strahlend auf“) und Die Jahreszeiten (UA: 24. April 1801; „Sie steigt herauf, die Sonne“, Chor mit Soli aus „Der Sommer“) so steht auch er in D-Dur (hier wie in der Schöpfung sogar auf einem einzelnen, unbegleiteten Ton D beginnend), arbeitet eine aufsteigende Notenskala heraus und kadenziert zum dynamischen Höhepunkt auf der Dominante.

Dass Paul II. Anton nicht nur ein leidenschaftlicher Liebhaber der Musik – und zwar in beiden seinerzeit führenden nationalstilistischen Ausprägungen, der italienischen wie der französischen – sondern auch ein Flötist von beachtlicher Begabung war, galt seinem gesellschaftlichen Umfeld als offenes Geheimnis. So erklärt sich auch der für Haydns sinfonisches Frühwerk durchaus untypische Beginn des auf den Sonnenaufgang folgenden Allegros: Im Piano erklingt der (bald von den Oboen imitierte) Weckgesang der Flöte, auf den sich die Natur in abwechselnden Forte- und Piano-Abschnitten zu regen beginnt. Wenn schließlich anstelle des erwarteten Eintritts der Reprise die Hörner mit lautschallendem Unisono dem Flötenthema um zwei Takte vorauseilen, so ist dies gewiss als Anspielung auf eine andere große Leidenschaft zu verstehen, die hier mit dem Fürsten „durchzugehen“ scheint: die Jagd, natürlich...

Vom folgenden, durch ein kurzes Adagio gerahmten Andante lesen wir bei Hermann Kretzschmar, dass es sich dabei um die Parodie einer morgendlichen Solmisationsstunde nebst folgender, humorvoller Anspielungen auf schulmeisterliche Kunstfertigkeiten handeln solle.4 Sisman widerspricht dem entschieden und erkennt hierin das Auf- und Absteigen weiterer, die Morgensonne begleitender Himmelskörper wie etwa der Mond oder die bereits erwähnte Venus: „Der Morgen hat die Verbannung der Nacht zur Folge, eine Wende von Diana zu Aurora, die die zunehmende Irrelevanz des Mondes offenbart – selbst wenn er in der Regel noch im Morgengrauen am Himmel gegenwärtig ist.“5 In diesem Sinn wäre das Bild des Gesangslehrers wohl in das des Helios (oder seines Nachfolgers Apollon) mit dem von Horen begleiteten Sonnenwagen abzuändern, eine mythologische Gestalt, die die Fürsten Esterházy, zur ikonographischen Überhöhung ihrer selbst, wiederholt auf den Deckenfresken ihrer prachtvollen Schlossbauten anbringen ließen.

Nachdem die Mondwolken vertrieben sind, macht ein Menuett von sich hören, in dem sich die Sonne als Tanzmeisterin hervortut. Zu den Solisten am Parkett zählen abermals die Flöte, dazu die Oboen, das Fagott und schließlich im Trio die Viola wie erstmals im vorliegenden Zyklus der fünfsaitige Violone, auch Wiener Quart-Terz-Violon genannt. Den Finalsatz, ein Allegro, hat H. C. Robbins Landon einst mit der treffenden Metapher „Neuer Wein in alte Flaschen gegossen“ bedacht und meint damit, dass hier das kompositorische Prinzip des Concerto grosso – die Flöte, das Violoncello, ja selbst beide Hörner, vor allem aber der von Haydn persönlich übernommene Part des Violino principale werden mit solistischen Aufgaben bedacht – mit neuem Leben erfüllt erscheint.6

In Achtung des einst von Peter Gülke vorgebrachten Einwands in Bezug auf die mannigfaltigen Deutungsversuche von Haydns Tageszeiten – „er leiht sich den Anschein des ganz und gar Programmatischen und schreibt [doch] Musik von so autonomer Struktur, dass es des Anhalts an Vorstellungen, wie sie die Titel vorgaben, eigentlich nicht bedarf“7 – sind wir mit unseren Betrachtungen bei Le Midi angekommen, dem einzigen Werk des heute erklingenden Zyklus, von dem die Eigenschrift des Komponisten erhalten geblieben ist.

Mit seiner von großer Geste bewegten langsamen Einleitung, aus der französischen Ouvertüre entlehnten markanten Punktierungen und breit aufgefächertem zwölfstimmigen Partiturbild vermag der Kopfsatz der C-Dur-Sinfonie durchaus die Vorstellung eines prächtigen Mittagsmahls mit begleitender Tafelmusik evozieren. Letzteres „bestätigt“ sich gewissermaßen im anschließenden Allegro durch seine von rauschender Sechzehntelbewegung ummalten konzertierenden Alleingänge zweier Soloviolinen, eines Solocellos, sowie beider Oboen und des Fagotts auf Seite der Blasinstrumente. Doch mit einem Male schlägt sie um, die festliche Stimmung. Sollte die nun folgende Satzkombination aus düster hereinbrechendem Instrumentalrezitativ und „befreiendem“ Übergang in einen „reich figurierten Zwiegesang zwischen einer Solovioline und einem Solocello“8 samt auskomponierter Kadenz tatsächlich als Parodie eines „nach dem Mahle“9 veranstalteten Mittagskonzert zu verstehen sein, so hätte man dem Publikum daraufhin wohl einst eine kräftige Verdauungshilfe reichen müssen. Lukas Haselböck10 und abermals Elaine Sisman haben jedenfalls eine andere alternative Lesart anzubieten: Sie lehnt sich an den ersten Satz des Konzerts L'estate („Der Sommer“) aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, mit dem der Rezitativ-Satz der Haydn-Sinfonie eine „unheimliche Ähnlichkeit“11 aufzuweisen habe. Beide würden sie einer in der antiken Dichtkunst verwurzelten Erzähltradition folgen, nach der der Mittag jene Stunde darstelle, in der „mit oft katastrophalen Folgen“ Götter für Menschen sichtbar werden und letztere eine Zuflucht aufsuchen, wenn „Licht, Hitze, […] Stille und Stillstand zu bedrückend werden.“ Eben dieser Ort, „der schattige Hain, das von plätschernden Flussläufen und frischen Brisen durchzogene Tal erscheint im nachfolgenden Adagio […] dank seiner murmelnden, in Terzen geführten Flöten umso lebhafter“12, und bereiten den Protagonisten, Violine und Violoncello, eine pastoral anmutende Szenerie. So erscheint es auch absolut passend, wenn das nun folgende Menuett sich eher rustikal als höfisch gibt, während der Schlusssatz sich abermals der kunstvollen Kombination aus Sinfonie- und Konzertsatz hingibt, wobei der besondere klangliche Reiz dieses Allegros aus der kontrastreichen Gegenüberstellung der Violini concertatimit dem wieder auf ein Instrument reduzierten Flötenpart herrührt.

Mit Le Soir und seinem sich über das gesamte Thema des Kopfsatzes hinweg bewegenden, zu guter Letzt gar im Kanon geführten Zitat des Gluckschen Tabaklieds aus Le Diable a quatre – der Name selbiger Opéra comique steht im Französischen für einen turbulenten Charakter, der viel Lärm macht und Unordnung verursacht – kehren wir zurück zu der Frage nach der Idee, die ursprünglich hinter dem Auftrag zur Komposition der sog. Tageszeiten-Sinfonien gestanden haben könnte. Daniel Heartz, der Finder des Gluck-Zitats, hat – davon ausgehend, dass Haydn einst seitens seines Dienstherren über dessen besondere, diesbezügliche Vorliebe bestens informiert gewesen war – dazu folgende These entwickelt:

Wie der Hochadel um Maria Theresia überhaupt im Zeichen französischer Kultur stand, so auch Fürst Anton Esterházy, der Paris kannte und der für sich eine Bibliothek französischer Bücher, Partituren und Bilder eingerichtet hatte, die laufend mit den letzten Neuerscheinungen aus Paris beliefert wurde, im Jahre 1761 z. B. mit Rousseaus (in Österreich verbotenen!) Schriften. Die Vermutung, dass er auch mit den Arbeiten François Bouchers, die damals hoch im Kurs standen, vertraut war, liegt nicht fern. Eine Bilderserie Die Tagesstunden im Leben einer Dame galante malte Boucher im Auftrag des Schwedischen Gesandten in Paris im Jahr 1745. Eine andere Serie, Points du Jour, enthält ein Bild namens Le Soir mit dem Untertitel La Dame allant au Bal, das Ganze von einem kommentierenden Vers begleitet.
Hat diese modische Dame vielleicht sogar Modell gestanden für Margot? Margot, die ausgeht in der Absicht zu tanzen und – anstelle des Versleins im Bilde – ihr Tabaklied zum Besten gibt. Am Ende […] erinnern wir daran, dass Haydn seine Abendsinfonie mit La Tempesta beschließt. Die Hintergründe erscheinen vieldeutig: Ist es ein Gewitter, wie es die schlimme Marquise, Margots Gegenspielerin, heraufbeschwört? Ist es der Himmel, der sich im Gewitter zusammenballt – als bewegter Ausklang am Tagesende?13

Die Vorstellung einer abendlichen, sich am Gesang, an der Schönheit des Sonnenuntergangs, am Tanz und der Behaglichkeit einer vor den abendlichen Wetterkapriolen eines heißen Sommertags schützenden Behausung erfreuenden Gesellschaft – sie könnte durchaus jenen Gedanken entsprochen haben, die Haydn einst bei seiner kompositorischen Arbeit an Hob. I:8 im Kopf herumgingen. Vielleicht wäre hier noch anzumerken, wie der Komponist im Finalsatz von Le Soir auf geniale Weise mit den überlieferten Topoi von Sturm- und Gewittermusiken umzugehen pflegt: Wider Erwarten zeigt er sich in der Verwendung der selbigen nämlich ausgesprochen umsichtig, stets darauf bedacht den Solisten seines Instrumentalensembles alle nur denkbaren Freiräume zur Präsentation ihrer virtuosen Musizierkünste zu ermöglichen.

In Giuseppe Carpanis Biographie Le Haydine lesen wir gar von einer weiteren bereits zu Paul Antons Geburtstag am 22. April 1761 verfertigten „solennen“ Sinfonie, hinter der Daniel Heartz die C-Dur-Sinfonie Hob. I:25 vermutet.
Im niederländischen Leiden würde 1633 die erste Universitätssternwarte der Welt eröffnet.
Elaine Sisman, „Haydn's Solar Poetics The Tageszeiten Symphonies and Enlightenment Knowledge“, in: Journal of the American Musicological Society, Bd. 66, Nr. 1 (Spring 2013), S 5-102, hier S. 91.
Vgl. Hermann Kretzschmar, „Die Jugendsinfonien Joseph Haydns“, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, 15. Jg, 1908, S. 69-90, hier S. 84.
Sisman, S. 55.
H.C. Robbins Landon, Haydn: Chronicle and Works, Bd. 1, Haydn: The Early Years: 1732-1765, London 1980, S. 556.
Peter Gülke, „Haydns »Tageszeiten«-Sinfonien“, in: Ders., Die Sprache der Musik. Essays zur Musik von Bach bis Holliger, Stuttgart, Weimar, Kassel 2011, S. 170-175, hier S. 170f.
Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Bd. 1, Baden-Baden 1987, S. 36.
Jürgen Braun, Sonja Gerlach: Sinfonien 1761 bis 1763. In: Joseph Haydn-Institut Köln (Hg.): Joseph Haydn Werke. Reihe I, Bd. 3, München 1990, Seite VIII.
10 Lukas Haselböck, „Vivaldis Le quattro stagioni und Haydns Tageszeiten-Sinfonien“, in: Laurine Quetin, Gerold W. Gruber und Albert Gier (Hg.), Joseph Haydn und Europa vom Absolutismus zur Aufklärung (= Musicorum 7), Tours 2009, S. 183-192.
11 Sisman, S. 61.
12 Sisman, S. 66.
13 Daniel Heartz, „Haydn und Gluck im Burgtheater um 1760: Der neue krumme Teufel, Le Diable à quatre und die Sinfonie „Le soir“, in: Gesellschaft für Musikforschung. Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Bayreuth 1981, hg. von Christoph-Hellmut Mahling und Sigrid Wiesmann, Kassel 1984, S. 120-135, hier: S. 132 & 135.

Sinfonie Nr. 8 "Le Soir"
VOL. 10 _LES HEURES DU JOUR

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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9

SINFONIE NR. 9 IN C-DUR HOB. I:9 (1762)

Besetzung: 2 Ob/2Fl, Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [Frühjahr?] 1762

Allegro molto / Andante / Menuetto. Allegretto – Trio

 

[Impresario: Girolamo Bon]

Mit dem ersten und zugleich ältesten der unter dem Motto „Gli Impresari“ vereinten theatralischen Sinfonien Joseph Haydns werfen wir einen Blick zurück – zurück auf jene Zeit, als Fürst Nikolaus gerade erst den älteren Bruder Paul Anton als Oberhaupt der Magnatenfamilie Esterházy de Galántha beerbt hatte. Am 12. Mai 1762, also gerade einmal fünf Tage vor dessen feierlicher Amtseinführung, hatte beim Greifenwirt zu Eisenstadt (ungar. „Kismarton“) eine Gruppe „Welscher Komödianten“ Quartier bezogen, wo sie bis zum Juni selbigen Jahres verbleiben und die im Haydn'schen „Entwurfkatalog“ gelisteten Commedie La marchesa Nespola, La vedova, Il dottore, Il sganarello zur Aufführung bringen sollte. Dieser Theatertruppe – so wird in der Haydn-Forschung vermutet – dürfte ein gewisser Girolamo Bon, pittore Architetto e Direttore dell'Opera vorgestanden sein. Eben jener, ein künstlerisches „Multitalent“ also, das es – aus Bologna stammend – in Sachen Theater u. a. bereits nach St. Petersburg, Berlin, Dresden, Potsdam, Antwerpen, Frankfurt und Regensburg verschlagen hatte, wurde mit Anfang Juli samt Frau und Tochter in fürstlich-esterházysche Dienste übernommen. Neben den sängerischen Qualitäten von Rosa Ruvinetti-Bon und der zu Petersburg geborenen und am venezianischen Ospedale della Pietà geschulten Instrumental- und Kompositionskunst Anna (Lucia) Bons, dürfte nicht zuletzt auch die von 1756 bis 1761 währende Lehrtätigkeit des Familienvaters an der Akademie der Schönen Künste in Bayreuth hierfür ausschlaggebend gewesen sein. Zu des letzeren Arbeiten im Bereich des Szenischen wie Dekorativen gesellten sich alsbald auch solche der Theaterdichtung, etwa bei der (vermuteten) Einrichtung der Libretti für Haydns frühe italienische Opern La canterina, Lo speziale, Le pescatrici und L'infedeltà delusa oder den Huldigungskantaten der Jahre 1763 bis 1767 für Nikolaus I. und dessen Sohn Anton.

Zu einer weiteren, durch Irmgard Becker-Glauch in einer lateinischen Motette wiederentdeckten Kantate1 scheint die aus 1762 stammende Sinfonie C-Dur Hob. I:9 in einem besonderen Verhältnis zu stehen: Ihr könnte das dreisätzige Werk einst – in veränderter Instrumentation – als Orchestervorspiel gedient haben. Somit würden sich auch die eigenartigen Korrekturen im Bereich der Besetzungsangaben erklären, denen zufolge die Komposition ursprünglich mit Pauken, Clarintrompeten und/oder Hörnern und Streichen, aber ohne Oboen (!) erklungen war. Im Autograph, das erst im Jahr 2000 wieder an die Öffentlichkeit geriet und von der Paul Sacher Stiftung in Basel aufbewahrt wird, wurde diese Besetzung schließlich zu Oboen, Hörnern und Streichern geändert.2

Ob nun die C-Dur-Sinfonie einst als Kantaten- bzw. Komödienvorspiel oder vielmehr für die fürstliche Kammer gedacht war – dem Charakter und dramaturgischen Aufbau entsprechend vermag sie sich gut in die Stimmung und Zeit der Majoratsübernahme durch Nikolaus I. Esterházy einzupassen: Ein Allegro molto, das „auf stark profilierte Themen zugunsten von Hammerschlägen aus drei Akkorden, Bläserfanfaren, ununterbrochener Geschäftigkeit und rhythmischen Überraschungen [verzichtet]“ (James Webster), ein pastoral angehauchtes Andante, sowie ein Allegretto-Menuett mit walzerartig nachschlagender Streicher-Begleitung zur melodieseligen Solo-Oboe im ersten und feldmusikalischer Quintett-Einlage im zweiten Trio-Abschnitt.

Bei der Motette handelt es sich um das Werk „Quis stellae radius“, Hob. XXIIIa:4. Vgl. Irmgard Becker-Glauch: „Neue Forschungen zu Haydns Kirchenmusik“, in: Haydn-Studien Band II, Heft 3 (Mai 1970), S. 167 – 241, insbes. S. 177 – 183.
Vgl. Sonja Gerlach: „Das Autograph von Haydns Sinfonie Hob. I:9 aus dem Jahr 1762“ in: Haydn-Studien, Band VIII, Heft 3 (September 2003), S. 217– 236.

Sinfonie Nr. 9
VOL. 7 _GLI IMPRESARI

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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10

SINFONIE NR. 10 D-DUR HOB. I:10 (1758/1760)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1766 [1758/1760]
11

SINFONIE NR. 11 ES-DUR HOB. I:11 (1760/1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1769 [1760/1761]
12

SINFONIE NR. 12 E-DUR HOB. I:12 (1763)

Besetzung 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [Frühjahr?] 1763

Allegro / Adagio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Obwohl das älteste Musikstück des vierten Projekts von Haydn2032 auf den ersten Blick nur eine einfache dreiteilige Sinfonie darstellt, so birgt es doch möglicherweise eine »zweite Natur« in sich. Auf selbige Fährte wurde ihr Entdecker, der österreichische Dirigent und Pianist Manfred Huss, einst durch seine Beschäftigung mit Haydns »allerErste[r] opera« gelockt.

Die Rede ist – Kenner werden es bereits wissen – von der Festa teatrale Acide, welche zur Hochzeit von Anton Graf Esterházy mit Maria Theresia Erdődy am 11. Januar 1763 in Eisenstadt ihre umfeierte Uraufführung erlebte. An zwei Stellen der Handlung dieses leider nur fragmentarisch erhaltenen Einakters wird eine Sinfonia – also ein instrumentales Zwischenspiel gefordert – zunächst um das »Wehklagen der Nereiden« über den Tod des durch den Zyklopen Polifemo erschlagenen Acide auszudrücken, sowie dann die unerwartete Wendung zum Guten anzukündigen, derzufolge das Blut des Nymphensohnes in quellendes Wasser und er selbst in einen Flussgott verwandelt wird, um seiner geliebten Galatea fortan stets nahe sein zu können.

Einen Anlass zur Wandlung der Intermezzi aus Acide in Teile der autograph überlieferten E-Dur-Sinfonie Hob. I:12, mag jedenfalls das am 19. Februar 1763 im Wiener Palais Esterházy veranstaltete Diner mit anschließendem »grand Concert« geliefert haben, von dem die berühmten Tagebücher des Karl Johann Christian Graf von Zinzendorf berichten. Dabei dürfte es dem Hörgenuss durchaus zuträglich gewesen sein, dass die Sinfonie erst nach der Speisung zum Erklingen kam, beginnt doch das eröffnende Allegro ungewöhnlich leise und mit einer unisono geführten, wiegenden Streichermelodie. Selbige Grundstimmung, die alsbald in ein kräftiges Tutti umschwenken wird, scheint durchaus den Blick auf eine frohe, vom wärmenden Feuer der Liebe erhellte Zukunft zu eröffnen, wie dies der theatererfahrene Georg Joseph Vogler in seiner Tonartencharakteristik von 1779 bestätigt.

Dass wir – so James Webster – mit dem folgenden Adagio in eine »opernhafte Welt voller Unisonoausbrüche, Dissonanzen, chromatischer Klänge und trügerischer Kadenzen« versetzt werden, erscheint in der Tat »eigentümlich« und seine Vermutung, der zwischen zärtlich klagendem e- und düster gestimmtem h-Moll changierende Satz würde »außermusikalische Assoziationen transportieren« nach entsprechendem Vorwissen auch durchaus nachvollziehbar. Mit einem Presto, das ohne weiteres eine theatralische Schlussmusik hätte abgeben können, schließt Carl Ferdinand Pohl, dem großen Haydn-Biographen des 19. Jahrhunderts zufolge, »eine kleine, aber in guter Stunde geschriebene Sinfonie.«

Sinfonie Nr. 12
VOL. 4 _IL DISTRATTO

Giovanni Antonini, Riccardo Novaro, Il Giardino Armonico

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13

SINFONIE NR. 13 D-DUR HOB. I:13 (1763)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 4 Hr, Str (mit Solo-Vc)
Entstehungsjahr: [Aug.-Dez.?] 1763

Allegro molto / Adagio cantabile* / Menuet – Trio / Finale. Allegro molto
* mit Violoncello solo

von Christian Moritz-Bauer

Im Laufe des 18. Jahrhunderts waren die Esterházys zur reichsten und mächtigsten Familie des Königreichs Ungarn aufgestiegen. Auch gehörten sie bald zu den einflussreichsten Familien im Bereich des Musik- und Theaterlebens – was nicht zuletzt dem Schaffen und Wirken Joseph Haydns zu verdanken war, der über Wochen und Monate hinweg regelmäßig kammermusikalische wie orchesterbesetzte Aufführungen, letztere auch im Bereich des Musik- wie Sprechtheaters gab.

Als Fürst Nikolaus I Joseph im Jahr 1762 die Nachfolge seines Bruders Paul II Anton antrat, begann er mit der Ausweitung der musikalischen Aktivitäten des Hofs, wobei ihm als passioniertem Jäger die vorübergehende Erweiterung im Bereich der Hornisten seiner Kapelle – von August bis Dezember 1763 standen dort vier anstelle der sonst üblichen zwei Musiker zur Verfügung – besonders zugesagt haben dürfte. So schrieb ihm Haydn als sein (damals noch Vize-)kapellmeister gleich zwei Sinfonien, um dem Prinzen gegenüber diese kleine Extravaganz rechtzufertigen. Während die Sinfonie Nr. 72 offenbar mehr als ein Schaustück geplant und konzipiert war, versuchte Haydn in der Sinfonie Nr. 13 zu demonstrieren, wie gut sich ein Quartett von vier Waldhörnern in ein grosses, an Farben reiches Bläser- und Streicherensemble eingliedern lässt.

Schon immer wurde der Beginn der Sinfonie Nr. 13 als besonders eindrucksvoll empfunden. James Webster, einer der bedeutendsten Haydn-Forscher unserer Zeit, schreibt über dessen Wirkung: «Die unvergessliche Eröffnung der Sinfonie mit ausgehaltenen siebenstimmigen Bläserakkorden über einem vorwärtstreibenden, aufwärtsstrebenden Streicherostinato ist eines der eindrucksvollsten und klangstärksten Gebilde in Haydns Gesamtwerk.»1 Kein Wunder, dass der Komponist besondere Raffinesse auf die Wiederkehr dieses Gebildes am Beginn der Reprise verwendete: Im hörbaren Kontrast zum Satzanfang steht es dort im Piano, um nach nur sechs Takten in ein plötzliches Forte zu explodieren, in dessen Folge die vier Hörner das Eingangsmotiv dreimal hintereinander intonieren, zunächst von d aus, dann von fis und schließlich von a, einer aufsteigenden Rakete gleich.

Das darauf folgende Adagio cantabile spart die Bläserstimmen gänzlich aus, um die berückende Stimme eines Violoncello solo in den Mittelpunkt zu stellen, dessen kantable Melodie den ganzen Satz hindurch – ohne Unterbrechung durch etwaige Tutti-Ritornelle – erklingt. Der Gestus des Menuetts ergibt sich durch absteigende Dreiklangszerlegungen, die im Trio dem solistischen Spiel einer Traversflöte obliegen. Im abschließenden Allegro molto kombiniert Haydn schließlich Fugen- und Sonatenform zu einem so kunstvoll wie gross angelegten Finale. Das Cantus-firmus-Thema wird zweifelsohne vertraut klingen, denn es ist das gleiche aus vier Noten bestehende des gregorianischen Credo, auf das später u. a. W. A. Mozart – und zwar sogar mehrmals – in seinem sinfonischen Schaffen zurückgreifen sollte. Am bekanntesten im Finale seines letzten einschlägigen Gattungsbeitrags, der Sinfonie C-Dur KV 551, die auf den Namen «Jupiter» hört.«Allerdings», so dürfen wir mit Webster feststellen, «verwendet Haydn, der hier in kleinerem Massstab arbeitet, rapidere Wechsel zwischen kontrapunktischen und homophonen Strukturen.»

1 Zit. nach James Webster: Hob.I:13 Symphonie in D-Dur: www.haydn107.com/Sinfonien/13 (Abruf: 12. September 2022).
2 Zit. nach ebda.

 

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14

SINFONIE NR. 14 A-DUR HOB. I:14 (1762)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str (mit Solo-Vc)
Entstehungsjahr: bis 1764 [1762]
15

SINFONIE NR. 15 IN D-DUR (1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str (mit Solo-Vc)
Entstehungsjahr: bis 1764 [1761]

Adagio – Presto – Adagio / Menuet – Trio / Andante / Finale. Presto

 

 

Sinfonie Nr. 15
VOL. 9 _L'ADDIO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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16

SINFONIE NR. 16 B-DUR HOB. I:16 (1763)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str (mit Solo-Vc)
Entstehungsjahr: bis 1766 [Frühjahr 1763]

Allegro / Andante* / Finale. Presto
* mit Violoncello solo


von Christian Moritz-Bauer

Bei der nur dreisätzigen, menuettlosen Sinfonie Nr. 16 – sie entstand aufgrund quellen- wie stilkritischer Untersuchungen wohl im Frühjahr 1763 – handelt es sich um eine typisch österreichische Kammersinfonie der Zeit mit einem interessanten Cantus-firmus-Effekt im ersten Satz: Die zunächst im Piano anhebende Musik ist monothematisch sowie im doppelten Kontrapunkt geschrieben und nimmt ab dem Moment, wo im plötzlichen Forte die Oboen und Hörner in B alto (Hoch-B) hinzutreten, einen geradezu festlich-majestätischen Glanz an. Der Mittelsatz ist für Streicher allein mit einem (wiederum einst von Joseph Weigl bewerkstelligten) Solo für das Violoncello gehalten, das die Melodie der gedämpften Violinen in der unteren Oktave verdoppelt. Als Presto im 6/8-Takt galoppiert die Sinfonie schliesslich fröhlich ins Finale, wobei Haydn in der Mitte des Satzes eine Art Vorgeschmack auf seinen später so berühmten «Humor» gibt. So splittet er die Motive seines Themas, indem er wie Eigelb und -klar diese voneinander trennt und verschiedenen Instrumentengruppen (Violinen, mittlere/tiefe Streicher, Tutti) zuweist.

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17

SINFONIE NR. 17 F-DUR HOB I:17 (1760/1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: vor 11.7.1765 [1760/1761]
18

SINFONIE NR. 18 G-DUR HOB. I:18 (1757/1759)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1766 [1757/1759]
19

SINFONIE NR. 19 D-DUR HOB. I:19 (ca. 1760/61)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1766 [1760/1761]

Allegro molto / Andante / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

«Eines Tages begab sich der alte Fürst Antonio Esterházy in das Haus des Grafen [Mortzin], um dort Musik zu hören. Er war ein leidenschaftlicher Musikfreund, der ein großes und erlesenes Orchester zu seinen Diensten hatte, das von Maestro Werner dirigiert wurde. Nachdem der Fürst eine Symphonie von Haydn gehört hatte – es war jene in D-Dur und im Dreivierteltakt –, fand er Gefallen an der Art dieses Komponisten und drängte den Grafen, ihn ihm zu überlassen. Jener, der zuvor aus wirtschaftlichen Gründen schon daran gedacht hatte sein Orchester zu entlassen, zeigte sich dem Wunsch des Fürsten gerne gefällig.»

Was hier Giuseppe Carpani als einer der ersten Biographen Joseph Haydns so erzählfreudig berichtet, scheint – trotz kleinerer historischer Ungenauigkeiten – ein durchaus vorstellbares Szenario aus unseres Komponisten künstlerischem Werdegang wiederzugeben: den möglicherweise entscheidenden Moment des ersten Höreindrucks nämlich, der das einstige Oberhaupt der ungarischen Fürstenfamilie Esterházy dazu bewogen hatte, den knapp dreißigjährigen Kapellmeister aus seinem damaligen, sich zwischen Unter-Lukawitz bei Pilsen und der Habsburgermetropole Wien abspielenden Arbeitsverhältnis abzuwerben.
Dass der hinsichtlich seines Wahrheitsgehalts doch oft in Zweifel gezogene Carpani-Text hier einmal nachweislich nahe der Wirklichkeit liegt, das bezeugen die chronologischen Studien der Haydnforscherin Sonja Gerlach, denen zufolge die Nr. 19 nach der traditionellen Zählung der Haydn-Sinfonien durch Eusebius Mandyszewski nicht nur stilistisch gesehen ein Übergangswerk zwischen den frühen Morzin- und den darauf folgenden ersten Esterházy-Sinfonien darstellt, sondern zugleich als einzig in D-Dur gesetztes Werk aus einer Gruppe dreier Sinfonien mit anfänglichem Dreivierteltakt herausragt, die nach stilistischen Aspekten in die Zeit um Haydns ersten Dienstwechsel, d.h. um die Wende von 1760 auf 61 zu datieren wäre.
Als einer der großen Vorzüge von Hob. I:19, das in puncto Instrumentierung und formaler Anlage nicht gerade auffällig erscheint, wird gerne die «kompositorische Geschlossenheit» des erstpositionierten Allegro hervorgehoben, was meint, dass dessen Aufbau, welchen die Formenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts mit Begriffen wie Exposition, Durchführung und Reprise belegt, nicht nur als eine bloße Aneinanderreihung «Motiv» genannter musikalischer Kleinteile, sondern – aufgrund eines komplexen Systems gegenseitiger Bezüge unter denselben – weit treffender als ein durch Kadenzpunkte in periodische Abschnitte unterteilter Gesamtverlauf beschrieben werden möchte. Bei aller ihr innewohnenden Kompositionswissenschaft weiß der Kopfsatz der D-Dur-Sinfonie aber auch mit einigen markanten «Hinhorchern» aufzuwarten, wie etwa jene wilden Tremolopassagen, die von plötzlichen Tutti-Effekten begleitet werden und das harmonische Geschehen sogar vorübergehend einmal nach h-Moll abdunkeln.
In mehrerer Hinsicht erstaunlich zeigt sich aber auch das darauffolgende Andante, das trotz aller Kürze mit einer besonderen rhythmischen Vielfalt aufzuwarten hat. Da wäre z.B. die permanent auftaktige Gestaltung des Melodieverlaufs, der mit ihrer im Staccato geführten Achtelbewegung einen fast schon marschartigen Charakter erhält oder die direkt daran anschließende für den späteren Haydn geradezu charakteristisch erscheinende Synkopenpassage, in der sich die zweite Violine – im Sechzehntelabstand dem Streicherbass folgend – auf einmal als stimmführend erweist. Nachhaltigen Eindruck vermag aber auch die tongeschlechtliche Prägung des Mittelsatzes zu hinterlassen, der sich die längste Zeit in d-Moll bewegt, jedoch vor zeitweisen Ausflügen nach g-Moll, sowie auch nach F- und A-Dur nicht Halt macht.
Mit einem tänzerischen 3/8-Takt – zu jener Zeit, etwa im Werk eines Georg Christoph Wagenseil vielfach anzutreffen – beschließt ein Presto-Finale mit einprägsamen Jagd- und ostinatoartig von den tieferen Streichern hinfort getragenen Galoppmotiven das thematische Geschehen. Ob dahinter eine Referenz des Komponisten an ein gewisses, auch in der Familie Esterhazy sehr beliebtes «fürstliches Vergnügen» stand? Als ausgesprochen wirkungsvoll erweist sich auch hier eine markante Tremolopassage, die aufgrund ihrer über mehrere Takte hinweg reichenden, von Sext-, Oktav- und sogar Dezimsprüngen bestimmten, abwärts sequenzierten Einleitung gleich einer Vorbotin auf ein gewisses «Sturm und Drang»-Idiom wirkt, welches das Vokabular des Tonschöpfers Haydn in weniger Jahre Zukunft so nachhaltig prägen sollte.

Zit. nach Giuseppe Carpani: Haydn. Sein Leben. Aus dem Italienischen und mit einem Vorwort von Johanna Fürstauer, St. Pölten & Salzburg 2009, S. 98.
Vgl. Sonja Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in: Haydn-Studien 7/1-2 (1996), S. 1-288, insbes. S. 71-75.

Sinfonie Nr. 19
VOL. 5 _L'HOMME DE GÉNIE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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20

SINFONIE NR. 20 C-DUR HOB. I:20 (1758/1760)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1766 [1758/1760]
21

SINFONIE NR. 21 A-DUR HOB. I:21 (1764)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [2. Hälfte?] 1764
22

SINFONIE NR. 22 Es-DUR «DER PHILOSOPH» HOB. I:22 (1764)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: bis 1767 [1761/1762]

Adagio – Presto – Menuetto. Trio – Finale: Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Mit der Sinfonie in Es-Dur Hob. I:22 kehren wir in jene Zeit zurück, in der Joseph Haydn noch das Amt des Vizekapellmeisters der Fürsten Esterházy versah, in Rücksicht auf das fortgeschrittene Alter seines Vorgesetzten Gregor Joseph Werner aber bereits alle Bereiche der Hofmusik mit Ausnahme des geistlichen mit Eigenkompositionen zu versorgen hatte.
Das Autograph des auf 1764 datierten, unter den frühen Haydn-Sinfonien auffällig oft programmierten Werkes, schreibt – im Gegensatz zu den meisten seiner Sekundärquellen wie Partitur- und Stimmabschriften – eine Bläserbesetzung mit Englischhörnern (anstelle der sonst üblichen Oboen oder Flöten) und Waldhörnern vor. (Das aus der Familie der Doppelrohrblättrigen stammende Altinstrument, bei dem es sich um eine verkleinerte, mit einem birnenförmigen, auch „Liebesfuß“ genannten Schallbecher versehene Version der barocken Oboe da caccia handelt, findet im kompositorischen Schaffen Haydns nach den Divertimenti der frühen 1760er Jahre (Hob. II:12, 16, und 24) und vorliegender Sinfonie nur noch in einigen Vokalkompositionen, wie etwa der c-Moll-Arie „Non v'è chi mi aiuta“ aus La Canterina (1766), im Stabat mater (1767) oder der „Großen Orgelsolomesse“ (1768/69) Gebrauch.)
Sollte die besetzungstechnische Besonderheit von Hob. I:22 (zumindest am Hofe der Esterházys) auch binnen weniger Jahre wieder außer Mode kommen, so durfte sie sich doch – als erste nach den Tageszeiten-Sinfonien von 1761 – der später erfolgten Verleihung eines Beinamens erfreuen. Im vorliegenden Fall rührt er, „Le Philosoph[e]“ (Der Philosoph/Il filosofo), von einem in Modena befindlichen Stimmenmaterial, genauer gesagt dem Titelvermerk einiger darin enthaltener Streicherdubletten her, welches um 1780 in Wien angefertigt und später von Musikern der (dem Hause Habsburg-Lothringen nahestehenden) Herzöge von Este erweitert worden sein dürfte.

Seit jeher sind Haydnforscher wie -kenner ob der kompositorischen Qualitäten von Hob. I:22 von sehr verschiedener Meinung, wobei vereinzelt, wie etwa von A. Robert Brown sogar die Ansicht vertreten wird, dass die Berühmtheit, die ihr zuteil wurde, nur auf der Besonderheit ihrer Instrumentierung und ihrem einprägsamen „nicht authentischen Beinamen“ beruhe und folglich „ihre [kompositorischen] Leistungen [deutlich] übersteige]“.
Wer möchte sich hier nicht viel eher der Meinung des bereits genannten Herrn Robbins Landon anschließen, der im Falle des eröffnenden Adagio mit seiner „Kombination aus Englisch- und Waldhörner, gedämpften Violinen, tiefen Streichern, dazu vielleicht einem Fagott“ von Instrumentalklängen unglaublicher Schönheit schreibt, die zu den originellsten („the most original“) Tonschöpfungen Haydns zählen würden.

Nach Walter Lessing liegt über dem Kopfsatz des „Philosophen“, dessen „durchlaufende […] Achtelbewegung die choralartige Melodie der Bläser grundiert“ und folglich das Bild eines vorbeischreitenden, tief in Gedanken versunkenen Menschen evozieren könnte, „eine Aura des Altertümlichen“. Denken wir nur an jene in den Verlauf der Reprise eingewobenen Takte, die mit ihren abwärts gleitenden Vorhaltsdissonanzen über sequenzartiger Fortschreitung der Bassstimme so sehr nach einem Concerto grosso Arcangelo Corellis klingen. Dass Haydn hier aber nicht allein rückwärts schauend komponierte, lehrt uns ein Blick in die zu Leipzig und Wien publizierten Generalbass- und Kompositionslehren des bisher nur wenig beachteten Johann Friedrich Daube (1730-1797), worin der Gedanke der „freyen Nachahmung“ als Charakteristikum des modernen Kompositionsstils betrachtet und eine Integration der alten, „künstlichen“ in die neue, „natürliche“ Schreibart empfohlen wird.

Nichts schien einem Haydn jedoch natürlicher als wenn er sich, inmitten eines schöpferischen Akts befindlich, von seinem „Humor“ leiten ließ; worunter – ganz dem Empfinden der Zeit entsprechend – sowohl seine als allgemein heiter beschriebene Geisteshaltung, als auch manch situationsbedingte Gemütsverfassung (die ihm von Kritikerseite so gerne als bloße „Laune“ angekreidet wurde) zu verstehen wäre.
Eine besondere Ausprägung Haydn'schen Humors – hier wohl durch die etwas eigenwillige, nicht unbedingt jedermanns Geschmack treffende Farbe der Englischhörner angeregt – hat das an zweiter Stelle in der Satzfolge des „Philosophen“ stehende Presto aufzuweisen, welches mit seinem von durchlaufenden Achteln geprägten, motivreichen Streichersatz an die Salzburger Werke des jüngeren Bruders Johann Michael erinnert.
Die führende Position in dessen heiter-fröhlichem Klangbild wird natürlich von den ersten Violinen eingenommen, die sich aber nicht zu schade sind auch eine unterstützende Rolle anzunehmen, als ihren doppelrohrblättrigen Mitstreitern nach mühsam erkämpfter Höhenlage nunmehr der halbe Aufstieg zum triumphierenden b'' gelingen vermag.
Umso erstaunlicher, wenn – nach vorübergehender Erholung im divertimentohaften Menuett mit dazugehörigem, ländlerisch-entspannten Trio – sich beide Hörnerpaare im rasanten Wechselspiel des Jagdstimmung verbreitenden Presto-Finale noch einmal gegenseitig die Stirn bieten.

Zwar war es unseres Tonschöpfers Angewohnheit die Eigenschriften seiner Kompositionen anstelle genauer Datierungen meist nur mit einer Jahreszahl zu versehen, doch ist es der Forschung nach eingehender Untersuchung gelungen, die Sinfonien von 1764 ihrer Entstehung nach folgendermaßen zu ordnen: 23, 22, 21 und 24. Somit bilden zwei von „normalem“ Aufbau (schnell – langsam – Menuett – schnell) den Rahmen für weitere zwei an der Satzfolge der Sonata da chiesa orientierte Werke.

Noch im Geburtsjahr des „Philosophen“, genauer gesagt im Dezember 1764, kam es am Wiener Kärntertortheater – einem Vorläuferhaus der heutigen Staatsoper – zur Aufführung einer deutschsprachigen Adaption der Komödie „Il filosofo inglese“ von Carlo Goldoni als „Die Philosophinnen, oder Hanswurst der Cavalier in London zu seinem Unglück“.
Ob hierzu – wie von Elaine Sisman zur Diskussion gestellt – einst die Musik aus Hob. I:22 erklang, erscheint fraglich, aber keineswegs unmöglich. Ein diesbezügliches Argument könnte jedenfalls die Verbindung zwischen Haydns späterer f-Moll-Sinfonie Hob I:49 („La Passione“) und des durch die Schauspieltruppe Karl Wahrs zur Aufführung gebrachten „rührenden Lustspiels“ La jeune Indienne (Die junge Indianerin) von Nicolas Chamfort darstellen, welche der Autor dieser Zeilen mit neuen Erkenntnissen zu belegen vermochte.

Der Name Englischhorn leitet sich vermutlich vom ursprünglich rundformigen, an die Engelshörner aus kirchlichen Bilddarstellungen erinnernden Aussehen der Instrumente ab.
Biblioteca Estense, Sig. D.145
A. Peter Brown, The Symphonic Repertoire Vol. II – The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert, Bloomington 2002, S. 89.
H. C. Robbins Landon, The Symphonies of Joseph Haydn, London 1955, S. 257f.
Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Band I, Baden-Baden, 1987, S. 82.
Generalbaß in drey Accorden, gegründet in den Regeln der alt- und neuern Autoren, Leipzig 1756; Der musikalische Dilettant, Wien 1773; Anleitung zur Erfindung der Melodie und ihrer Fortsetzung, Wien 1798
Vgl. Felix Diergarten, „Anleitung zur Erfindung“. Die Kompositionslehre Johann Friedrich Daubes, in: Musiktheorie 23 (2008), insbesondere S. 312-313.
Im Falle der Sinfonie Nr. 22 vermutet Sonja Gerlach einen früheren Beginn der Niederschrift als bei Nr. 21, hält sie aber zugleich für die später vollendete der beiden. Vgl. Sonja Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in Haydn-Studien 7/1-2 (1996), S. 110f. Dieser „Tatbestand“ deckt sich mit einer auf „Eisenstadt, den 9ten July 764“ datierenden Zahlungsanweisung, derzufolge ein gewisser Mathias Rockobauer für die Herstellung von Rohrblättern für Oboen, Fagotte und Englischhörner entlohnt werden sollte.
Weitere Haydnsche Sinfonien in da chiesa-Form finden sich unter den Nummern 4, 18, 34, 42 und 49.
10 Elaine R. Sisman, Haydn's Theater Symphonies, in: Journal of the American Musicological Society, 43 (1990), S.333ff.
A. Peter Brown, The Symphonic Repertoire Vol. II – The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert, Bloomington 2002, S. 89.
H. C. Robbins Landon, The Symphonies of Joseph Haydn, London 1955, S. 257f.

VOL. 2 _IL FILOSOFO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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23

SINFONIE NR. 23 G-DUR HOB. I:23 (1764)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [1. Hälfte?] 1764
24

SINFONIE NR. 24 D-DUR HOB. I:24 (1764)

Besetzung: 2 Ob/Fl, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [2. Hälfte?] 1764

[Allegro] / Adagio. Cantabile / Menuet – Trio / Finale

 

von Christian Moritz-Bauer

Ob oder inwiefern Haydn seinerzeit über die zu Paris gefeierten Erfolge seiner Kompositionen unterrichtet war, darüber wissen wir heute ebenso wenig Bescheid, wie über die Informationsquellen, welche ihm die Spezifika des dortigen, als besonders ausgefallen geltenden Publikumsgeschmacks näher brachten. Mit großer Sicherheit dürfte ihm jedenfalls ein um fünfzehn Jahre älterer Bericht der oben zitierten, vielgelesenen Monatsschrift entgangen sein, der da lautete: „[A]n diesem Tag [den 9. April 1773] gab es zwei Sinfonien beim Konzert, eine am Anfang (von Toeschi), die andere im zweiten Teil (von Haydn). Beiden wurde viel Applaus gespendet, darunter aber vor allem dem Andante der zweiten, in dem Herr Rault2 ein Solo auf der Flöte spielte.“2

Die diesem Zitat traditionell zugeordnete Sinfonie Nr. 24 in D-Dur, wurde lange Zeit als die erste bei einem öffentlichen Konzert in Paris aufgeführte Komposition Joseph Haydns angesehen.3 Heute wissen wir, dass dieses Bild wenigstens dahingehend richtig zu stellen ist, dass es sich dabei allenfalls um die erste nachweislich in der Seine-Metropole zum Erklingen gebrachte Haydn-Sinfonie gehandelt haben dürfte. Einstweilen ungeachtet, dass es auch eine weitere, fast noch wahrscheinlichere Kandidatin für den musikalischen Glanzpunkt jenes Abends im altehrwürdigen Salle des Cent-Suisses des Tuilerienpalastes geben würde,4 darf man in dieser Tonschöpfung des Jahres 1764 dennoch getrost ein Werk vermuten, welches dort in gleich mehrfacher Hinsicht großen Zuspruch hätte erzielen können. Diversen zeitgenössischen Quellen, darunter den Briefen W. A. Mozarts aus dem Jahr 1778 folgend, konnte man in Paris etwa hervorragend punkten, wenn Motive, Passagen, ja ganze Formteile in entscheidender Weise vom Spiel und den klangfarblichen (Kombinations)möglichkeiten der Blasinstrumente gestaltet waren. In Hob. I:24 beispielsweise beschränken sich solche Momente nicht nur auf den 2. Satz, ein Adagio, das Haydn in Form eines veritablen Konzertsatzes für Franz Sigl, den Flötisten der esterházyschen Hofkapelle geschrieben hatte. Auch davor sind die Bläser tonangebend. Schon das Thema des Kopfsatzes ist – nicht wenig überraschend – der gleichzeitigen Stimmführung von Oboen und Hörnern anheimgestellt, was sich an vergleichsweise üblicher Stelle dann im ländlerisch angehauchten Menuet wiederholen wird. (Allerdings müssen die Oboen während des darin eingebetteten Trio-Teils ihre blechernen Tanzpartner vorübergehend an die bis dahin geduldig auf ihren Wiedereinsatz wartende Soloflöte abgeben.)
Als weiteres Element der Überraschung darf, nach Wolfgang Marggraf, der Durchführungsteil des im Autograph ohne Tempoangabe versehenen Allegrosgewertet werden:

„Dieser wilde Einbruch leidenschaftlicher Erregung, der die zuvor ausgebreitete eher beschauliche Grundstimmung des Satzes unbarmherzig zerstört, ist in Haydns frühen Sinfonien beispiellos, und es scheint fast selbstverständlich, dass danach nicht zum Anfang des Satzes zurückgeleitet werden könnte, als habe nichts sich ereignet. Die Verstörung ist vielmehr so groß, dass sich das Thema zu Beginn der Reprise in den Streichern ohne allen Bläserglanz nur ganz zaghaft zu Wort meldet, im Piano und nach d-Moll eingetrübt.“5

Weniger zaghaft, dafür im Pianissimo hebt der ansonsten meist in lauter bis sehr lauter Dynamik gehaltene Finalsatz an – ein ins Gegenteil verkehrter premier coup d'archet quasi – der in Paris sicher sehr gefallen hätte.

Félix Rault (*1736 in Bordeaux), Traversflötist, Komponist und Pädagoge. Als Schüler von Michel Blavet wurde Rault bereits 1748(!) unter den Mitgliedern des Orchesters der Pariser Oper geführt. Ab 1765 nahm er an den Aufführungen des Concert spirituel teil. Von 1768–1792 war er zudem Mitglied der Chapelle Royale.
Mercure de France, April 1773, Bd. 2, S. 170 (Übers.: Christian Moritz-Bauer).
Vgl. Wolfgang Fuhrmann: Haydn und sein Publikum. Die Veröffentlichung eines Komponisten, ca. 1750–1815. Habilitationsschrift, Bern 2010, S. 103–105.
Gemeint ist die Sinfonie Nr. 41 in C-Dur von 1768. Ihr Vorsprung in der Debatte um die erste nachweislich in Paris aufgeführte Haydn-Sinfonie besteht u.a. darin, dass der langsame Satz hier tatsächlich als [Poco] Andante und nicht, wie bei Sinfonie Nr. 24, mit Adagio überschrieben steht. Außerdem hat sich von Hob. I:41 ein am 12. Dezember 1771 erstmals angezeigter, mehrfach nachgelegter Stimmendruck vom Verlag des Jean-Georges Sieber in der Rue St. Honoré erhalten, während es auf der anderen Seite scheint, als sei Hob. I:24 – zumindest zu Lebzeiten des Komponisten – niemals in Paris im Druck erschienen. Aus Gründen der Abwechslung im Bereich der Tonarten wird in Projekt 11 der Sinfonie 24 der Vortritt gelassen und Sinfonie 41 dann bei späterer Gelegenheit nachgereicht.
Wolfgang Marggraf: Haydns frühes sinfonisches Schaffen am Hofe zu Eisenstadt (1761–1766). Die Sinfonien des italienischen und des Normaltyps

: www.haydn-sinfonien.de/text/chapter3.1.html, Abruf: 1. Mai 2019.

VOL. 11 _AU GOÛT PARISIEN

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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25

SINFONIE NR. 25 C-DUR HOB. I:25 (1760/1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr:bis 1766/1767 [1760/1761]
26

SINFONIE NR. 26 D-MOLL HOB. I:26 «Lamentatione» (1768)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1770 [1768]

Allegro assai con spirito / Adagio / Menuet – Trio

 

von Christian Moritz-Bauer
War es in der programmeröffnenden Sinfonie ein der Karsamstagsliturgie zugehöriges Alleluja, das in den Orchestersatz verwoben wurde, so zitierte Haydn in dem hier behandelten Werk gleich zwei Choralmelodien. In der um etwa drei Jahre jüngeren und trotz seiner niedrigeren Ordnungszahl in der Chronologie des Haydn'schen Œuvre um ganze zehn Positionen später anzusiedelnden Sinfonie Hob. I:26 scheinen diese sowohl im ersten als auch im mittleren der drei Sätze auf: ein dem Vortrag der mit verteilten Rollen gelesenen Passionsgeschichte und ein den Lamentationes Jeremiae Prophetae, den in den Nachtgebeten von Gründonnerstag bis Karsamstag gesungenen Klageliedern des Propheten Jeremias, zugehöriger Lektionston. Angesichts der inhaltlichen Bezüge zur Leidensgeschichte Jesu Christi wurden auch im Fall dieser Komposition immer wieder Stimmen laut, die sich zugunsten einer ursprünglichen Verwendung einzelner oder auch sämtlicher Sätze zu kirchenmusikalischen Zwecken – etwa in der Liturgie oder im Rahmen von Andachten – aussprachen. Bewiesen werden konnten solche Vermutungen jedenfalls noch nicht – zumindest was die Situation in Eisenstadt betrifft. Anderswo, wie z. B. im Augustiner-Chorherrenstift Herzogenburg, spricht das dort erhaltene, mit «Passio et Lamentatio» überschriebene Aufführungsmaterial in einem hohen Maße für eine solche Verwendung, finden sich doch an bestimmten Stellen im Allegro assai con spirito und zwar in der stimmführenden 2. Violine gewisse, dem Passionsspiel zuzuordnende Personenangaben, wie «Evang:[elista] (T. 17, mit deklamatorischem Charakter), «Christ:[us] (T. 26-31, im Piano mit schreitenden, halben Noten) und Jud:[ae] (T. 35-37, mit hämmernden Vierteln und plötzlich aufrauschender Geigenfigur) wieder. Auch der heute gebräuchliche Beiname der Sinfonie, entweder im italienischen Nominativ als «La Lamentazione» oder in der lateinisch-deklinierten Form als «Lamentatione» überliefert, findet sich in mehreren zeitgenössischen Kopien der verloren gegangenen Haydn'schen Eigenschrift wieder. Charakterlich betrachtet wurde Hob: I:26 aufgrund seiner Tonart, der Intensität der darin zum Ausdruck gebrachten Leidenschaften und nicht zuletzt der (relativ) nahen Entstehung einer «Trauer-» oder «Abschiedssinfonie» (Hob. I:44 bzw. 45), der Sinfonie H-Dur Hob. I:46 oder «La Passione» Hob. I:49, dem vermeintlichen Kanon der sog. Sturm und Drang-Werke Joseph Haydns zugeordnet. Die aus dem Leiden hervorgehende musikalische Trauerarbeit (Sechzehnteltriolen der 1. Violinen als instrumentaler Gegenpart zum Lamentationston von Oboe solo und Violino secondo), folgt dann im anschließenden Adagio, dessen «besondere Klangfarbigkeit» (Übernahme der Stimmführung durch das Tutti der Holzbläser bei Einsatz der Reprise, harmonische Bereicherung derselben durch wohl platzierte neapolitanische Sextakkorde), so Ludwig Finscher, wiederum «auf das kommende Osterwunder» hinzudeuten scheint.1
Auch ohne Choralzitate wohnt dem Menuett-Finale eine besondere Intensität inne. Von Anfang an erzeugen sein herber, zwischen Moll und Dur changierender Tonfall, die neapolitanische Harmonik sowie der zweideutige Rhythmus eine gedrückte, bisweilen aber auch bereits neuen Mut schöpfende Stimmung.

1 Vgl. Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber Verlag, Laaber, 2000, S. 267.

Sinfonie Nr. 26 "La Lamentatione"
VOL. 6 _LAMENTATIONE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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27

SINFONIE NR. 27 G-DUR HOB. I:27 (1757/1760)

Besetzung: 2 Ob, Str
Entstehungsjahr: bis 1766/67 [1757/1760]
28

SINFONIE NR. 28 A-DUR HOB. I:28 (Eisenstadt, 1765/66)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [Ende?] 1765

Allegro di molto / Poco adagio / Menuet. Allegro molto – Trio / Presto assai

 

von Christian Moritz-Bauer

Unter den «Wiener Klassikern» gilt Joseph Haydn als derjenige, welcher der Volksmusik am nächsten stand und das nicht nur weil er im dörflichen Umfeld aufgewachsen und von klein auf durch das häusliche Musizieren der Familie geprägt worden war. Gegenüber den Kollegen, die sich in den urbanen Zentren der Habsburger-Monarchie betätigten, wurden ihm auch die Standorte seines späteren beruflichen Wirkens (insbesondere Eisenstadt und Eszterháza) zum Vorteil – vor allem, wenn es darum ging, sich mit den Ausdrucksformen der in nächster Nähe siedelnden Kroaten, Roma und Ungarn in kreativer Weise auseinanderzusetzen. Tatsächlich ist das «Populare» in Haydns Werken beinahe omnipräsent, sind Tänze und Liedgut der «einfachen Bevölkerung» zu integralen Bausteinen seiner musikalischen Welt geworden.

Was deren Zielpublikum – also Fürst Nikolaus I. Esterházy und seinen Gästen – offensichtlich gut gefiel, stieß anderswo auf umso größere Ablehnung. Ein prominenter Fall, bei dem die traditionell im mittel- bis norddeutschen Raum angesiedelte Zunft der «Musiktheoretiker» wieder einmal mit der «eigene[n] und originellen Manier des Herrn Hayden» in Konflikt geriet, stellt die in einem Pariser Sammeldruck veröffentlichte Sinfonie in A-Dur Hob. I:28 dar. Diese, so Johann Adam Hiller, Herausgeber und Rezensent der Musikalischen Nachrichten und Anmerkungen auf das Jahr 1770, habe «ein hiesiger Componist ohnlängst in eine erträgliche Form gebracht, und die Auswüchse derselben abgeschnitten». Und weiter heißt es: «der letzte Satz im 6/8 Tacte ist im Drucke ganz ausgelassen; hätte man doch lieber das alberne Trio zusammt der Menuet hinweg gelassen!»1

Worin bestanden sie aber nun, die angeblichen «Auswüchse» dieser Sinfonie und was war an dem Trio «albern»? Nehmen wir den Menuettsatz zum Beispiel: Anstelle des zu erwartenden mäßig geschwinden Tempos ist Allegro molto vorgegeben. Außerdem wird der edle Charakter des Tanzes von Beginn an durch verschiedene Kompositionselemente konterkariert. Zu nennen wäre da etwa der Bariolage – eine effektvolle Spieltechnik, bei der eine Tonwiederholung in schneller Folge zwischen leerer und gegriffener Saite changiert – sowie ein von kraftvollen Sprüngen durchsetzter, an alpenländische Jodler erinnernder Melodieverlauf. Das Trio schafft dazu einen eindrücklichen Kontrast. Mit seinen drehleierartigen Begleitfiguren und einer Melodie, die sich im denkbar kleinen Rahmen einer verminderten Quarte bewegt, weckte es bei H. C. Robbins Landon das Bild eines «verlorenen Balkan-Liedes, das weit über die Puszta hinweg erklingt.»2

Auch für das Poco adagio mit seiner deutlich vernehmbaren Konversation verschiedener musikalischer Charaktere hatte der amerikanische Haydnforscher eine mögliche Erklärung parat. So vermutete er, dass es sich bei diesem außergewöhnlichen Satz ursprünglich um die Musik zu einem Schauspiel gehandelt haben könnte. Auffällige Parallelen zur Komposition der Sinfonien Nr. 60, 65 und 67 (bekannt aus den Haydn2032 Projekten «Il distratto» und «Gli impresari») sowie der Umstand, dass für Monate April und Mai 1765 die Gesellschaft der Josepha Schulz nach Eisenstadt verpflichtet worden war, wo sie mit volksnahen Singspielen, Burlesken und Hanswurstiaden zu begeistern wusste, scheinen Landon recht zu geben.3 Der Beschaffenheit des Autographen, des unruhig durchpulsten Allegro di molto mit seinen plötzlich hereinbrechenden Unisonopassagen sowie des «frechen» Menuet und seines «albernen» Trios wegen könnten freilich noch weitere Sätze von Hob. I:28 eines theatermusikalischen Ursprungs gewesen sein. Die Zukunft möge den Beweis dazu erbringen …

Johann Adam Hiller (Hg.): Musikalischen Nachrichten und Anmerkungen auf das Jahr 1770. Erster Theil vom 1ten bis 13ten Stück. Leipzig, Im Verlag der Zeitungs-Expedition. 1770. […] Fünftes Stück. Leipzig den 29ten Januar 1770 […] Nachrichten, S. 37-38.
H.C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works, Bd. 1, Haydn: The Early Years: 1732-1765, London: Thames and Hudson, 1980, S. 573.
Vgl. daselbst, S. 573-574.

Sinfonie Nr. 28
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29

SINFONIE NR. 29 E-DUR HOB. I:29 (1765)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1765

Allegro di molto / Andante / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Die Sinfonie Nr. 29 entstand im Jahr 1765, also zu jener Zeit, in der Joseph Haydn hinsichtlich seiner Aufgaben bereits als esterházyscher Kapellmeister fungierte, den Posten aber erst im folgenden Kalenderjahr – nachdem sein Vorgesetzter Gregor Joseph Werner das Zeitliche gesegnet hatte – auch offiziell besetzen durfte. Das viersätzige Werk steht in E-Dur, das sich in Haydns Sinfonien als Grundtonart nur noch ein weiteres Mal findet, nämlich in der um zwei Jahre früheren Nr. 12. Die beiden Sinfonien weisen Ähnlichkeiten auf, die es nahelegen, dass Haydn mit E-Dur einen bestimmten tonartlichen Charakter anstrebte: vor allem im eher undramatischen «singenden Allegro» zu Beginn, aber auch im vergleichsweise gewichtigen Finale.

Im ersten Satz, Allegro di molto, treten also besonders erlesene, kantable Qualitäten zutage, und zwar bereits während der ersten leise angestimmten Takte, deren Melodie in dialogisierender Weise zwischen den Violinen und Oboen ausgehandelt wird. Die Reprise dieses Gebildes in Sonatenform ist – dem Eindruck des französischen Musikologen Marc Vignal zufolge – «eine der unregelmäßigsten des jungen Haydn. Nach zehn Takten wird mitten in einer Phrase die Eingangsmelodie einer kurzen neuen Entwicklung unterzogen, die ohne Übergang zu einer Art ‚Hilfsthema‘ überleitet. Dem ‚Schlussthema‘ in Triolenform wird darauf ein wichtiger Platz eingeräumt», der den besagten abschliessenden Formabschnitt zum «gefühlsmässigen Höhepunkt des Satzes» macht1.

Der zweiteSatz, ein Andante in A-Dur, das nur von den Streichern gespielt wird, ist dreiteilig gebaut und mit zwei Themen ausgestattet. Das erste, eine graziöse Melodie über schreitenden Achteln der Unterstimmen, fällt dadurch auf, dass seine Phrasen im relativ schnellen Wechsel auf die ersten und zweiten Violinen verteilt wird. Trotz dieses überaus reizvollen Effekts zeigte sich Johann Adam Hiller, als er die Sinfonie nach ihrer Drucklegung im Pariser Verlagshaus des Antoine Bailleux2 in seinen „Musikalischen Nachrichten und Anmerkungen auf das Jahr 1770» rezensierte. So schrieb von einer «lächerlichen Art», in der der «Componist die Melodie […] unter die erste und andere Violin getheilt»3 habe. Tatsächlich wirkt das, was Haydn im Andante der E-Dur-Sinfonie an musikalischem Material zum Einsatz bringt, und auf welche Weise genau dies geschieht, durchaus nicht wenig «lächerlich» – und zwar im (zeitgemässen) Sinne von «zum Lachen reizend»– denn der Melodie ist jedes Mal ein vom Thema abgeleitetes, recht rüde im Forte daher rumpelndes Ritornell der Unterstimmen angefügt. Das kontrastierende zweite Thema ergeht sich darauf – nicht unbedingt «viel gescheiter» – in schier endlosen Synkopenketten über weiterhin schreitenden Bässen. In der Coda des Satzes singen schliesslich beide Violinstimmen noch einmal einträchtig das Hauptthema, bevor ganz zum Abschluss im Unisono des gesamten Streicherapparats das besagte rüde Ritornell noch einmal im Forte erklingt, als ob der Komponist damit nochmals die humoristische Seite dieses durchwegs ungewöhnlichen Satzes betonen wollte.

Das Menuett vereint, wie das eröffnende Allegro molto, Eleganz und Kraft, während sein Trio – für Hörner und Streicher allein gesetzt – jeglicher Melodie entbehrt: Die Hörner beschränken sich auf lang gehaltene Noten, während die Streicher den Rhythmus skandieren: der Bass auf dem ersten, die Violinen und Violen hingegen auf dem zweiten und dritten Taktteil.4 Was für ein Gegensatz zum Finale, einem Presto im Alla breve-Takt, das explosiv, gespannt und beinahe durchgehend lautstark vorzutragen ist. Das in grossen Notenwerten gesetzte Hauptthema des Satzes wird zunächst im Unisono der Streicher vorgestellt, dessen Nachsatz aber bereits kontrapunktische Verarbeitung zeigt. Über weite Strecken ist der Satz von pulsierenden Viertelnoten durchzogen, was dem Ganzen eine enorme motorische Energie verleiht.

1 Zitate nach Marc Vignal, «Joseph Haydn: Sinfonien Nr. 21-24, 28-31 und 34», in: Haydn Symphonies Vol. 4 (1764–65). The Decca Record Company Limited, London 1990, Beiheft, S. 48.
Die Ausgabe, die u. a. auch die Sinfonien Nr. 3, 9, 17, 28 sowie eine Haydn zugeschriebene in Es-Dur enthält, wurde am 2. Oktober 1769 im «Avantcoureur» als «Six Symphonies a huit parties, composees par J. Hayden Maître de Chapelle a Vienne, & publiee par M. Bailleux, Œuvre VII» angezeigt.
Johann Adam Hiller: Musikalischen Nachrichten und Anmerkungen auf das Jahr 1770. Erster Theil […]. Verlag der Zeitungs-Expedition, Leipzig 1770, S. 37f. (Fünftes Stück. Leipzig den 29. Januar 1770: «Nachrichten»).
Mark Ferraguto bringt in «Haydn as ‘Minimalist’: Rethinking Exoticism in the Trios of the 1760s and 1770s», seinem Beitrag zu «Haydn 2009: A Bicentenary Conference. Budapest & Eszterháza, 27.-29. Mai 2009» (= Studia Musicologica 51/1–2, 2010, S. 61-77, hier S. 75) den Eindruck zur Sprache, dass «das Fehlen einer Melodie im engeren Sinne, das ostinatohafte Begleitmuster […], die ansteigende Linie in der Begleitung, die Verwendung des übermäßigen Sekundenintervalls sowie die Wendung zur Moll-Dominante an die karge und heitere Welt der Baryton-Trios» erinnern würden. (Gemeint ist jene Reihe von insgesamt 126 Werken, die Haydn zwischen 1762 und Mitte der 1770er-Jahre für Fürst Nikolaus I. Esterházy und dessen selbstgespieltes Lieblingsinstrument, das Baryton oder Viola di bordone, schrieb.)

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30

SINFONIE NR. 30 C-DUR HOB. I:30 «Alleluja» (1765)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [Frühjahr] 1765

Allegro / Andante / Finale. Tempo di Menuet più tosto Allegretto

 

von Christian Moritz-Bauer
Obwohl uns nur wenige schriftliche Zeugnisse zu Haydns Haltung in Richtung Kirche und Religionsausübung überliefert sind – immerhin sollte er bis auf jene Jahre, in denen er als Chorknabe in Hainburg und St. Stephan zu Wien wirkte, zeitlebens nur weltlichen Fürsten dienen – verraten seine stets mit „In nomine Domini“ überschriebenen bzw. mit „Laus Deo“ schließenden Musikhandschriften den gläubigen, wenngleich auch vom Geist der Aufklärung und den Reformbestrebungen Josephs II. geprägten Katholiken. Dass uns aus der Feder Haydns bis in das Jahr 1766 kaum ein sakrales Werk überliefert ist, dürfte primär an der einst strikten Aufgabenteilung zwischen dem ersten und zweiten Kapellmeister am Hof der Fürsten Esterházy gelegen haben. So sah es etwa Haydns Anstellungsvertrag vom 1. Mai 1761 vor, dass er in der „Chor-Musique Ihme Gregorio Werner, quà Ober-Capel-Meister subordinirt seyn, und von Ihme Dependiren […] In allen andern begebenheiten aber, wo eine Musique immer gemacht werden solle [...] in Genere und Specie"1 zum Alleinverantwortlichen bestimmt war.
Kein Wunder also, dass der frisch gebackene „Vice-Capel-Meister“ und „Haus-Officier“ ob seiner hervorgehobenen Stellung alsbald den Neid des schon altgedienten Gregor Joseph Werner auf sich zog, die sogar eine offizielle Verwarnung Haydns seitens seines Dienstherren, die auf den 3. November 1765 datierten Regulatio Chori KissMartonensis zur Folge haben. Des darin anbefohlenen „Inventarium über alle befindliche Chor-Instrumenten und Musicalien“, sowie der Ermahnung, „sich selbsten embsiger alß bißhero auf die Composition zu legen“2, sollte Haydn u. a. mit seinem ersten, zunächst auch eigenhändig verfassten Werkverzeichnis, dem sogenannten Entwurf-Katalog, begegnen. Allein der Blick auf die bis dato verfassten vierzig Sinfonien – die ca. acht bis neun Frühwerke aus seinem Erstanstellungsverhältnis bei Grafen Morzin freilich mitgezählt – dürfte einen geradezu ungeheuerlichen Eindruck hinterlassen haben. Jedenfalls sollten die betreffenden Katalogseiten alsbald auf mysteriöse Weise verschwinden.

Mit einem Werk von besonderer Güte und zudem noch von religiösen Anspielungen erfüllt, beginnt der sinfonische Reigen des Jahres 1765. Dass die Exposition jener C-Dur-Sinfonie (Hob. I:30) zwar das gregorianische Alleluja der Karsamstagsliturgie (mittels der Tonfolge G – C – D – E – C – D – C) zitiert, selbiges aber zunächst kaum vernehmbar unter den Mittelstimmen versteckt, mag als eine Geste des Respekts gegenüber dem Wirkungsfeld des Kapellmeisters Werner bewertet werden. Im Blick auf das weitere Voranschreiten der Komposition scheint diese allerdings immer mehr zu verblassen. So steht die Choralmelodie zu Beginn der Reprise auf einmal ganz unverhüllt im Tutti der Bläser und von den Streichern nur allzu spärlich begleitet da. Ein weiterer, weit weniger profaner Gedanke drängt sich auf – der an das Wunder der Osternacht ...

Von der Kunstfertigkeit seines Tonsetzers versteht aber auch das Andante zu berichten, worin sich eine Traversflöte in solistischer Weise hervortut. Gestaltet sie ihren Part auf eine zunächst recht artige Manier, so wagt sie es doch aus der rhythmisch pointierten Kleingliedrigkeit des Satzbildes auch einmal vorübergehend auszubrechen, um mit rauschenden 32tel-Figurationen eine Probe ihrer Virtuosität von sich zu geben.

1 Zit. nach Dénes Bartha (Hg.): Joseph Haydn, Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Unter Benutzung der Quellensammlung von H. C. Robbins Landon. Bärenreiter: Kassel, Budapest u.a. 1965, S. 41.
2 Zit. nach ebd., S. 49f.

 

Sinfonie Nr. 30 "Alleluja"
VOL. 6 _LAMENTATIONE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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31

SMYPHONY NO.31 D MAJOR «HORNSIGNAL» HOB. I:31 (1765)

Orchestration: fl, 2 ob, 4 hn, str (with solo-str)
Time of creation: [May-13.9.?] 1765

Allegro / Adagio / Menuet – Trio / Finale. Moderato molto con [7] variazioni. Presto

 

(We are sorry... this content is not yet available in english)

von Christian Moritz-Bauer

Im dreizehnten, mit „Hornsignal“ betitelten Projekt von Hayn2032, kommt einem Instrument eine herausragende Rolle zu: ein Instrument, dessen Geschichte bis in die Urzeit der Menschheit zurückreicht, das seit jeher als weithin hörbares Kommunikationsmittel genutzt wurde und schließlich gegen Ende des 17. Jahrhundert auch Einzug in die Kunstmusik hielt: das Horn.
Die zu Haydns Zeit gebräuchliche Form eben jenes Instruments war das Naturhorn, wobei der Vorrat von Tönen, die es dem Spieler zur Verfügung stellte, primär derjenige der sogenannten Naturtöne war – im tiefen Register weit auseinander, je mehr es in die Höhe ging hingegen desto näher beieinander liegend. Die Kontrolle, die erforderlich war, um ,den richtigen Tonʻ zu treffen, war beträchtlich, insbesondere bei schnellen Passagen in hoher Lage oder beim Wechsel zwischen tiefem und hohem Register. Damit das Horn aber nicht nur in einer, sondern in mehreren, mitunter sogar satzweise aufeinander folgenden, wechselnden Tonarten zum Erklingen gebracht werden konnte, war man auf die Idee gekommen, Instrumente mit auswechselbaren, unterschiedlich langen Zwischenstücken, sogenannten «Aufsteckbögen» zu bauen, die auch als «Inventionshörner» bezeichnet werden.
Während der ersten beiden Jahre der Dienstzeit Joseph Haydns am Hof der Fürsten Esterházy waren zwei Hornisten beschäftigt, die sich auf das Spiel in hoher bzw. niedrigerer Lage spezialisiert hatten. Von 1763 bis 1790 stieg die Zahl der verfügbaren Hornisten regelmäßig, zunächst auf vier, mitunter auch auf fünf, und im Zeitraum von 1769 bis 1772 sogar auf sechs. Viele dieser Spieler hatten mehrere Aufgaben, traten in der Feldharmonie auf, begleiteten die Jagd und spielten in Haydns Orchester. Einige der Hornisten waren auch kompetente Geiger und Bratschisten in deren Funktion sie ebenso in der fürstlichen Kammer- wie Kirchenmusik aufzutreten pflegten.

«Die Lust zu Jagen ließ er dort, kam er zurück, so schränkte die Nähe des Hofes zu Wien seinen Lieblingshang ein, kam er nach Eisenstadt, so bemeisterte sich seiner die Langeweile. Wollte er im Walde zu Süttör jagen, so fand er diese Ergözung rau, doch gefiel ihm die Einsamkeit dieses Ortes.»1

Sie hießen Carl Franz, Thaddäus Steinmüller, Joseph Dietzl und Franz Stamitz, die einstigen Protagonisten jener Komposition, die unter den Sinfonien Joseph Haydns als ein die individuellen Künste seines damals ca. 18-köpfigen Ensembles der esterházy‘schen Hofmusik in besonderer Weise hervorhebender ,Showcaseʻ anzusehen ist. Ihre ungewöhnliche Besetzung mit vier Hörnern, deren Spiel mit verschiedenartigen Signalen, auf mehrere Sätze verteilte Solopassagen für Horn, Flöte, Violine, Oboen, Violoncello und Kontrabass und nicht zuletzt ihre für die damaligen Verhältnisse geradezu monumentalen zeitlichen Ausmaße: die Sinfonie, welche u. a. auch mit namentlichen Zusätzen wie «Auf dem Anstand», «Alla posta» oder «Cor de poste de Nuremberg» geführt bzw. (in einer zeitgenössischen Druckfassung aus London) als eine «Concertante Sinfonia» publiziert wurde, hat obendrein noch ein für die Musik der «Wiener Klassik» ausgesprochen merkwürdiges Satzgebilde vorzuweisen: ein Finale in sehr moderatem Tempo mit sieben Variationen und abschließender Presto-Coda!
Der (mehr oder weniger wissenschaftlich geführten) Diskussionen über Hob. I:31, ob die darin erklingenden Signale, ursprünglich einer Gruppe von Jagd- bzw. Parforcehörnern bzw. einem Posthorn zugehörig waren oder vielmehr auf dem «Signalhorn» (auch «Signaltrompete», französisch clairon, englisch bugle) gespielt wurden, hat es viele gegeben2 – mitunter auch solche, die darin kompositorische Gemeinsamkeiten mit Beethoven Eroica-Sinfonie erkennen wollten3, dass hier nicht der Platz ist, um diese in einer würdigen Weise wiederzugeben.
Wichtiger scheint, dass der Kopfsatz des Werkes, aber auch die mit ihm verklammerte Coda des Schlussatzes als eine «Konfrontation» zweier verschiedener, subjektiv gesehen möglicherweise «nicht zusammenpassende[r] Haltungen»4, verstanden bzw. gehört wird: eine bildliche, die sich aus der Welt von Jagdausritten und Postkutschenfahrten nährt und eine andere, die sich an der Kunstgattung der „Sinfonie“ erfreut – genau wie diese einst von Joseph Haydn auf denkbar außergewöhnliche Weise zur Unterhaltung seines zu Schwermut neigenden, langjährigen Dienstherren Fürst Nikolaus I. Joseph bemüht wurden.

Gottfried von Rotenstein über Nikolaus I. Esterházy. Zit. aus: Stefan Körner, „Die Fürsten Esterházy und die ungarische Jagdgeschichte“, in: Ders. (hrsg. für die Esterházy Privatstiftung Eisenstadt), Fürstliches Halali: Jagd am Hofe Esterházy. München, u. a., 2008, S. 58-133, hier S. 95.
Siehe etwa H. C. Robbins London, Haydn: Chronicle and Works. Haydn: the Early Years 1732-1765. London, 1980, S. 571f., Horst Walter, „Das Posthornsignal bei Haydn und anderen Komponisten des 18. Jahrhunderts“, in: Haydn-Studien 4, München 1980, S. 21-34; Josef Pöschl, Jagdmusik: Kontinuität und Entwicklung in der europäischen Geschichte. Tutzing 1997, hier: Kap. 2.4 [Stilisierung in der Kunstmusik:] Vorklassik und Klassik, S. 78f.; Raymond Monelle, The Musical Topic: Hunt, Military and Pastoral, Bloomington & Idianapolis, 2006, hier: S. 88f., 101, 172.
Vgl. Stephan Wolff, „'Eroica' und 'Hornsignal': Gemeinsamkeiten der Sinfonie Nr. 3 von Ludwig van Beethoven und Nr. 31 von Joseph Haydn“, in: Das Orchester Jg. 38, Heft 6 (Juni 1990), S. 635-41.
4 So Marianne Danckwardt in „Hornsignale in Joseph Haydns Sinfonien“, in: Archiv für Musikwissenschaft Jg. 67, Heft 1 (2010), S. 36-44, hier S. 43f.

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32

SINFONIE NR. 32 C-DUR HOB. I:32 (1760/1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: bis 1766 [1760/1761]
33

SINFONIE NR. 33 C-DUR HOB. I:33 (um 1761/62?)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: bis 1767 [1761/1762?]

Vivace / Andante / Menuet – Trio / Finale. Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

Die Hofmusik der Fürsten Esterházy galt vielen Zeitgenossen als eine der besten weit und breit, durfte sie sich – neben eines Ensembles exzellenter Vokalisten – doch wahrer Meister des Instrumentalspiels wie Luigi Tomasini auf der Violine, Joseph Weigl am Violoncello oder Carl Franz als erstem Hornisten erfreuen. Beherrschte manch einer unter diesen gleich mehrere Instrumente (was Haydn als Kapellmeister eine gewisse Flexibilität bei der Instrumentierung seiner diversen Tonschöpfungen erlaubte), so blieb ihm der Einsatz von Trompeten jedoch grundsätzlich verwehrt – es sei denn, dass er sich die dazugehörigen Musiker hin und wieder aus dem Ensemble der städtischen Ratsmusik lieh. Einer der Anlässe, die solcherlei Extravaganz erlaubten, war die Installationsfeier Nikolaus I. zum Majoratsherren und Nachfolger seines kinderlos verstorbenen Bruders Paul II. Anton, die am 18. Mai 1762 begangen wurde2.  Dieses, oder vielleicht ein anderes, noch etwas früheres Ereignis, mag es demnach gewesen sein, aus dessen Anlass die Sinfonie C-Dur Hob. I:33 zum ersten Mal und mit personeller Unterstützung seitens des Eisenstädter Thurnermeisters Anton Höld d. Ä. erklungen war3;  ein Werk, das – vielleicht auch aus Gründen der Pietät – sich seinem Publikum gegenüber weniger glanz- als mehr gefühlvoll gab.  Tatsächlich sind es die Nebenschauplätze, die kleinen, feinsinnigen, miteinander kommunizierenden Details, die den besonderen Reiz dieser Festmusik versprühen: etwa der senza Basso ausgeführte Seitensatz im anfänglichen Vivace, der der Viola eine so markante wie tragende Rolle zugesteht, oder das ihm unmittelbar vorausgehende lebhafte Wechselspiel von erster und zweiter Violine, aus dem sich in der Durchführung ein wahrhaft vergnüglicher kleiner ,Ballwechselʻ entwickeln wird. Dann ein von leiser Melancholie wie kontrapunktischen Stilelementen durchwobenes Andante, das vom Trio des Menuettsatzes, welches sich auf subtile Weise mit der humorstiftenden Wirkung synkopisch versetzter Stimmverläufe beschäftigt, beantwortet wird. Damit aber nicht genug, folgt doch darauf noch das finale Allegro, dessen unbekümmert auftanzendes Thema im Verlauf des Satzes eine vorübergehende, dramatische Wendung nach Moll nimmt. Angesichts seiner Entfernung vom leichtgewichtigen Kehraus früherer Werke und seines manipulativen Umgangs auf motivischer Ebene erkennt A. Peter Brown in ihm nicht weniger als einen der bedeutendsten Entwicklungsschritte des großen Sinfonikers4.

1 Zur Frage der Datierung von Hob. I:33 vgl. Ullrich Scheideler, „Vorwort“, in: Joseph Haydn-Institut Köln (Hg.): Joseph Haydn. Sinfonien um 1761 – 1765, München 2012 (= Joseph Haydn Werke. Reihe I, Band 2), S. VIIIf.
Laut einem Archivale der Esterházy Privatstiftung Archiv Burg Forchtenstein [23.05.1762, GC 1762 R 5 F 4 N 8] „Eisenstädter Thurnermeister quittiert Bezahlung für Trompeten- und Paukenmusik bei Installationsfeier am 18. Mai“ (http://www.haydnstiftung.at/EHB10/ehb.php, Abruf: 03.03.2021).
Vgl. Sepp Gmasz, „Die Musik der Bürger“, in: Harald Prickler und Johann Seedoch (Hg.): Eisenstadt: Bausteine zur Geschichte. Eisenstadt 1998, S. 155–166, hier insb. S. 157–161 (Abschnitt „Die Ratsmusikanten dominieren das 18. Jahrhundert“)
A. Peter Brown: The Symphonic Repertoire Vol. II: The First Golden Age of The Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven, and Schubert. Bloomington & Indianapolis 2002, S. 47.  

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34

SINFONIE NR. 34 D-MOLL/D-DUR HOB. I:34 (1763)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1767 [1763]
35

SINFONIE NR. 35 B-DUR HOB. I:35

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1.12.1767

Allegro di molto / Andante / Menuet. Un poco allegretto – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Das Autograph jener Sinfonia, welche den Auftakt zur bereits 9. Station auf unserem Weg zum Jubiläumsjahr 2032 bildet, trägt eine auf den Tag genaue Datierung: «den 1ten 10bris 767» (nach heutigen Schreibgepflogenheiten also «1. Dezember 1767»). Was hat es mit dieser Angabe auf sich? Wollte Joseph Haydn, der seine in Partitur gesetzten Eigenschriften gewöhnlicherweise nur mit einer Jahreszahl versah, so auf den Beginn oder vielmehr das Ende seiner Kompositionsarbeit verweisen? Wohl weder das eine noch das andere… Wie der berühmte Haydnforscher H. C. Robbins Landon betont, war dieser 1. Dezember vermutlich jener Tag, an dem Nikolaus I. Esterházy von einer nach Paris und Versailles unternommenen Reise heimkehrte – ein Mittelding zwischen Lust- und Bildungsreise, auf die er u. a. Nikolaus Jacoby, den Bauzeichner seiner Schlossanlage bei Süttör, genannt «Eszterház» sowie seinen Konzertmeister Luigi Tomasini mitgenommen hatte1. Nicht von der Partie war Haydn. Ihm blieb allein die Ehre seinen Fürsten bei dessen Rückkehr mit einer musikalischen Darbietung zu begrüßen. In Anbetracht dieses äußeren Anlasses, weil das B-Dur von Hob. I:35 in jener Zeit als prachtvoll-majestätisch umschrieben wurde und ihre Musik von einem redenden, beinahe theatralischen Charakter erfüllt erscheint, sei hier der Versuch einer «erzählenden Deutung» unternommen:
Ruhig sind die Tage geworden seit seine Hochfürstliche Durchlaucht gen Paris abgereist, wo er sich letzte Inspirationen für die Ausgestaltung seines «ungarischen Versailles» zu holen suchte. Doch sollte er sich nicht in Kürze ereignen, der Tag seiner Heimkehr? [Zum leisen Trommeln der Streicherbässe macht freudige Erregung sich breit (Allegro di molto).]

Aus der Ferne erschallt der Ruf eines Horns und auf den staubigen Landstraßen mit ihren tiefen Schlaglöchern eilt ein Tross aus Kutschen und Reitern dahin. Die Vierergespanne legen sich kräftig ins Zeug. Eine Gruppe von Kindern macht sich mit sprunghaften Sechzehntelfiguren an die barfüßige Verfolgung der Reisegesellschaft, während auf den Feldern und Wiesen das einfache Volk sich bei Gesang und Tanz vergnügt. Doch noch liegt Eisenstadt in weiter Ferne und in den Hallen des fürstlichen Schlosses werden Stimmen laut, die ihrer Sorge auf bisweilen heftige Weise Ausdruck verleihen: Wird denn der Herr auch gesund und wohlbehalten heimkehren? Der Eintritt der Reprise schenkt neue Zuversicht und liefert zugleich das erhoffte Signal, welches das Öffnen der Tore befiehlt. Die Kunde verbreitet sich wie ein Lauffeuer: im Zwiegespräch der Violinen wird das Satzthema auf spielerische Weise fortgesponnen und mit dem bereits eingangs erklungenen Galoppmotiv zu einem fröhlichen Schlusspunkt geführt.

Nikolaus, den sie den «Prachtliebenden» nennen, ist wieder zuhause und lässt sich – durch seine Gemächer schreitend – (Andante) von den Klängen eines Streicherdivertimento unterhalten. Die Stimmung ist gut, fast zu gut. Um ein Haar hätte er sogar ein paar kleine Tanzschritte gewagt... Inmitten des zweiten Formabschnitts nimmt die zuerst so still vergnügt daherkommende Musik auf einmal melancholische Züge an, die sie aber – nach ein paar wenigen, auf das Hauptwerk des heutigen Konzertabends vorausschauenden Takten – mittels einer unisono geführten Forte-Passage doch noch abzuwenden vermag.

Das Fest zur Rückkehr des Fürsten wird natürlich mit einem Maskenball begangen und von einem Menuet (Un poco allegretto) mit prominent in Szene gesetzten Hörnern, dem erklärten Lieblingsinstrument des jagdbegeisterten Fürsten, eröffnet. Man feiert, tanzt und ist vergnügt bis in die frühen Morgenstunden. Mit seiner Fanfare aus drei aufeinander folgenden, ansteigenden Akkorden und den dazwischen geschalteten, mal leise im Duett der Violinen, mal kraftvoll im Orchestertutti erklingenden (aber stets von großer Sprungkraft geprägten) Binnenabschnitten bleibt das Presto-Finale allen noch lange im Ohr.

Vgl. H.C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works, Vol. 2, Haydn at Eszterháza: 1766-1790. London 1978, S. 141

Sinfonie Nr. 35
VOL. 9 _L'ADDIO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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36

SINFONIE NR. 36 ES-DUR HOB. I:36 (1761/62)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1769 [1761/1762]

Vivace / Adagio* / Menuet – Trio / Finale. Allegro molto
* mit Violino und Violoncello solo


von Christian Moritz-Bauer

Joseph Haydns Sinfonie Nr. 36 – streng chronologisch gesehen ist sie sein 21. erhalten gebliebenes Werk dieser Gattung – erblickte das Licht der Welt in einer Zeitspanne, die von der aktuellen Forschung als «2. Hälfte 1761 bis Frühjahr 1762» angegeben wird. Folglich war sie also noch für die Ohren des am 18. März in Wien verstorbenen Fürsten Paul II. Anton bestimmt, auf dessen Bestreben die massgebliche Erweiterung der esterházy’schen Hofkapelle des Jahres 1761 (inklusive der Vergabe des neugeschaffenen Vizekapellmeisterposten an Haydn) zurückging. Wie die ihr unmittelbar vorausgehenden «Tageszeiten-Sinfonien»(Nr. 6–8), deren Stimmungsbilder Haydn mit mancherlei instrumentalen Soli zeichnete, verfügt auch die Es-Dur-Sinfonie über einprägsame solistische Passagen, die sich hier aber auf das an zweiter Stelle befindliche Adagio beschränken – und für deren Vortrag sich einst die Hofmusiker Luigi Tomasini und Joseph Weigl verantwortlich zeichneten. Daselbst also lösen sich ein «Violino principale» und ein «Violoncello solo»aus dem Verbund des Streicherapparates, um im kunstvoll-galanten Wechselspiel durch eine ruhige, kantable Landschaft zu promenieren. Um dieses Adagio gruppieren sich ein von fröhlich-schmetterndem Hörnergetön durchsetztes Vivace, ein erfrischend freches Menuet inklusive eines Trios voller dynamischer Kontraste sowie – auf das letztere folgend – ein finales Allegro molto mit imitatorisch abgefeuerten Es-Dur-Raketen, zwischen deren gleißenden Fontänen Haydn einige seiner unnachahmlichen piano-Plaudereien aber auch ein überraschend düsteres Seitenthema untergebracht hat. Wer mag ob all diesen Geschehnissen nicht in Versuchung geraten dahinter ein ähnlich «programmatisches» Gedankengut zu vermuten – wie in den drei poetischen Tableaux, die wir als «Le midi», «Le matin» und «Le soir» kennen? Jedenfalls ist zu hoffen, dass Paul II. Anton angesichts seiner voranschreitenden Erkrankung das neueste Werk seines Vizekapellmeisters noch gebührend würdigen konnte.

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37

SINFONIE NR. 37 C-DUR HOB. I:37 (1757/1758)

Besetzung: 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1758 [1757/1758]
38

SINFONIE NR. 38 C-DUR HOB. I:38 (1767)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1769 [1767]
39

SINFONIE NR. 39 G-MOLL HOB. I:39 (1765)

Besetzung: 2 Ob, 4 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1770 [Mai-Sept.? 1765]

Allegro assai / Andante / Menuet. Trio / Finale: Allegro di molto

 

von Christian Moritz-Bauer

Mit Hob I:39 hat das vorliegende, dem Motto «Leidenschaft» gewidmete und mit «La Passione» überschriebene Programm nicht nur einen weiteren Schöpfungsakt – dem sinfonischen Erstling aus 1757 folgt Haydns erste in einer Molltonart Geschriebene – sondern auch einen Höhepunkt der ganz besonderen Art anzubieten: des Komponisten einziger, nach allen Regeln der Kunst geschaffener Beitrag zur g-Moll-Sinfonie der Wiener Klassik und deren historischem Vorfeld. Aus diesem Anlass sei hier zunächst ein Exkurs unternommen, der jener in zwei größeren Wellen mit durchaus wahrscheinlicher, gegenseitiger Anregung zw. 1758 und 1773 bzw. 1785 und 1788 entstandenen Gruppe an Werken gewidmet ist, welche sich im kollektiven Gedächtnis von Musikforschenden, -ausübenden wie -liebhabern als die wohl dramatischste unter den Sinfonien jener Zeit festsetzen konnte.
Das Wort hat Herr Prof. em. Dr. Klaus Hortschansky, u.a. Vize-Präsident des Joseph Haydn-Instituts in Köln:

«Spätestens seit Hermann Aberts (1871-1927) Überarbeitung der großen Mozart-Biographie von Otto Jahn (1813-1869) in den Jahren 1919-1921 wird den g-Moll-Sinfonien Mozarts oder auch Haydns ein besonderes Augenmerk gewidmet und ihnen dabei ein tieferer, bedeutungsvollerer Empfindungs- oder Ausdrucksgehalt zugeschrieben als manch anderem Werk. Das ließe sich anhand der wissenschaftlichen wie auch der popularisierenden Literatur leicht belegen. Beispielhaft sei etwa darauf hingewiesen, dass Otto Jahn 1856 die «kleine» g-Moll-Sinfonie Mozarts KV 183 noch in einem einzigen Satz behandelte, während Abert beinahe vier Seiten auf die Beschreibung «jener leidenschaftlichen, pessimistischen Stimmung […] die seit dem Lucio Silla in Mozart immer wieder zum Ausdruck kommt», verwendet. Im Gefolge des für ein neues Mozartverständnis nach dem 1. Weltkrieg grundlegenden Werkes von Abert beschäftigte man sich nun auch bald mit den g-Moll-Sinfonien anderer Komponisten wie Johann Christian Bach (1735–1782), Johann Baptist Vanhal (1739–1813), Leopold Kozeluch (1752–1818) oder Franz Beck (1723–1809). Mancher Komponist erfuhr in der Literatur geradezu eine Aufwertung dadurch, dass er eine g-Moll-Sinfonie geschrieben hatte. In Susanne Clercx' Monographie zu Pierre van Maldere von 1948 etwa nimmt die Erörterung der g-Moll-Sinfonie [der Nr. 1 aus dessen 1764 erschienenem Op. IV] bei weitem den breitesten Raum im Rahmen der Auseinandersetzung mit dessen sinfonischem Oeuvre ein. Rund um die g-Moll-Sinfonien entbrannte sowohl in der allgemeinen als auch in der monografischen Literatur zu den einzelnen Komponisten die Diskussion um die Bedeutung dieser Werke im Schaffen des einzelnen Künstlers wie auch im Rahmen allgemein geistesgeschichtlicher Zusammenhänge. Zwei hier stark vereinfachte Denkmodelle sind dabei immer wieder vorgetragen worden […]:

Modell I: Eine jedwede g-Moll-Sinfonie an sich erwächst aus einer «romantischen Krise» des Komponisten. Überhaupt soll eine persönliche innere Anteilnahme an einem Moll-Werk vergleichsweise größer sein als an anderen, also Dur-Werken, und ein Moll-Werk beinhalte nicht selten eine Selbstdarstellung des Komponisten.
Eine solche Interpretation ist bereits bei Hermann Abert, sofern es die persönliche Haltung Mozarts betrifft, und wird von Howard Chandler Robbins Landon in einem 1956 in Paris gehaltenen Vortrag mit dem Titel «La crise romantique dans la musique autrichienne» weiterentwickelt. Robbins Landon stellt dabei einige Vorläufer zu Mozarts «kleiner» g-Moll-Sinfonie im Wiener Umkreis um 1770 unter den Gesichtspunkt einer kompositorischen Reform in den Zusammenhang einer Schule. Die persönliche Krise ist dabei zugleich eine «crise émotionelle collective».

Modell II: Jede g-Moll-Sinfonie ist das Resultat der von Herder und den norddeutschen Dichtern um Klopstock ausgehenden Welle des «Sturm und Drang», deren Gefühlsüberschwang und die Form als Norm sprengende, Ausdrucksbefriedigung verheißende Ästhetik sich nun auch die Komponisten zu eigen machen wollten. Ansatzpunkt für eine solche Interpretation ist Hans Heinrich Eggebrechts Aufsatz über «Das Ausdrucksprinzip im musikalischen Sturm und Drang», in dem der Wandel von der Affekten-Theorie zu einer neuen Ausdrucksästhetik behandelt wird.

Während jene Modelle, die ursprünglich zur Abgrenzung von anderen, weniger ausdrucksstarken Instrumentalwerken ihrer Zeit herangezogen wurden, nun schon seit Jahren zusehends an Anhängerschaft verlieren, trotzdem aber – zumindest was den «Sturm und Drang» betrifft – entgegen wiederholter Bemühungen seitens der Forschung noch immer durch keinen Alternativbegriff nachhaltig verdrängt werden konnten, hat es selbige doch mittlerweile geschafft, bei zahlreichen vormals ungeklärten Datierungsfragen ein Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Als besonders hilfreich hat sich im Falle der g-Moll-Sinfonie Joseph Haydns, neben dem «Entwurf-Katalog», den der Komponist Ende 1765 angelegt hatte und in dem sie unter den Nachträgen der zweiten erhaltenen Seite aufscheint, v.a. die Auswertung des «Catalogue de Mr de Keeß à Vienne», des sog. Keeß-Katalogs erwiesen. Selbiger, der ein Verzeichnis von dereinst im Besitz des Franz Bernhard Ritter von Keeß befindlichen Abschriften Haydn'scher Sinfonien von deren Anfängen bis ins Jahr 1789 in annähernd chronologischer Folge darstellt, listet die Nr. 39 im Hoboken-Verzeichnis zwischen den beiden im Autograph erhaltenen und mit 1765 datierten Sinfonien Nr. 29 (E-Dur) und Nr. 28 (A-Dur). Als weiteres Mittel zur Eingrenzung ihres Entstehungszeitraumes hat Sonja Gerlach die hier geforderten vier anstelle der gewöhnlich nur zwei verwendeten Hornstimmen angeführt – eine Besetzung, die Haydn ab dem Mai jenen Jahres (seit 1763 erstmals wieder) zur Verfügung stand und noch vor dessen Abschluss in der Komposition der Nr. 31 zu abermaligem Gebrauch gelangen sollte. Anders jedoch als in jener D-Dur-Sinfonie lässt Haydn die beiden zu Paaren in B alto und in G gestimmten Hörner in diesem von Gerlach als «regelrechte Streicher-Sinfonie» apostrophierten «genialem Werk» aber kaum jemals gleichzeitig, sondern meist nur im Wechsel miteinander erklingen. Warum nur dann dieser Aufwand?
Der Einsatz eines zweiten Hornpaares hat in diesem besonderen Fall mit der der kompositorischen Arbeit vorausgehenden Entscheidung für eine Molltonart sowie der zugleich gefassten Idee zu tun, den Hörnerklang auch in den der Klangwelt der Dur-Parallele zugehörigen Seitenthemen der Ecksätze zum Einsatz zu bringen, ohne dass deren Spieler die Stimmbögen ihrer Instrumente, auf deren jeweilige Naturtonreihe ihr Repertoire an Tönen beschränkt war, in großer Eile zu wechseln hätten.
Was macht nun ein Haydn aus den ihm hierdurch gegebenen harmonisch-melodischen wie klangfarblichen Möglichkeiten? Die ersten Takte des Allegro assai aus Hob. I:39 bringen mit ihrer «wiegenden Seufzerbewegung nichts anderes als die Präsentation der kleinen Terz und die Markierung der V. Stufe, nämlich D-Dur. Das scheint zunächst wenig zu sein;» konstatiert Hortschansky und es sei ihm recht gegeben, denn auch der Nachsatz des eröffnenden Themas besteht gewissermaßen nur aus einer Aneinanderkettung von zu Vorhaltsnoten degradierten Leittönen, die aber durch manch einen dazwischen geschalteten Septimsprung die erwartete «dramatische Note» erhält. Die Genialität des Satzes offenbart sich erst ein wenig später, genauer gesagt inmitten der sich direkt anschließenden, allzu wörtlich beginnenden Wiederholung des Themas. Dieses wechselt nämlich auf halber Strecke plötzlich nach B-Dur und trotz dieser Umblendung ins andere, vermeintlich lichtere Tongeschlecht, werden die Zuhörer mit einem Male – ob sie nun darauf gefasst waren oder nicht – von der vorwärts drängenden Energie und Leidenschaft der Musik vollkommen mitgerissen, wozu nicht nur die sich wiederholt in abwärts gerichtete Tiraden stürzenden Läufe der Violinen, sondern auch ein kurzer, kraftvoller Schlagabtausch der beiden Hörnerpaare das ihrige beisteuern. Die Ambivalenz von Moll und Dur bleibt uns denn über alle folgenden Formteile erhalten, was für anhaltenden Konfliktstoff zwischen alten und neu(verarbeitet)en Motiven und den von ihnen eingenommen von Pausen durchtrennten Passagen sorgt.

Wenngleich der folgende, im Tempo zurückgenommene Satz nicht an die vorausgehende Theatralik anknüpft, so haben wir es hier weiß Gott nicht mit «a great disappointment» (H.C. Robbins Landon), sondern viel eher mit einem auf den Fußspitzen getanzten Andante im 3/8-Takt zu tun, welches in der für Haydn recht ungewöhnlichen Tonart der Untermediante (also in Es-Dur) steht und sich manch geistreicher Pointe rühmen kann – einschließlich eines im Pianissimo verklingenden, kurzen Nachspiels.
Dem von Antonini mit strengem Gestus geleiteten und von seinen Mitstreitern in zügigem Tempo genommenen Menuet mit solistisch geführten Oboen und Hörnerstimmen im Trio – hier sind diejenigen in «hoch B», danach wieder jene in G an der Reihe – folgt ein abermals zur Gänze von Bühneneffekten erfülltes Allegro di molto, in dem es ausgehend von weiten Intervallsprüngen der 1. Violinen über erregten 16tel-Repititionen der Zweiten sowie der Violen, von sich mitunter taktweise aufkreuzenden dynamischen Kontrasten und rhythmischen Akzenten nur so blitzt und blinkt. Machen Sie sich auf wilden Ritt der lombardischen Musiker gefasst, welcher nur in einer, dadurch umso merkwürdiger erscheinenden Passage eine vorübergehende Beruhigung erfährt: den ins Piano zurückgenommenen intimen Zwiegesang der Violinen zu Beginn der Durchführung.

Das Nicht-Hinzurechnen der Pariser Sinfonie Nr. 83, auch als "La Poule" ("Die Henne") bekannt, begründet sich dadurch, dass hier alsbald – genauer gesagt ab dem erstmaligen Erklingen des "gackernden" Seitenthemas das harte über das weiche Tongeschlecht die Oberhand gewinnt sowie das Ende des Kopfsatzes, der Menuett- und der Finalsatz zur Gänze in der Durvariante zum anfänglichen g-Moll stehen.
Otto Jahn, W. A. Mozart, Bd. 1, Leipzig 1856, S. 566; Hermann Abert, W. A. Mozart, 7. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1955, S. 316-319.
H. C. Robbins Landon, La crise romantique dans la musique autrichienne vers 1770. Quelques précurseurs inconnus de la symphonie en sol mineur (KV 183) de Mozart, in: Les influences étrangères dans l'œuvre de W.A. Mozart. Colloques internationaux […], Paris 1956, S. 27-47.
Ebd. S. 32.
In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), S. 323-349; auch in: Hans Heinrich Eggebrecht, Musikalisches Denken. Aufsätze zur Theorie und Ästhetik der Musik, Wilhelmshaven 1977, S. 69-111 (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft 46).
Klaus Hortschansky, Die g-Moll-Sinfonie zur Zeit der Wiener Klassik, in: Traditionen - Neuansätze: Für Anna Amalie Abert (1906-1996), hrsg. von Klaus Hortschansky, Tutzing 1997, S. 329-348, hier S. 330f.
Sonja Gerlach, Neues zur Chronologie von Haydns Sinfonien, in: Das symphonische Werk Joseph Haydns. Referate des internationalen musikwissenschaftlichen Symposions Eisenstadt, 13.-15. September 1995, hrsg. Von Gerhard J. Winkler, Eisenstadt 2000, S. 15-26, insbes. S. 22ff. (= Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 103).
Ebd. S. 25.
Hortschansky, Die g-Moll-Sinfonie zur Zeit der Wiener Klassik, S. 340.
10 H. C. Robbins Landon, The Symphonies of Joseph Haydn, London 1955, S. 296.

VOL. 1 _LA PASSIONE

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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40

SINFONIE NR. 40 F-DUR HOB. I:40 (1763)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [Anfang?] 1763
41

SINFONIE NR. 41 IN C-DUR HOB. I:41 (1767)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1.2.1767-1770 [1768]
42

SINFONIE NR. 42 D-DUR HOB. I:42 (1771)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str (mit Solo für 2 Fg od. 2 Vc)
Entstehungsjahr: [Sept.-Dez.?] 1771

Moderato e maestoso / Andantino e cantabile / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Scherzando e presto

 

von Christian Moritz-Bauer

War in Bezug auf das Orchestervorspiel der Isola disabitata bereits vom Idiom des «Sturm und Drang» im Sinne einer in den Jahren um 1770 in Mode gekommenen, affektisch überzeichneten musikalischen Ausdrucksweise die Rede, so wird denn leicht übersehen, dass besonders auch in Haydns kompositorischem Denken jener Zeit eine ganze Reihe weiterer Eigentümlichkeiten am Werk erkennbar sind, deren Fortbestand sich als vergleichsweise nachhaltiger erweisen sollte. Unter Forschern ist hier u.a. von einem «popularen Stil» die Rede, bzw. davon, dass Haydns sinfonisches Schaffen – aufgrund der von seinem Dienstgeber angeordneten Beschäftigung mit dem Musiktheater einerseits, sowie durch befruchtende Kontakte zum zeitgenössischen Sprechtheater andererseits – sich in zunehmender Form zum «Theatralischen» hin entwickelte. So wurden etwa der Kopfsatz der 1771 komponierten Sinfonia in D, Hob. I:42, mit seiner Litanei an entsprechenden Floskeln, seinen Akkordschlägen, singenden Violinmelodien, Unisono-Passagen von aufsteigenden Skalen und fallenden Dreiklangsbrechungen bis hin zu einem im Orchestertutti auskomponierten Crescendo gar als «eine italienische Opernsinfonie parodierend« 1 dargestellt. Tatsächlich scheint es im Moderato e maestoso von Einigem «etwas zu viel» zu geben, wobei allein die Anzahl von bis zu 448 Takten (bei Ausführung im vorgeschriebenen Tempo und Einhaltung aller Wiederholungen) ihn zu einem der längsten Instrumentalsätze Haydns werden lassen – ein Umstand also, der nach einer kleinen Bestandsaufnahme verlangt: Dem thematischen Hauptgedanken folgt nicht nur ein, sondern kurz vor Ende des ersten Formabschnitts («Exposition») auch noch ein zweiter, recht keck daher kommender Nebengedanke samt dynamisch kontrastierender Überleitung. Der zweite Abschnitt («Durchführung») besticht durch eine trügerische Haupt- und eine ebensolche Nebenkadenz – zwei «Scheinreprisen» also – während der dritte (die eigentliche «Reprise») an einem überraschenden, traumverhangenen Punkt ins Stocken und vorzeitige Verklingen gerät.

«Fünf verschiedene melodische Theile, bey denen noch überdieß bis zur ersten Cadenz weiter kein melodisches Verlängerungsmittel gebraucht ist, als die Wiederholung» 2 erkennt ein Zeitgenosse Haydns, der bedeutende Musiktheoretiker Heinrich Christoph Koch in dem recht nachdenklich erscheinenden, bisweilen von gezügelten Geistesblitzen bestimmten Andantino e cantabile. Eine solche Stelle wurde von Haydn selbst mit den berühmten Worten «Dieses war vor gar zu gelehrte ohren» gekennzeichnet und gehört zu einer Passage in der die 1. Violine ursprünglich einen vor sich hin seufzenden, kurzen Alleingang hätte vollziehen sollen. Im mittleren Teil dieses A-Dur-Satzes, dem Koch in seinem Versuch einer Anleitung zur Composition ein kleines Denkmal setzte, bestimmen Molltonarten das harmonische Geschehen, wobei es mit fortschreitender Zeit erscheint, als suche der Tonschöpfer selbst voller Verzweiflung nach einem Ausweg aus der Finsternis in fis, bis auch der letzte Hoffnungsschimmer erloschen ist. Da eilt – bekräftigt durch wohltuende Bläserfarben – die plötzliche Wiederkehr des in sich ruhenden Anfangsthemas zu Hilfe. Von schwebender Leichtigkeit ist auch das mit kreiselnden Achteltriolen ausstaffierte Allegretto-Menuett erfüllt, während das den Streichern allein überlassene Trio wie ein akustischer Ausflug in die bezaubernde Vogelwelt des nahegelegenen Neusiedlersees anmutet. Eine grundsätzlich höhere Beachtung hat seit jeher indes das folgende Finale. Scherzando e presto erhalten, bei dem es sich Sonja Gerlach zufolge um «Haydns erstes Variationenrondo», also ein «festgefügtes fünfteiliges Rondo, mit der […] Besonderheit, daß die wiederkehrenden Refrains variiert sind» 3 handeln würde. Besonders spannend wird es natürlich – wie so oft in Rondosätzen – in den dazwischen liegenden Couplets, wo wir es hier an erster Stelle mit einer spritzigen Harmoniemusikeinlage für 2 Oboen, 2 Hörner und 2 Fagotte zu tun haben, an zweiter Stelle hingegen mit einer Wanderung durchs düstere Reich der Mollvariante, deren sprunghafte Ausbrüche ein wenig an Einen der auszog das Fürchten zu lernen erinnern.

A. Peter Brown, The Symphonic Repertoire Vol. II – The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert, Bloomington 2002, S. 130.
Heinrich Christoph Koch, Versuch einer Anleitung zur Composition, 3. Teil, Leipzig 1793, S. 382.
Sonja Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in Haydn-Studien 7/1-2 (1996), S. 192.

VOL. 3 _SOLO E PENSOSO

Giovanni Antonini, Francesca Aspromonte, Il Giardino Armonico

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43

SINFONIE NR. 43 ES-DUR «MERKUR» HOB. I:43 (1770/1771?)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1772 [1770/1771]

Allegro / Adagio / Menuet – Trio / Finale. Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

Haydns Erfahrungen mit Volksmusik rührten nicht nur aus seiner familiären Vergangenheit, sondern vor allem aus Begegnungen in und um die Residenzen seiner Herrschaft her. Welch selbstverständlichen Anteil diese am höfischen Leben der Fürsten Esterházy hatten, zeigt folgender Auszug eines Berichts von den Hochzeitsfeierlichkeiten der Maria Theresia Johanna Gräfin von Lamberg-Sprinzenstein, einer Nichte Nikolaus I., die auf Schloss Eszterháza im Herbstmonat des Jahres 1770 abgehalten wurden:

[…] bald aber zog ein anderes Schauspiel die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich, da nämlich eine große Menge dasiger Landbauern und Bäuerinnen ganz unvermuthet zum Vorschein kam, welche durch Bauerntänze, ihre ländlichen Gesänge, und ihre große Freude, die auf ihren Gesichtern lebhaft sich zeigte, zur Belustigung der hohen Gesellschaft nicht wenig beitragen; dieses Bauernfest dauerte bis in den größten Theil der Nacht hinein, wobey man Sorge trug, mit reichlicher Ausspendung von Wein, und vielen Speisen, dasselbe immer mehr zu beleben.1

Wie es sich für die zwischen 1768 und 1775 abgehaltenen (spät-)sommerlichen Hoffeste gebührte, war des Fürsten «ungarisches Versailles» mit seinen Schloss- und Theatergebäuden, seinem Park mit Caffee- und Chinesischem Haus, Heremitage, diversen Tempeln und angrenzendem Tiergehege Schauplatz aller nur erdenklichen Lustbarkeiten: Von Opernaufführungen und Maskenbällen über Konzerte der Hofkapelle und allerlei Darbietungen der derzeit gastierenden Schauspieltruppen bis hin zu Jagden und Feuerwerken.

So ist anzunehmen, dass im Zuge der erwähnten Feiern im September des Jahres 1770 nicht nur des fürstlichen Kapellmeisters neues «italiänisch gesungenes Lustspiel, le Pescatrici oder die Fischerinnen», sondern auch eine seiner jüngsten Sinfonien zur Aufführung kam. Aus stilistischer wie chronologischer Sicht könnte es sich dabei ohne weiteres um diejenige in Es-Dur Hob. I:43 gehandelt haben. Das Werk, welches von Robbins Landon mit dem Orden einer «Austrian Chamber Symphony par excellence» ausgezeichnet wurde und zum Repertoirestück der Musique du Roy am Hofe Ludwig XVI. avancierte,2 sollte einst mit dem Beinamen »Merkur« versehen werden. Ob hier eine Verwechslung mit Sinfonie Nr. 50 stattgefunden haben könnte, deren Anfangssätze einst als Ouvertüre zur Marionettenoper Philemon und Baucis Verwendung dienten,3 bleibt fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass ihre Namensgebung einer gewissen Modeerscheinung jener Zeit entspricht, derzufolge kammermusikalische Sinfonien mit den Namen klassischer Götter belegt wurden, ohne dass sich dahinter konkrete programmatische Inhalte erkennen ließen. Als Beispiel hierfür wären die Sinfonien des mit Haydn befreundeten Geigers und Komponisten Wenzel Pichl zu nennen, der in den frühen 1770er Jahren die Stelle des Konzertmeisters am Wiener Kärtnertortheater innehatte und später von Mailand aus als Musikagent der Fürsten Esterházy tätig war.

Aus einem (dem Anlass entsprechenden?) Überraschungseffekt mit dreimaligem Forteschlag und kantablen Streicher-Zwischenspielen entwickelt sich eines der längsten Themen, das Haydn jemals an den Anfang einer Sinfonie stellte. Fast möchte man meinen, der Komponist habe sich zu sehr in die «entspannte Schönheit» seines ersten Gedankens verliebt, der«etwas ziellos um die erste Umkehrung des Tonikadreiklangs zu kreisen [scheint].» Aber gerade das – meint James Webster – sei Haydns Absicht gewesen. Geradezu demonstrativ weigere er sich «etwas zu tun, so dass wir zunehmend unruhig werden, mehr und mehr das Bedürfnis haben, etwas neues zu hören.»4 Wie ein verspätetes Geschenk künden im Forte herabstürzende Sechzehntremoli dann schließlich doch vom Ende des Themas und leiten mit einer energiegeladenen Passage in den lyrischen Seitensatz hinüber. Von hier aus führt uns der Weg durch eine Region wilder Skalen. Begleitet vom forschen Gang der Streicherbässe geht es unter der zerklüfteten Silhouette einer violinistischen Achtel-Kette hindurch bis zum ersten Doppelstrich. Nach jener Tour de force, die zwischendurch mehrfach vor einem vorzeitigem Abbruch stand, dürfte das Adagio mit seinem «geradezu rhapsodisch verströmenden Ausdruck der Empfindsamkeit»5 dem Publikum einst einem Quell erfrischend kühlen Wassers geglichen haben. Mit einem lebhaften Menuetts nimmt die Komposition wieder an Fahrt auf. Für eine Überraschung sorgt abermals das Trio, das sich in seiner motivischen Gestalt gleichsam tänzerisch wie rhythmisch instabil verhält. Ausgesprochen populär geht es im Finalsatz zu, einem singenden Allegro mit an den zweiten Wiederholungsteil angehängter 41-taktiger Coda: «Die Zeit scheint aufzuhören, die Notenwerte werden immer langsamer. Schließlich verhallen alle Klänge – bis auf die erste Geige, die sich zu einem rätselhaften ges'' hinaufschwingt. Es folgt eine von Haydns «wunderbaren Stillen»,6 dann stürzt sich die Musik in ein letztes Tutti und führt diese elegante Kammersinfonie zum Schluss.

Wienerisches Diarium oder Nachrichten von Staats, vermischten und gelehrten Nachrichten. Verlegt bey den von Ghelischen Erben. Nro. 77. Mittwoch den 26. Herbstmon[at] 1770, S. 5.
H.C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works, Bd. 2, Haydn at Eszterháza: 1766-1790, London: Thames and Hudson, 1978, S. 300.
Vgl. A. Peter Brown: The Symphonic Repertoire. Vol. II. The First Golden Age of the Vienese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven, and Schubert. Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press, 2002, S. 128. 
James Webster: Hob.I:43 Symphonie in Es-Dur. Informationstext zur Sinfonie Nr. 43 der Haydn-Festspiele Eisenstadt: http://www.haydn107.com/index.php?id=2&sym=43
5 Walter Lessing: Die Sinfonien von Joseph Haydn, dazu: sämtliche Messen. Eine Sendereihe im Südwestfunk Baden-Baden 1987-89, hg. vom Südwestfunk Baden-Baden in 3 Bänden. Bd .2, Baden-Baden 1989, S. 39.
6 H.C. Robbins Landon 1978, S. 300.

Sinfonie Nr. 43 "Merkur"
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44

SINFONIE NR. 44 E-MOLL «TRAUERSINFONIE» HOB. I:44 (1770/1771)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1772 [1770/1771]
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45

SINFONIE NR. 45 FIS-MOLL «ABSCHIED» HOB. I:45

Besetzung: 2 Ob, Fg, 2 Hr, Str (mit Solo-Str)
Entstehungsjahr: [2. Hälfte?] 1772

Allegro assai / Adagio / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Presto – Adagio

 

von Christian Moritz-Bauer

Dass Joseph Haydns Sinfonie fis-Moll Hob. I:45, der sog. «Abschiedssinfonie», im Laufe der Musikgeschichtsschreibung ihre bekanntermaßen prominente Stellung zuteil werden sollte, hat sie vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) der Vielgestalt und Bildhaftigkeit jener anekdotischen Entstehungsgeschichten zu verdanken, die ab den frühen 1780er Jahren um sie herum gesponnen wurden. Eine von diesen, nämlich diejenige, die Haydn in späteren Zeiten seinem Biographen Georg August Griesinger gegenüber zum Besten gab, sei hier zur Erinnerung nochmals im Detail wiedergegeben:

Unter der Kapelle des Fürsten Esterhazy befanden sich mehrere junge, rüstige Ehemänner, die im Sommer, wo sich der Fürst auf seinem Schloss Esterhaz aufhielt, ihre Weiber in Eisenstadt zurücklassen mußten. Gegen seine Gewohnheit wollte der Fürst einst den Aufenthalt in Esterhaz um mehrere Wochen verlängern; die zärtlichen Eheleute, äußerst bestürzt über diese Nachricht, wandten sich an Haydn und baten ihn, Rat zu schaffen.
Haydn kam auf den Einfall, eine Symphonie zu schreiben […] in welcher ein Instrument nach dem andern verstummt. Diese Symphonie wurde bei der ersten Gelegenheit in Gegenwart des Fürsten aufgeführt, und jeder von den Musikern war angewiesen, sowie seine Partie geendigt war, sein Licht zu löschen, die Noten zusammenzupacken und mit seinem Instrument unter dem Arme fortzugehen. Der Fürst und die Anwesenden verstanden den Sinn dieser Pantomime sogleich, und den andern Tag erfolgte der Befehl zum Aufbruch von Esterhaz1

.Warum die Musiker der fürstlich-esterházyschen Kapelle einst ihre Frauen und Kinder in Eisenstadt lassen und über Monate hinweg ein einsames Dasein inmitten jener sumpfigen Tiefebene verbringen mussten, welche die südöstlich des Neusiedler Sees gelegene Sommerresidenz ihres Dienstherren viele Kilometer weit umgab, steht auf einem anderen Blatt geschrieben: «Beruffen Sie alle Musicos zu sich, und bedeuten Sie ihnen in meinem Nahmen, daß ich künftig hin ihre Weiber und Kinder nicht einmal auf 24 Stund in Eszterhaz sehen wolle, die Haydnin, Fribertin, Dichtlerin, Celinin und Thomasinin ausgenohmen»2 heißt es in einer schriftlichen Anweisung, die Nikolaus I. am 8. Januar 1772 aus Wien an seinen Güterregenten Peter Ludwig Rahier in Eisenstadt sandte – ein autoritärer, ja geradezu unbarmherzig erscheinender Befehl, der aber seine durchaus praktischen Hintergründe besessen haben dürfte: Im sog. «Musikerhaus», das für die Unterbringung aller im fürstlichen Musik- und Theaterbetrieb beschäftigten Personen errichtet worden und seinerzeit noch im Ausbau befindlich war, herrschte ein akuter Mangel an Wohnraum, der sich sogar noch dadurch vergrößerte, dass die zum 1. Mai selbigen Jahres erwartete Gesellschaft des Schauspielers Carl Wahr mit siebzehn anstelle der im Vertrag festgehaltenen «wenig[stens] Zwölf Convenablen gut agirenden Persohnen»3 eingetroffen war.

Ob Haydn mit der «Abschiedssinfonie» tatsächlich das Ziel verfolgte Fürst Nikolaus zu einer rücksichtsvolleren Haltung gegenüber seinem an Sehnsucht und Heimweh erkrankten Orchesterpersonal zu bewegen, soll – auch angesichts der vielen anderen einst kursierenden Erzählungen – einmal dahingestellt sein. In jedem Fall haben wir es hier mit einem Kunstwerk zu tun, bei dem das gesamte musikalische Geschehen auf das berühmte Schlussbild eines sich auflösenden Klangkörpers hinausläuft und dabei einen bis ins letzte Detail durchdachten dramatischen Aufbau verfolgt: Auf ein Allegro assai von ungezügelter, monothematisch verbreiteter Leidenschaft folgt ein «von zärtlicher, süßer Wehmut»4 erfülltes Adagio sowie ein tonal «entlegenes» Menuett (Allegretto), dessen im Trio-Teil zitierter gregorianischer Lamentationston der Kunst- und Kulturhistoriker Thomas Tolley mit dem katholischen Ritus des «Tenebrae» – das Lichterlöschen während der abendlichen Stundengebete von Gründonnerstag bis Karsamstag – in Verbindung brachte.5

Was aber dachte sich Haydn, damals an jenem kühlen, windigen Abend Ende Oktober / Anfang November, als er sein Werk zu Papier brachte? Hatte er Sorge um die Reaktion seines Fürsten, als er im Adagio-Teil des Finalsatzes ein Instrument ums andere verstummen ließ? Verspürte er gar einen Anflug von Zivilcourage als er an die Situation seiner Musiker dachte? «Eigentlich [besteht] keine Veranlassung, an Haydns Aussage zu zweifeln», so Gerhard J. Winkler, dass «die sog. Abschiedssymphonie […] in Eszterháza tatsächlich realpantomimisch, also mit dem Hinausgehen der Orchestermitglieder, aufgeführt worden [ist]. Die etwas kuriose Anekdote kann sogar als Illustration dienen, was im Beziehungsdreieck zwischen Fürst, Kapellmeister und Orchester möglich war. Denn wie immer die Sinfonie Nr. 45 in Eszterháza gegeben zu werden pflegte: Fürst Nikolaus muss die – sei es pantomimisch-buchstäbliche, sei es imaginäre – Vorführung, wie sich sein Orchester vor seinen Augen auflöst, zur Kenntnis genommen und goutiert haben. Andernfalls hätte er Haydn entlassen müssen.»6

Georg August Griesinger: Biographische Notizen über Joseph Haydn. Leipzig, 1810, S. 28f.
Zit. nach: „Dokumente aus dem Esterházy-Archiven in Eienstadt und Forchtenstein, herausgegeben aus dem Nachlass von Janós Hárich II. Kommentar: Else Radant und H. C. Robbins Landon“, in: H. C. Robbins Landon, Otto Biba und David Wyn Jones (Hg.): Das Haydn Jahrbuch / The Haydn Yearbook, Bd / Vol. XIX 1994, S. 43.
Zit. nach ebda. S. 44.
Zit. nach Walter Lessing: Die Sinfonien von Joseph Haydn, Band II, Baden-Baden 1988, S. 65.
Vgl. Thomas Tolley: Rainting the Cannon's Roar. Music, the Visual Arts and the Rise of an Attentive Public in the Age of Haydn, c. 1750 to c. 1810. Aldershot, 2001, S. 86f.
Zit. nach Gerhard J. Winkler: „'Orchesterpantomime' in den Esterházy-Sinfonien Joseph Haydns“, in: ders. (Hg.), Das symphonische Werk Joseph Haydns. Referate des internationalen musikwissenschaftlichen Symposions Eisenstadt, 13.-15. September 1995, Eisenstadt, 2000 (= Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 103), S. 103-116, hier S. 113.

Sinfonie Nr. 45 "Abschied"
VOL. 9 _L'ADDIO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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46

SINFONIE NR. 46 H-DUR HOB. I:46 (1772)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [2. Hälfte?] 1772

von Christian Moritz-Bauer

Die Sinfonien Nr. 46 und 47, die Joseph Haydn im Jahr seines 40. Geburtstags als Kapellmeister Nikolaus I. Esterházy zu Papier bringt, werden im Kontext der „Abschiedssinfonie“, der später als Op. 20 gedruckten „Sonnenquartette“ sowie der (um 1770/71 geschriebenen und im Breitkopf-Katalog von 1772 angebotenen) „Trauersinfonie“ Nr. 44 als ein erster absoluter Höhepunkt seines kompositorischen Schaffens betrachtet. Sie verstehen all das in sich zu vereinigen, was anderthalb Jahrzehnte systematischer Erprobung der „verschiedensten Möglichkeiten der […] symphonischen Form und des symphonischen Ausdrucks“ an Früchten erbracht und – wie in Griesingers Biographischen Notizen nachzulesen – den fortwährenden „Beyfall“ seines Fürsten gefunden hatte.

Vivace / Poco adagio / Menuet. Allegretto – Trio / Finale: Presto e scherzando

Mit Hob I:45, der berühmten Anekdote zufolge eine in Töne gesetzte Bitte an Fürst Nikolaus seine Musiker nach allzu langer auf Schloss Eszterháza verbrachter Zeit wieder zu ihren Familien nach Eisenstadt heimkehren zu lassen, hat die als ihr Schwesternwerk gehandelte H-Dur-Sinfonie Hob. I:46 – James Webster etwa bezeichnet sie als „a pair of programmatic works“ und verweist auf div. tonartliche wie harmonische Bezüge – neben der außergewöhnlichen Häufung an Vorzeichen auch einen Finalsatz vorzuweisen, der nicht nur gleichermaßen originelle, sondern zunehmend eigenartige, ja beinahe groteske Züge annimmt und manch einen Kenner bereits zum Vergleich mit seinem Gegenstück aus Beethoven Sinfonie Nr. 5 herausgefordert haben: Ein gleichsam leise wie übermütig im Duett der ersten und zweiten Violinen angestimmtes Thema gerät – trotz wiederholter im Tuttisatz beigesteuerter Orgelpunkt- und Sequenzpassagen – an mehreren, besonders markanten Schnittstellen ins Stocken. So kann sich inmitten der Reprise ein Teil des vorausgehenden Menuettsatzes einschleichen und in einer zuvor nicht dagewesenen Regelmäßigkeit „breit machen“ – eine „formale Frechheit“, befindet Sonja Gerlach. An diesem Punkt angekommen scheint er, der in der Abschiedssinfonie planmäßig herbeigeführte Auflösungsprozess des Ensembles schon beinahe besiegelt zu sein. Doch da ertönt ein Hörnerklang, der zur allgemeinen Ordnung ruft und die melodieführenden Primgeigen eine entspannte und erstmals zu einem ordentlichen Schluss geführte Themenvariante anstimmen lässt.
Der Presto e scherzando-Satz steht aber – was die Irregularitäten seiner motivisch-thematischen Abläufe betrifft – nicht alleine da. Schon das eröffnende Vivace zeichnet sich durch die Schnelllebigkeit seiner musikalischen Gedanken aus – im Falle des unisono eingeführten und immer neue Kombinationen eingehenden anfänglichen Viertonmotivs, etwa mit einer kontrapunktisch geführten Gegenstimme oder mit sich selbst in kanonischer Verarbeitung. Auch ein dynamisch exponierter, aus einer Überleitung der Hauptperiode herrührender Seitengedanke, der uns ins fis-Moll der Abschiedssinfonie entführt, straft manch eine Hörgewohnheit Lügen …
Durchaus gemischte Gefühlsregungen vermag auch das anschließende Poco adagio hervorzurufen, welches sich in wiegender Sicilianomelodik und zierlich-trippelnden Sechzehntel-Staccati dahinbewegt. Vergleichsweise „handfest“ gibt sich hingegen der Tonfall des Allegretto-Menuetts, dessen charakteristische Achteltreppchen des öfteren schon für (barocke) Seufzerfiguren gehalten wurden, im Grunde genommen aber nichts anderes als aneinandergereihte Appoggiaturen (also eine Art galanter Spielfiguren) darstellen, die hier den Rahmen für einen düster-atmosphärisch durchkomponierten Trioteil bilden.

Wie aber lässt sich die besondere Klangwelt von Hob. I:65 in Worte fassen, wie sich ihr Entstehungsweg erklären?

Vielmehr als bei „modernen“ Orchestern wirkt sich auf sog. alten bzw. Originalinstrumenten das Spiel verschiedener Tonarten sowohl auf die unmittelbar produzierten Klänge, als auch auf die bei den Zuhörern hervorgerufenen Empfindungen aus. Wenngleich letztere je nach Individuum, seiner Geschichte und Lebenssituation selbstverständlich differieren können, haben sich Komponisten wie Theoretiker über Generationen hinweg bemüht, mit den jeweiligen „Tönen“ verbundene, allgemein gültige Charakteristika zu beschreiben. So wird beispielsweise in Christian Friedrich Daniel Schubarts berühmten, um 1784 entstandenen „Ideen zur Ästhetik der Tonkunst“ das mit fünf Kreuzen überaus reich bestückte H-Dur als „stark gefärbt, wilde Leidenschaften ankündigend, aus den grellsten Farben zusammengesetzt“ dargestellt.

Eine besondere Qualität der zwischen 1768 und 1772 entstandenen Sinfonien Joseph Haydns, die traditionellerweise mit dem der Literaturgeschichte entlehnten Begriff des „Sturm und Drang“ belegt werden, liegt in der (nicht zuletzt durch die Verwendung zahlreicher Moll- und vom Gängigen abweichender Tonarten) erreichten Intensivierung des Ausdrucks, der manch kompositions- wie instrumentaltechnisches Experiment vorausgegangen war. So konnten aufgrund zweier, am 22. Oktober 1772 in Rechnung gestellter, „halbthöniger Krumpbögen“ etwa die Aufsteckbögen der noch ventillosen Hörner von G oder C alto nach Fis bzw. H zu verlängert und folglich ihr Spiel um einen Vorrat entsprechender Naturtöne erweitert werden. Dass selbige Anschaffung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Entstehungsprozess der Sinfonien Nr. 45 und 46 gesehen werden muss, versteht sich dabei nahezu von selbst.
In Bezug auf ihre klangliche Seite erscheinen jene Teile, in denen die Hörner in H-Dur spielen, – die Rede ist von den beiden Ecksätzen, sowie dem Menuettteil des dritten Satzes – jedenfalls eindeutig schärfer (zumal die Streicher dort oft nur zweistimmig oder im Oktavabstand geführt werden), als in den in h-Moll stehenden Adagio und Trio, zu welchen die Hornisten nach den weichere Klänge hervorbringenden D-Bögen greifen.
„Dass Haydns Autograph ein abweichendes, sehr selten zu findendes Wasserzeichen aufweist, könnte [nach Sonja Gerlach] die Hypothese eines [vorangegangenen] Ortwechsels unterstützen“, also für ein unmittelbares Zu-Papier-bringen der H-Dur- nach Vollendung der Abschiedssinfonie im Herbst 1772 sprechen.

Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 272.
Georg Anton Griesinger, Biographische Notizen über Joseph Haydn, Leipzig 1810, S. 24f.
„Vielleicht sollte“ - so Finscher - „die [Abschieds-]Symphonie auch gegen [letztlich wieder fallengelassene] Pläne des Fürsten helfen, die Kapelle zu verkleinern und die Gehälter zu kürzen. Zit. Nach L. Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, S. 34.
James Webster, Haydn's “Farewell” Symphony and the Idea of Classical Style, Cambridge 1991, S. 287.
Haydn, der rein theoretisch während seiner Jahre als Kapellknabe zu St. Stephan in Wien der Aufführung eine H-Dur-Sinfonie von Georg Matthias Monn hätte beiwohnen können, schrieb außer einer verloren gegangenen Klaviersonate kein weiteres Werk in dieser entlegenen Tonart.
Sonja Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in Haydn-Studien 7/1-2 (1996), S. 180.
Ludwig Finscher spricht ihm ein enges Verwandtschaftsverhältnis zum Hauptthema des 1. Satze der e-Moll-Sinfonie Nr. 44 zu, das seiner eigenen Umkehrung gleicht.
Sonja Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in Haydn-Studien 7/1-2 (1996), S. 159.

VOL. 2 _IL FILOSOFO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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47

SINFONIE NR. 47 G-DUR HOB. I:47 (1772)

Besetzung: 2 Ob, Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1772

Allegro – Un poco adagio, cantabile – Menuetto e Trio al roverso – Presto assai

 

von Christian Moritz-Bauer

Ein vollkommen andersartig, jedoch nicht weniger eindrücklich gestalteter Tanzsatz, steht im Zentrum der Sinfonie in G-Dur Hob. I:47, der ihr auch den gelegentlich anzutreffenden Beinamen „Palindrom“ bescherte. Vielleicht waren es ja jene mit geistreich platzierten Akzenten versehene zehn Menuett- und zwölf Triotakte, die, weil sie dem Einfall des Komponisten entsprechend, zuerst wie notiert, dann aber al roverso, d.h. in spiegelbildlich-verkehrter Folge vorgetragen werden sollten, einem Wolfgang Amadeus Mozart so sehr gefielen, dass er dem Werk einen Auftritt bei seinen musikalischen Akademien in Wien bescheren wollte. Dies jedenfalls geht aus einer handschriftlichen Notiz hervor, welche sich heute im Besitz der Historical Society of Philadelphia befindet.

Eine besondere Anziehungskraft weiß aber auch der in Haydns Eigenschrift ohne Tempobezeichnung überlieferte Kopfsatz auszustrahlen, der sich mit seinen terrassenförmig aufgeschichteten Bläserfanfaren wie eine „große C-Dur-Symphonie“ gibt und den dissonantreich-spannungsgeladenen Anfangsakkorden feinpunktierte Violineinwürfe und „schubertisch entspannte“ Triolenläufe mit sachte oben aufgelegter Oboenkantilene gegenüber stellt.
So ist auch die Wirkung von durchaus heftiger Natur, wenn wir uns bei Eintritt der Reprise mit einem Mal im gegengeschlechtlichen g-Moll wiederfinden. Der Schrecken weilt aber glücklicherweise nicht lange und wird durch den anschließenden Variationssatz mit ausgedehnter Coda – als dessen unmittelbares Vorbild der zweite Satz aus der Nr. 4 der „Sonnenquartette“ op. 20 gedient haben dürfte – mit doppeltem Kontrapunkt in der Oktave, fagotto sempre col basso und zartblühenden Bläserfarben in den von Streicherklängen umrahmten Mittelteilen noch zusätzlich abgemildert.
Die sich von Abschnitt zu Abschnitt verkürzenden Notenwerte – der hierfür gebräuchliche Fachbegriff nennt sich „Diminutionsvariationen“ – schlagen bereits eine Brücke zum werkbeschließenden, die klassische Rondoform vortäuschenden Presto assai. Sein leise dahinjagendes Streicherthema – zu dessen Ausführung das schnellste in Haydns sinfonischem Schaffen jemals geforderte Tempo vorgeschrieben ist – kontrastiert mit lärmenden Tutti- und abgründigen Mollpassagen, als deren sonderbarste, geradezu exotisch anmutende Zutat wohl jene Vorschlagsfigur zu bezeichnen wäre, welche der 2009 verstorbene große Haydnforscher H. C. Robbins Landon einst auf den Namen „Balkan snap“ taufte.

Wenngleich Hob I:47 in einer gegenüber dem fis-Moll der Abschiedssinfonie bzw. H-Dur der Nr. 46 vergleichsweise „normalen“ Tonart notiert wurde, so präsentiert sie uns doch „einen Komponisten, der den überlieferten Traditionen nicht mehr zu folgen gewillt ist. Ein jeder Satz verabschiedet sich von den Konventionen früherer Haydn'scher Werke und der Wiener Sinfonie in seiner Gesamtheit / a composer who is unwilling to be comfortable with tradition; each movement departs from the conventions of Haydn's previous and the Viennese symphony in general.“ (A. Peter Brown)

Sonja Gerlach hält es für nicht ausgeschlossen, dass Haydn hier „von einer Modewelle beeinflusst war“ und führt einen von 1770 datierenden Hinweis aus Johann Adam Hillers Musikalischen Nachrichten und Anmerkungen auf „eine künstliche Menuet von Herrn Capellmeister [Carl Philipp Emanuel] Bach in Hamburg“ an, die „als Räthsel vorgelegt“ wurde. Vgl. S. Gerlach, Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in Haydn-Studien 7/1-2 (1996), S. 178
Auch Fürst Nikolaus I. Esterházy scheint „einen Narren“ an der Spielerei seines Kapellmeisters „gefressen zu haben“, wird es doch – nach A-Dur transponiert – in einer ihm zu 60. Geburtstag gewidmeten Sammlung von Klaviersonaten eine Renaissance erleben.
Hinter selbigen könnte sich eine besondere Zuwendung Haydns an den im April 1772 zum 2. Hornisten aufgerückten Johann May verbergen, was mit Gerlachs Datierungsversuch auf „Frühjahr 1772“ durchaus in Einklang zu bringen wäre.
Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 279.
H. C. Robbins Landon, Haydn: Chronicle And Works, Vol. II: Haydn at Eszterháza 1766–1790, London 1978, S. 305.
A. Peter Brown, The Symphonic Repertoire Vol. II – The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert, Bloomington 2002, S. 139.

VOL. 2 _IL FILOSOFO

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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48

SINFONIE NR. 48 C-DUR «MARIA THERESIA» HOB. I:48 (1769)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1769? (oder bis 1773) [1769]

Allegro / Adagio / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

«Bei einer neuen Komposition stiegen weitere Raketen in unvorstellbare Höhen. Goldregen verstreuend, fielen sie herunter und verschwanden funkelnd hinter dem Laub der Bäume, wo sie hier und dort noch manches Mal zu sehen waren.»1

Haydns Orchester besaß zwar zahlreiche Hornisten – insgesamt waren in dieser Position zwischen 1761 und 1790 mindestens 18 Personen in fürstlich-esterházy‘schen Diensten beschäftigt2 – dafür aber keine (eigenen) Trompeter. Letzterer Umstand konnte sich für einen Komponisten der Zeit als durchaus ungünstig erweisen, war die von Trompeten und Pauken gefärbte Klangfülle des C-Dur doch ein verbreitetes orchestrales Merkmal, das in Kirchenmusik, Sinfonie und Oper – drei seinerzeit für besonderes repräsentativ befundene Zweige eines mehr oder weniger öffentlichen Musiklebens – gleichermaßen gerne genutzt wurde. Um diesen Mangel zu überwinden, griff Haydn zu einer damals geradezu einzigartigen Lösung: Wann immer er die besagte unverwechselbare C-Dur-Welt evozieren wollte, benutzte er Hörner als ,Ersatztrompetenʻ und wies sie an in ⁄, also eine Oktave höher zu spielen, als dies normalerweise der Fall war. Ein gutes Beispiel für diese Praxis stellt die Sinfonie Nr. 48 dar, die zwar den Auftakt des heutigen musikalischen Geschehens bildet, ursprünglich aber im Zentrum der Feier zum Abschluss der allerersten auf Schloss Eszterház, der prachtvollen, nahe des Weilers Süttör südöstlich des Neusiedlersees gelegenen Sommerresidenz von Nikolaus I. Esterházy veranstalteten Theatersaison gestanden sein dürfte. Wie auch in den folgenden Jahren war es der 15. Oktober 1769, an dem die per Anfang Mai begonnene Spielzeit einer vertraglich gebundenen Theatergesellschaft ihr glanzvolles Ende fand – und das nicht von ungefähr. Es war dies nämlich3
Wenngleich die Monarchin – im Gegensatz zu Ihrem hochoffiziellen Besuch des Jahre 1773 – dem festlichen Treiben aus Konzert und Theater, Feuerwerk und Maskenball im Herbst 1769 nicht persönlich beigewohnt haben dürfte, so brachte man ihr bzw. ihrer Namenspatronin, der hl. Teresa von Avila zu Ehren, doch zumindest ein neues Werk des esterházy‘schen Kapellmeisters zu Gehör. Solches lässt sich allein schon dadurch vermuten, dass eine Reihe von autornahen Stimmabschriften der nicht autograph überlieferten, aber mit Sicherheit auf das Jahr 1769 zurückgehenden Sinfonia in C den Namenszug «Santa Teresia» bzw. «Sinfonia Sanctae Theresiae» tragen – ein Phänomen wie es bisher hauptsächlich aus dem Bereich festtäglicher Kirchenmusik bekannt war. In der Haydn-Forschung, welche letzterem Umstand bislang keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, war dem Werk, dessen «offizieller» Beiname «Maria Theresia» sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts zu manifestieren begann, ein direkter bzw. anlassgebundener Bezug zu jener legendären und für die Geschichte der Familie Esterházy so überaus bedeutsamen Fürstin des Hauses Habsburg zuletzt sogar allgemein infrage gestellt worden. Dass die C-Dur-Sinfonie indes nicht nur eine außermusikalische Verbindung zu Werken wie etwa Beethovens Ouvertüre «Zur Namensfeier» Kaiser Franz I. op. 115, sondern gar eine programmatisch anmutende Beziehung zu den beiden anderen, festlichen Programmpunkten jenes 15. Oktober 1769 aufzuweisen hat, klingt aber auch aus der Musik an sich heraus: ein Allegro, das nach einem von Bläserfanfaren gespickten Beginn und dazwischen geschalteter Ruhephase aus den Reihen der hohen und tiefen Streicher wechselseitig Motivraketen in die Höhe schnellen lässt, ein Adagio mit in gedämpften Stimmen redenden Violinen und gelegentlichen, paarweise geführten Oboen- wie Hornsoli; ein bewegtes Menuet das mit seiner reichen Ausstattung von Verzierungszeichen an den Auftakt eines höfischen Maskenspiels erinnert sowie ein heiterer, im Allegro alla breve in die klare Herbstnacht hinaus stürmender Kehraus.

Zit. aus Relation des fêtes données a Sa Majesté L'Imperatrice par S A Mgr Le Prince d'Esterházy dans son Château d' Esterhaz le 1er & 2e 7bre 1773. Vienne de l'Imprimerie de Ghelen. S. XI (Übersetzung: Christian Moritz-Bauer).
Vgl. Paul Bryan, „Haydn's Hornists“, in: Haydn-Studien 3, München 1973, S. 52-8.
Vgl. Christian Moritz-Bauer, Das sinfonische Schaffen Joseph Haydns und seine Verbindung zum zeitgenössischen Theaterwesen. Wien, i. V. (= Eisenstädter Haydn-Berichte 13), Kap. 4.5 Bühnenereignisse und Hoffeste zur Zeit Nikolaus I. Esterházy.

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49

SINFONIE NR. 49 F-MOLL «LA PASSIONE» HOB. I:49 (1768)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1768

Adagio / Allegro di molto / Menuet. Trio / Finale: Presto

Die Sinfonie in f-Moll ist die einzige des Auftaktprojekts zu Haydn 2032, von der sich das Autograph erhalten hat. Dieses wird in der Stockholmer Musik- und Theaterbibliothek (vormals Bibliothek der Königlichen Musikakademie) verwahrt und trägt die von Haydn stammende Jahreszahl (1)768. Folglich zählt das Werk zu den ersten Sinfonien, die Haydn nach einer etwa anderthalbjährigen Unterbrechung geschrieben hatte, welche sich vermutlich darin begründet, dass er nach dem Tod Georg Joseph Werners auf den Posten des ersten esterházyschen Kapellmeisters vorgerückt war und sich mit seinem Schaffen zunächst auf die ihm bislang vorenthaltene Kirchenmusik konzentrierte.
Gemeinhin unter dem Beinamen «La Passione» bekannt, wird dieser mittlerweile aber als nicht authentisch eingestuft, findet er sich – was die überlieferten musikalischen Quellen betrifft – doch nur in einer, aus Sicht des Haydn'schen Urtexts in geographischer, zeitlicher wie stemmatologischer Hinsicht doch sehr entfernt gelegenen Stimmenabschrift wieder, die um 1790 über einen Leipziger Musikalienhändler ins mecklenburgische Schwerin gelangt war. Dort wiederum soll es eine seit langer Zeit bestehende Tradition von in der Karwoche aufgeführten Passionsoratorien gegeben haben und zwischen 1756 und 1785 sogar alles Weltliche aus dem öffentlichen Musikleben verbannt worden sein.
Von einer sich gleichfalls auf Leipzig beziehenden Begebenheit, ein im Frühjahr 1811 aufgeführtes «Concert zum Besten der hiesigen Armenanstalten» berichtet die «Allgemeine musikalische Zeitung», dass es «durch die Haydnsche Symphonie aus F moll (La Passione) eröffnet» wurde, die «bekanntlich aus seiner frühern Zeit und auf einen besondern, ihn tief verwundenden Trauerfall unter den Seinen geschrieben worden» sei.

Leider können wir, wie bei den meisten der frühen bis mittleren Sinfonien Joseph Haydns wie auch im Fall der vermeintlichen Passionssinfonie über den konkreten Anlass nur mehr oder weniger vage Vermutungen anstellen. Den Erkenntnissen der an der New Yorker Columbia University lehrenden Elaine Sisman zufolge scheint allerdings eines gewiss zu sein:
Die f-Moll-Sinfonie gelangte (wenngleich wohl Jahre nachdem sie zum ersten mal erklungen war) zu einer Wiedergeburt der ganz anderen Art, und zwar in Form musikalischer Zwischenspiele inmitten einer Produktion zeitgenössischen Sprechtheaters.
Ausgangspunkt für jene Begenheit dürfte die aus Zeitungsberichten wie Theaterjournalen bekannt gewordene Zusammenarbeit Joseph Haydns mit der gefeierten Schauspieltruppe des Karl Wahr gewesen sein. Zwischen 1772 und 1776 war diese alljährlich mit Gastspielen auf Schloss Esterháza zu erleben, wobei es nach Der Zerstreute (1774), einer ins Deutsche übersetzten Fassung des französischen Bühnenklassikers Le Distrait von Jean-François Regnard, von der sich die später zur Sinfonie Nr. 60 («Il distratto») deklarierte sechssätzige Originalmusik erhalten hat, zu einer ganzen Reihe weiterer Kooperationen gekommen sein soll.
Neben Shakespeares Hamlet und Goethes Götz von Berlichingen, von denen es heißt, dass auch hierzu Musik von Haydn erklungen sei oder zumindest erklingen hätte sollen, war da ein Schauspiel des französischen Dichters und Moralisten Sébastien-Roch Nicolas de Chamfort (1740–1794), ein Einakter mit Name La jeune Indienne, welcher am 8. Januar 1776 unter dem Titel Die junge Indianerin nachweislich in Salzburg zur Aufführung kam und infolge auch mit größter Wahrscheinlichkeit am Hof der Esterházys gespielt wurde, aber nicht nur das ... In einer um 1780 zusammengetragenen und im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien befindlichen Sammlung von diversem Aufführungsmaterial zu Hob I:49, steht auf dem Titelblatt einer instrumentalen Bass-Stimme zu lesen: «nel suo antusiasmo [sic] il Quakuo [recte: quaquero] di bel'humore» – «in seinem Eifer, der gutherzige Quäker». Angesichts der im auffällig schnell voranschreitenden, alsbald auch Wien erreichenden Popularität des französischen Einakters, der auch unter dem Alternativtitel «Der Quäker» zur Aufführung kam, kann es sich hier nur um ein und dasselbe Werk gehandelt haben.

Der literarischen Gattung der Comédie larmoyante (zu deutsch «rührende Komödie», «rührendes Lustspiel» oder einfach Rührstück genannt) zugehörig, durfte sich Die junge Indianerin sowohl der Bewunderung Voltaires als auch eines Jean-Jacques Rousseau rühmen und das nicht zuletzt auch deshalb, weil darin das in der Aufklärung so allseits beliebte Motiv der «Edlen Wilden» verwoben war: Das Leben des reisenden Belton wird nach erlittenem Schiffsbruch von einer Indianerin und ihrem greisen Vater, welche die einsame (vermutlich westindische) Insel bewohnen an dessen Strand ihn der Sturm gespült hatte, gerettet. Im Laufe der Zeit, die er zusammen mit der jungen Frau – er nennt sie Betti – verbringt, verlieben sich beide ineinander. Als der alte Indianer stirbt und Belton sich in Sorge seines eigenen Vaters erinnert, gegen dessen Willen er einst auf Reisen zog, überredet er Betti sich mit ihm und ungeachtet aller Gefahren ins ferne Charlestown, den Ort, wo seine Reise einst ihren Ausgang nahm, zu begeben. Dort angekommen wird Belton sogleich von einer noch viel größeren Sorge geplagt – war es doch seinerzeit der Wille des Vaters gewesen, er möge sich mit Arabelle, der Tochter des dort seine Geschäfte betreibenden Quäkers Mowbrai verheiraten. Natürlich hat selbiger über die Jahre hinweg weder Belton noch die Vereinbarung mit dessen Vater vergessen und als er in Beltons Begleitung voller Erstaunen und Neugierde «das liebe Kind, in der Kleidung einer Wilden, mit den fliegenden Haaren» entdeckt, liegt die Katastrophe bereits in der Luft.
Nachdem Belton daran scheitert sich und die Situation, in die er sie beide manövriert hat, zu erklären und Betti schließlich also aus dem Mund des Quäkers von den ihre Liebe missachtenden Heiratsplänen erfährt, bricht das Bild jener von Geld und Gesetzen beherrschten Gesellschaft in welche sie geraten ist, endgültig zusammen, worauf sie ihren Gefühlen unverstellten Ausdruck verleiht. Mowbrai, sichtlich bewegt durch Bettis leidenschaftliche Rede, sowie vom «rührenden Schauspiel» des seine Liebe nun vor allen Anwesenden offen bezeugenden Belton, lässt augenblicklich den Notar rufen und in den bereits aufgesetzten, seiner eigenen Tochter zugedachten Ehekontrakt kurzerhand den Namen der Indianerin eintragen. Als jener nach der Mitgift der Braut fragt, erhält er Anweisung «Ihre Tugenden» einzusetzen.

Wie aber lässt sich die neu geschaffene Einheit der Verse Chamforts und Haydns Musik in Worte fassen? Eine Frage mit der sich die Haydn-Forschung, wenn überhaupt, nur ganz am Rande beschäftigt hat. Sogar Sisman, die etwa vom Allegro di molto befindet, dass dessen im Seitenthema anzutreffende «rapid-fire repeated notes and imitations» eine Unbeschwertheit zum Ausdruck bringen, die jene Tragik widerlegen, welche wir gewöhnlich mit Molltonarten in Verbindung bringen, scheint ihren Chamfort nicht wirklich gelesen zu haben. Vielmehr scheint sie sich mit dem Gedanken an jenes eigentümliche Verhalten des Quäkers zu begnügen, welches im Schauspiel zwar die Wende zum Guten herbeiführt, dort aber, dem üblichen, dramatischen Verlauf entsprechend, erst kurz vor dessen Ende zum Vorschein gerät.
Was jenem Moment an Emotionalem, vom Ausdruck der Liebe und Zärtlichkeit bis hin zu Wut und Verzweiflung vorausgegangen war – all dies spiegelt sich nicht nur in den Sätzen der f-Moll-Sinfonie wider, sondern erfährt durch selbige gar eine weitere, in die Tiefe reichende Dimension des Anrührenden: Wie sich die von den Schauspielern zum Ausdruck gebrachten Affekte bis hin zum Moment der Konfliktlösung am Ende der achten von insg. zehn Szenen in einem Stimmungsbild voll innerer Bezüge widerspiegeln – zieht sich durch die vier Sätze der Sinfonie auch ein und dieselbe Grundstimmung. (Michael Walter schreibt treffenderweise, obwohl ihm die Beziehung zur (Vor)geschichte des Quakuo di bel'humore «nicht erklärbar» erscheint, von einer «Darstellung subjektiver Varianten des gleichen emotionalen Zustands [...], den die Hörer bei der Wahrnehmung der Sinfonie erfahren.»)
Selbige Stimmung, die u.a. mit «dramatisch, nicht religiös» (Ludwig Finscher), «geprägt von [...] Ernst [und] Düsterheit» (Walter Lessing) bzw. «driven by [...] emotional and spiritual force» (H. C. Robbins Landon) umschrieben wurde, verdichtet sich in der Tonfolge c-des-b mit der ein jeder Satz in stets verschiedener Rhythmisierung seinen Anfang nimmt.

Von jener tiefgreifenden Melancholie des anfänglichen Adagios, aus der eine mit gehörigem Pathos vorgetragene Melodie der 1. Violinen hervortritt, um (nach allmählich verstummenden Seufzerfiguren und absteigender Basslinie) inmitten eines zweiten Themas im pianissimo zu höchster Tonlage aufzusteigen und augenblicklich über zwei Oktaven ins fortissimo hinabzustürzen, ist auch der Monolog des Belton im zweiten Auftritt der Jungen Indianerin erfüllt. In einer der Musik entsprechenden, gemütvollen, letztendlich aber dem Selbstmitleid verfallenden Rede, bereut er seinen Entschluss nicht mit Betti in jenen «schrecklichen Gegenden» am «Ende der Welt» geblieben zu sein, «da eins durch des andern Glück vergnügt und zufrieden und Verachtung nicht die Folge unsrer Armut war.»
Einen ungleich stärkeren Ausschlag auf der Skala der Gefühlsregungen bewirkt das an zweiter Stelle im Satzgefüge stehende Allegro di molto, welches – so A. Peter Brown – einem «musical earthquake» gleiche. Dem zu Sprüngen von über zwei Oktaven ansetzenden Violinmotiv, welches sich in synkopischer Verengung und anschließendem Rede- und Antwortspiel zwischen den hohen und tiefe(re)n Streichern fortspinnt, folgt nach einem plötzlichen Bewegungsstopp ein die entbrannten Leidenschaften vorübergehend zügelndes, sich leise dahinschlängelndes Vorhaltsspiel der Streichergruppe, bevor mit einem weiteren Forte-Ausbruch und dem gesamten Orchester das stürmische Anfangstempo mit seiner unruhig pulsierenden Achtelbewegung wieder aufgenommen wird. Auch wenn ein den vorausgehenden Urgewalten zur Seite gestelltes «leichtherziges» Thema für weitere kurze Entspannung sorgt, lassen die folgenden, das bisherige Geschehen verarbeitenden bzw. wiederaufgreifenden Formabschnitte, so etwa die ohne jegliche Überleitung einsetzende Reprise, die ganze Dramatik des Allegro di molto nochmals auf ein Höchstmaß ansteigen. Als Pendant zu diesem an Emotionen geradezu überkochenden Instrumentalsatz könnte man ohne weiteres das Ende jenes in Szene 4 geführten Streitgesprächs zwischen Betti und Belton über die Bedeutung materiellen Reichtums erkennen, welches in einem von düsteren Farben geprägten Bild, in dem Belton beider gemeinsame Zukunft («ohne Beistand, ohne Güter») sieht, seinen Ausgang findet: «Wir werden die Liebe hassen, das Alter fürchten. Täglich werden wir uns, in den unglücklichen Früchten unsrer Liebe selbst erblicken, und unsre eigne Hände werden sie von uns stoßen.»
Die Ankunft einer weiteren Person unterbricht die Unterredung des Paares. Betti wird weggeschickt, worauf Mylford – so der Name des Neuankömmlings – seinem Freunde Belton die Zusage Arabellens auf die zwischen den Vätern vor nunmehr sechs Jahren vereinbarte Eheschließung zu übermitteln gedenkt. In Belton entbrennt ein innerer Kampf: Gegen die durch des Freundes Nachricht gestiegene Furcht, sein Festhalten an Betti könnte ihm Wohlstand und Platz in der Gesellschaft kosten, vermag sich schlussendlich nur der Wunsch zu behaupten seine indianische Geliebte nicht ins seelische Unglück zu stürzen. Während Belton noch mit sich ringt, sieht er die Geliebte sich nähern.
Wie sichs in des Rührstücks sechster Szene zuträgt, so klingts auch in der Musik – als wenn sie dafür erfunden wär: Ein schwermütig-ernstes Charaktermenuett, reich an Harmonik und chromatischen Wendungen da nebst dem allanfäglichen Grundgedanken auch die Seufzer und Melodiesprünge der vorigen Sätze wiederkehren.
Allein das Trio sorgt für einen lichten, fast heiteren Moment – dem einzigen der Sinfonie sogar – aus dem sich ein Hornsolo bis in die höchsten Höhen (genauer gesagt bis zum f'') erhebt – wie ein Ruf der eben zurückkehrenden Betti, die sich dem in finsteren Gedanken verlorenen Belfort nähert. Als vergleichsweise schwierig erwies es sich, das entsprechende, in Verse gegossene Gegenstück zum Finalsatz von Hob I:49 zu finden – nicht nur weil in einem Einakter logischerweise keine (wie Johann Adolf Scheibe sie einst benannte) «Symphonien [...] zwischen den Aufzügen» vorkommen können, sondern nur Szenen (oder Auftritte, wie man sie seinerzeit nannte), von denen manch einer das dramatische Geschehen weiter vorantreibt als der oder die benachbarten vermögen. Mitunter dürfte es aber auch ein Monolog inmitten der Szene gewesen sein, der einen Tonschöpfer wie Haydn zu einem dramatischen Satzgebilde inspirierte (oder einen Karl Wahr zu der Entscheidung brachte, gerade hier an dieser Stelle eine entsprechend geartete Musiknummer einzubauen).
Belforts Befürchtungen, der Quäker Mowbrai könnte durch das Preisgeben der Heiratspläne für seine Tochter, dem wildgekleideten Kind «das Herz durchbohren», sind tatsächlich eingetroffen: Mit einem Mal erfährt sie, was hier gespielt wird. Ihr Entsetzen wie die Schärfe der Worte, die selbiges zum Ausdruck bringen, kennen natürlich kein Halten mehr: Wie es der Indianerin obgleich der Unglaublichkeiten, die sie vernehmen muss, beinahe die Sprache verschlägt, so atemlos und von Pausen zersetzt kommt das Thema des Presto-Finale mit seiner schroffen Dynamik und Artikulation daher. Die fast unablässige Viertelbewegung der Bassstimme erklärt sich durch die inner- wie äußerlich gezeigte Erregtheit der sich zu guter Recht betrogen fühlenden Betti. Wenn dann im Seitengedanken mit seinen tremolierenden Achtelpassagen noch einmal der Bewegungsimpuls erhöht wird und auch die Intervallsprünge des Allegro di molto – hier wohl für den kämpferischen Geist der jungen Frau stehend – noch ein weiteres Mal hörbar werden, so kann man sich gut vorstellen, dass deren Persönlichkeit einst einfach zu stark und leidenschaftlich erschien, als dass man sie und nicht die Nebenfigur des Quäkers auf das Titelblatt der Wiener Stimmenabschrift von Hob. I:49 gesetzt hätte.

Über den gleichen Händler mit Namen Christian Gottfried Thomas (wie ihn das vorgedruckte Titelblatt in italienisierter Schreibweise aufzeigt) gelangten – neben einer Parodie des Stabat mater Hob. XX:bis von Johann Adam Hiller – noch weiteres Stimmenmaterial Haydnscher Sinfonien (Nr. 26 «Lamentatione» und 38) nach Schwerin.
Elaine R. Sisman, Haydn's Theater Symphonies, in: Journal of the American Musicological Society 43 (1990), S. 292-352.
Siehe u.a.: Preßburger Zeitung 54, 6. Juli 1774, zitiert nach: Marianne Pandi und Fritz Schmidt, «Musik zur Zeit Haydns und Beethovens in der Preßburger Zeitung», The Haydn Yearbook / Das Haydn Jahrbuch 8 (1971), S. 170.
Rudolph Angermüller, Haydns «Der Zerstreute» in Salzburg (1776), in: Haydn-Studien 4/2 (1978), S. 89.
Nach der Pariser UA vom 30. April 1764, war es bereits 1765 dank eines lokalen Libretto-Drucks zu ersten privat veranstalteten Darbietungen in der Kaiserstadt gekommen, worauf 1769 eine Produktion am Kärntnertortheater folgen sollte, an der u.a. auch Gottlieb Stephanie der Jüngere, der spätere Librettist von Mozarts Entführung aus dem Serail, teilnehmen sollte.
Der Ausdruck «rührende Komödie» wurde (vor allem im 18. Jahrhundert) für moralistische, dem bürgerlichen Trauerspiel nahestehende Stücke verwendet, in denen die Rührung, welche sich auf Seiten des Publikums bzw. ihrer Leserschaft einstellen sollte, nicht zum Selbstzweck wird und der Ausgang von zumeist glücklicher Natur ist. Der Begriff für jene Gattung, die sich in der Theaterpraxis aufgrund ihres Publikumserfolgs durchsetzt, ist Rührstück. Oft haben Rührstücke, wie auch im Falle der jungen Indianerin, keine komödiantischen Elemente mehr, sondern werden nur aufgrund der sozialen Zusammensetzung ihrer Figuren und ihres Publikums in der Terminologie des 18. Jahrhunderts noch als Komödien klassifiziert.
Gemeint ist das heutige Charleston, South Carolina, wo einst 1794 die im Exil befindliche Comédie-Française La jeune Indienne am Originalschauplatz zur Aufführung gebracht wurde.
Sisman, Haydn's Theater Symphonies, S. 336.
Michael Walter, Haydns Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer, München 2007, S. 47f.
10 Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 267.
11 Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Band II, Baden-Baden, 1987-89, S. 19.
12 H. C. Robbins Landon, The Symphonies of Joseph Haydn, London 1955, S. 297.
13 A. Peter Brown, The Symphonic Repertoire Vol. II. The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven, and Schubert, Bloomington 2002, S. 114.
14 Zit. nach Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, Bd. 1, Hamburg u.a. 1767, 26. Stück, S. 202.

VOL. 1 _LA PASSIONE

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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50

SINFONIE NR. 50 C-DUR «DER GÖTTERRATH» HOB. I:50

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: ab 1773 [1773/1774]

Adagio e maestoso – Allegro di molto / Andante moderato / Menuet – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Es gilt als offenes Geheimnis, dass sich das Theaterwesen am Hof der Fürsten Esterházy, egal ob es sich bei den aufgeführten Werken um solche des Sprech- oder des Musiktheaters handelte, sehr stark an Wien, d. h. an den Spielplänen der beiden k. k. Hoftheater, demjenigen am Kärntnertor wie dem nächst der Burg orientierte, wo sowohl Paul II. Anton als auch Nikolaus I. Joseph eine Loge gemietet hatten. Einer weiteren Mode des späteren 18. Jahrhunderts folgend, entschloss sich der Letztere der beiden im Juli 1772 einem gewissen Karl Michael von Pauerspach, Sekretär der niederösterreichischen Landrechte und passionierter Marionettenspieler, dessen erst kürzlich und mit großem Erfolg am Kärntertortheater zum Einsatz gebrachtes kostbares Figurentheater für sage und schreibe 300 Dukaten abzukaufen. Ein, wenn nicht sogar das vordergründige Ziel dieses Geschäfts wahr wohl, selbiges darauf bei einem bereits von langer Hand geplanten Besuch ihrer kaiserlichen Hoheit Maria Theresia, der Anfang September 1773 zu Eszterház stattfinden sollte, im noch zu errichtenden – vis-à-vis dem Opernhaus situierten Marionettentheater zu präsentieren. Als Begrüßungsstück für Maria Theresia, die ja auch Königin von Ungarn, wegen ihrer rigorosen Steuerpolitik bei dortigem Adel aber alles andere als beliebt war, hatte der ihr stets treu ergebene Fürst Nikolaus Esterházy bei Pauerspach als Direktor und Textdichter sowie bei Haydn als Komponist, ein Werk namens „Philemon und Baucis“ bestellt, das auf einer Metamorphose des Ovid basierend in einer Apotheose des Hauses Habsburg enden sollte. Voraus ging dem halb ernsthaften, halb komischen Geschehen um ein altes Ehepaar, dem die über die jüngsten Entwicklungen der Menschheit zürnenden Götter Jupiter und Merkur einen Besuch abstatten, ein Vorspiel namens „Der Götterrath“, von dem sich im Gegensatz zum darauffolgenden Singspiel allerdings nur die zweisätzige Ouvertüre sowie ein kurzes Instrumentalstück zum Auftritt der Göttin Diana erhalten haben. Diese Ouvertüre wiederum sollte – wie Haydn es des Öfteren in seiner kompositorischen Laufbahn zu tun pflegte – später um ein Menuett sowie einen Schlusssatz erweitert, eine kleine Karriere als eigenständige Konzertsinfonie machen, was, in diesem Falle abzuleiten durch das nunmehrige Vorhandensein von Stimmen für zwei 1773 nicht verfügbare Trompeten, höchstwahrscheinlich im Jahr 1774, spätestens jedoch 1775 geschehen war. Dürften die beiden ersten Sätze der C-Dur-Sinfonie, die, ihrer Abstammung entsprechend, dem Werk in seiner Gesamtheit schließlich den Beinamen „Der Götterrath“ einbringen sollte, eine Reverenz auf den bekanntermaßen etwas konservativen Musikgeschmack der Monarchin zu verstehen sein, so sollte ihnen ihr denkbar hohes Maß an Theatralität allerdings keineswegs aberkannt werden. Hinsichtlich des Prestos, das auf einen pompösen Menuet-Satz folgt und von dem (aus den besagten Besetzungsgründen) traditionellerweise ausgegangen wird, dass es sich dabei um einen nachkomponierten Finalsatz handeln dürfte, entwickelte Manfred Huss die These, dass dieser auch möglicherweise schon als eine überleitende Schlussmusik zwischen dem Marionettenspiel und der einst darauf folgenden Illumination des Schlossparks zu Eszterház gedient haben könnte, als sich – einer Beschreibung der einstigen Festveranstaltung folgend – die Rückwand der Bühne zum beleuchteten Gartenparterre hin öffnete und ein Feuerwerk zur Verherrlichung der Kaiserin, der ungarischen Nation und des Wappens der kaiserlichen Familie abgebrannt wurde.

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51

SINFONIE NR. 51 B-DUR HOB. I:51 (1773)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1774 [Frühjahr 1773]
52

SINFONIE NR. 52 C-MOLL HOB. I:52 (1771)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1774 [2. Hälfte 1771]
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53

SINFONIE NR. 53 D-DUR «L'IMPÉRIALE» HOB. I:53, Fassung A

Spätfassung: mit Einleitung, Finale: Capriccio Moderato
Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, 2 Hr, Pk (nur im 1. Satz), Str
Entstehungsjahr: [1778]

 

Largo maestoso – Vivace / Andante / Menuet (Allegretto) – Trio / (Finale.) Capriccio Moderato

von Christian Moritz-Bauer

Der mit April 1776 aufgenommene allabendliche Betrieb der esterházyschen Theaterbühnen mit in der Regel zweimal pro Woche, Donnerstags und Sonntags dargebotenen Opernaufführungen sowie gelegentlicher, zumeist Dienstags veranstalteter Marionettensingspiele, sollte sich für Haydn – vor allem in seiner Anfangsphase – zu einer regelrechten Belastungsprobe entwickeln. So fällt etwa auf, dass er, der sich fortan selbstredend um die Einrichtung und Einstudierung sämtlicher, d. h. vor allem fremder musikdramatischer Werke zu kümmern, die szenischen Proben durchzuführen und obendrein noch die abendlichen Vorstellungen zu leiten hatte, bis Anfang August des folgenden Jahres es nicht zustande bringen sollte auch nur eine einzige größere Neukomposition seiner selbst zu Gehör zu bringen. Dies schloss freilich auch Gattungen wie die der Sinfonie mit ein, innerhalb derer er vormals im Schnitt etwa drei bis vier pro Jahr geschrieben hatte. Mit der (thematisch gesehen) ins Zentrum des heutigen Konzerts gerückten in D-Dur – man beachte den nochmaligen Quintsprung in der Folge der Tonarten – sollte er den Faden jedenfalls wieder aufnehmen1.

Zur erstmaligen Darbietung dürfte die Sinfonie Nr. 53 im Rahmen jener sechs Konzerte (eigentlich „Academie musiche“) gekommen sein, die in kurzer Folge zwischen Freitag, 30. Januar und Donnerstag, 26. Februar 1778 im Komödienhaus zu Eszterház bzw. in den fürstlichen Gemächern des Hauptgebäudes gegeben wurden. (Möglicherweise verbirgt sie sich sogar hinter jener „Sinf: von Mr. Hayden“, die – so der frischgebackene Theaterdirektor Philipp Georg Bader – des 11. letzteren Monats nebst einer weiteren Sinfonie, diversen Arien, einem Violinkonzert und je einem Divertimento wie Concertino des böhmischen Václav Pichl zum Vortrag kam.2) Hierbei müsste es sich allerdings noch um die – auch als „Fassung B“ bekannte – offenbar in relativer Eile konzipierte Frühfassung gehandelt haben, denn nur sie bedarf der Teilnahme eines zweiten Fagottisten. (Bei diesem drehte es sich nicht zufällig um eben jenen, dessen Anstellung die erweitere Fassung der G-Dur–Sinfonie Nr. 54 einst erst mit ermöglicht hatte: Er hieß Ignaz Drobn(e)y, galt schon 1773 als „der beste in gantz Wienn“3 und verließ die esterházysche Hofkapelle, die ihn Ende Dezember 1775 in ihre Reihen aufgenommen hatte, bereits wieder per 15. April 1778.)

Sie war „die vielleicht berühmteste“4 Sinfonie Haydns zu seinen Lebzeiten. Von London ausgehend, wo sie um 1781/82 bei James Blundell als „The favorite / OVERTURE / in all the Parts / As Performed with universal Applause / at / Messrs. Bach and Abel's Concerts“ im Erstdruck erschien, durfte sie sich bald einer beachtlichen Reihe von Titel-, Nach- und Raubdrucken zwischen daselbst und Paris, zwischen Amsterdam und Berlin erfreuen. Hinzu kamen zahlreiche Arrangements, etwa für zwei Violinen, für zwei- bzw. vierhändiges Klavier, für Klaviertrio sowie für Flöte, Streichquartett und Klavier ad libitum, die sich – vor allem auf den zweiten Satz, das Andante, bezogen – ins scheinbar Endlose fortsetzen sollte. Jedenfalls scheint von diesem Werk, seiner exzeptionellen Vermarktung wie dadurch bedingten schnellen Verbreitung ein entscheidender Beitrag zu Haydns Erfolgen und späteren Auftritten in England ausgegangen zu sein.

Was aber hätte die beste, seinerzeit denkbare Verkaufsstrategie bewirken können, wenn nicht die Musik auch ganz für sich sprechen würde? Das machte sie in der Tat, und zwar auf eine leichte, unmittelbar verständliche, sozusagen ,populäreʻ Art. Kein Wunder also, dass ihr aus den Reihen der Verfechter einer Phase des „Sturm und Drang“ im kompositorischen Schaffen Joseph Haydns, oder – etwas allgemeiner ausgedrückt – der romantisch geprägten Ideologie eines Kunstwerks und des dahinter stehenden, autonom denkenden Künstlers, in noch nicht allzu ferner Vergangenheit manch abfälliges Urteil entgegengebracht worden war. Wie gut, dass diese Sichtweise heutzutage kaum mehr Anhänger findet! (Aus Forscherkreisen sind neuerdings etwa Stimmen zu vernehmen, die danach fragen, ob aus Fällen, wie sie hier verhandelt werden, nicht vieleher eine „am Klassizismus orientierte“5 neue Weise kompositorischen Denkens herauszulesen bzw. zu hören wäre. Kein Wunder jedenfalls, dass gerade diese in England auf solch fruchtbaren Boden fallen sollte, hatte sich daselbst doch schon im frühen 17. Jahrhundert die durchgehende Tradition einer – von den Werken der griechisch-römischen Antike ausgehenden – in sich harmonischen, „klassischen“ Sprache herausgebildet, die, von der Architektur ausgehend, allmählich auch auf Malerei und Bildhauerkunst, auf Literatur und Musik ausstrahlen sollte.)

Eine (in dieser Hinsicht) geradezu kongeniale ,Lesartʻ des Vivace, also des auf ein wiederum später hinzugefügtes Largo maestoso folgenden lebhaften Hauptteils im Kopfsatz der Sinfonie Nr. 53 findet sich bei Felix Diergarten: „Die Exposition ist einer jener funkensprühenden, brillanten, beim ersten Hören unmittelbar verständlichen, mitreißenden und eingängigen klassischen Allegrosätze, wie etwa auch Mozarts Ouvertüren zu Figaro oder Don Giovanni, um zwei der prominentesten Beispiele zu nennen […]. Permanente Wiederholungen kleiner und großer Versatzstücke ermöglichen eine groß dimensionierte [Vorstellung des thematischen Materials] bei gleichzeitiger Übersichtlichkeit, Fasslichkeit und rhythmischer Schlagkraft. […] Alle Abschnitte sind […] miteinander verbunden, so dass sich […] ein 84-taktiges ,Fortströmenʻ ergibt.“6 Sein Thema, in dem sich „melodische Banalität“ und „äußerst sensibel gehandhabte Klanglichkeit und Instrumentierung gegenüber [stehen]“7 sowie ein im Pianissimo und tiefer Streicherlage vergleichsweise spät eingeführtes Nebenthema prägen auch den weiteren Satzverlauf auf sehr ,unterhaltsameʻ Weise: etwa in der Durchführung, die mit „gedehnten Dissonanzen, […] melancholischen Vorhalten und chiaroscuro-Effekten“8 und „einer herrlichen Passage von ,ausgezeichneter [chromatischer] Lebhaftigkeitʻ zurück in die Reprise [führt]“9.

Mit mehr als 30 eigenen, zwischen 1783 und 1820 erschienenen Bearbeitungen (darunter etwa die Hälfte für Gesang und Klavier aber z. B. auch eine für Harfe aus der Feder des vormaligen esterházyschen Hofmusikers Johann Baptist Krumpholtz) als geradezu „sensationell populär“10beschrieben, sollte sich der zweite Satz, ein in der Form von Doppelvariationen angelegtes, d. h. zwischen Dur- und Moll-Strophen alternierendes Andante erweisen. Gemeinsam mit James Webster11 dürfen wir feststellen, dass sich eine jede zweitaktige Unterphrase aus Haydns volksliedartiger, vermutlich aber selbsterfundener Melodie von allen anderen unterscheidet. Hinzu kommt die simplizistisch-naive und dennoch so kunstvoll dezente Art, wie Haydn sich darauf verstand selbige zu begleiten und bis in den finalen Variationsteil hinein stetig zu verändern. Als besonders angenehm dürfte sein Publikum dabei das allmähliche Hinzutreten der Bläser, zunächst die Flöte samt solistisch geführtem Fagott (mit Verdoppelung der von den Violinen gespielten Melodie erst eine Oktave höher, dann tiefer), schließlich die beiden Oboen mit finalen, überaus wirkungsvollen Stimmkreuzungen, empfunden haben.

Auf ein Menuett mit rustikalen Untertönen, kontrastierendem Pianoabschnitt und jäh unterbrochener Rückkehr zum Hauptthema, (das von einer Pianissimo-Passage mit Orgelpunkt fortgeführt und mittels chromatisch absteigender Linie zu einer lautstarken Reprise des im Unisono angestimmten Themenkopf führt,) folgt dann zuletzt noch ein ausgesprochen gut gelaunter, mit Capriccio überschriebener, formal recht frei behandelter Rondosatz, der in wahrhaftig Haydn'scher Manier auch ein paar Überraschungen ,auf Lagerʻ hat: Hierzu zählen etwa eine in den mollbestimmten, zur Larmoyanz neigenden Mittelteil eingeworfene, ,französischʻ anmutende Melodie, oder jener wunderbar ausgekostete Moment nach der letzten vollständigen Wiedergabe des Ritornells, wo der Kapellmeister die Violinen mit einer im Pianissimo und staccato vorgetragenen Achtelkette förmlich ,auf der Stelle tretenʻ lässt, um den aufgestauten Bewegungdrang der selbigen, wie das bereits ,in den Startlöchernʻ stehende Orchestertutti, schließlich dann doch in eine an Pointen reiche Coda zu entlassen.

Zum bisher nicht thematisierten Beinamen der Sinfonie Nr. 53 noch ein kurzes Nachwort des Kölner Haydn-Forscher Horst Walter († 2016)12: „In den musikalischen Quellen ist er nicht greifbar, auch nicht bei Gerber13 oder Pohl14. Mandyczewski15 könnte ihn bei Deldevez (1873)16 gefunden haben. In einem früheren Nachweis, in den Zürcher Neujahrsblättern von 1831, wird L’Impériale der Pariser Sinfonie 86 (ebenfalls in D-Dur) zugeschrieben17. Scheint also der ,kaiserlicheʻ Name eine Erfindung des 19. Jahrhunderts zu sein, so ist wenigstens eine ,königlicheʻ Fußnote auszumachen: Ein Exemplar des französischen Erstdrucks trägt auf dem Umschlag einer Stimme den Zusatz ,1784 Musique du Roiʻ.“

Dass er sich für den Finalsatz dabei anfangs einer Ouvertüre bediente, die er erst kürzlich – wohl für eines der besagten Marionettenspiele – geschrieben hatte, wird noch an anderer Stelle für Erzählstoff sorgen.
Fürstlich-Esterházy'sches Familienarchiv im Ungarischen Staatsarchiv (Országos Léveltar) Budapest P 149 d. 9 B g No. 1a: Verzeichniß / der / Opern, Academien, Marionetten / und / Schauspiele / welche von / 23n. Januarii bis Xbris / 1778. / auf den / Hochfürstlichen Bühnen / in Esterhatz / gegeben worden sind. Abgerufen am 21.01.2021 über: Josef Pratl, Herbibert Scheck (Hg.): Esterházysche Musik-Dokumente, Wien 2017 (= Eisenstädter Haydn-Berichte 10).
Zit. nach: Stephen C. Fisher, Sonja Gerlach, „Vorwort“, in: Joseph Haydn-Institut Köln (Hg.): Joseph Haydn. Sinfonien um 1777 – 1779, München 2002 (= Joseph Haydn Werke. Reihe I, Band 9), S. VII.
H. C. Robbins Landon, „Vorwort“, in Helmut Schultz (Hg.): Joseph Haydn. Kritische Ausgabe sämtlicher Symphonien, Band V: Sinfonien 50–57, Wien 1963, S. IX.
Anselm Gerhard: London und der Klassizismus in der Musik. Die Idee der „absoluten“ Musik und Muzio Clementis Klavierwerk, Stuttgart und Weimar 2002, S. 196.
Felix Diergarten: „Jedem Ohre klingend“: Formprinzipien in Haydns Sinfonieexpositionen, Laaber 2012, S. 155.
Ebd., S. 156.
Ebd., S. 160.
James Webster, „Hob.I:53 Symphonie in D-Dur („L'Impériale“)“, zit. nach haydn107.com/Sinfonien/53 (Abruf: 21.01.2021)
10 H.C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works, Vol. 2, Haydn at Eszterháza: 1766-1790. London 1978, S. 561: „sensationally popular“.
11 Vgl. Fußnote 9.
12 Horst Walter, „Über Haydns „charakteristische“ Sinfonien“, in: Gerhard J. Winkler (Hg.): Das symphonische Werk Joseph Haydns. Referate des internationalen musikwissenschaftlichen Symposium Eisenstadt, 13.–15. September 1995, Eisenstadt 2000 (=Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 103), S. 65–78, hier: S. 66.
13 Ernst Ludwig Gerber: Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler, 2. Theil, Leipzig 1812..
14 Carl Ferdinand Pohl, deutsch-österreichischer Musikhistoriker, Archivar und Komponist. „Er veröffentlichte mehrere thematische Verzeichnisse: 1867 (Mozart und Haydn in London, 2. Abt., Wien, S. 365f.) Londoner Sinfonien; 1879 (A Dictionary ofMusic and Musicians, In two volumes, hrsg. v. George Grove, Vol. I, London) Londoner und „Symphonies which are known by titles“; 1882 (Joseph Haydn, Bd. II, Leipzig, Anhang, S. 1-3) 63 durchnumerierte Sinfonien aus den Jahren 1766-1790. Auf zahllosen handgeschriebenen Zetteln (Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien) hat Pohl zudem Vorarbeiten für einen thematischen Werkkatalog geleistet.“
15 Eusebius Mandyczewski (Hg.): Joseph Haydns Werke. Erste kritisch durchgesehene Gesamtausgabe, Serie 1: Symphonien, Band 1, Leipzig [1908]
16 Edouard-Marie-Ernest Deldevez: Curiosités Musicales, Notes, Analyses, Paris 1873. Darin: „Catalogue thematique des Symphonies de J. Haydn“, S. 29–53. Der Eintrag von Sinfonie Nr. 53 – hier also vermutlich zum allerersten Mal mit „L'Impériale“ als Beiname befindet sich auf Seite 32/33.
17 Johann Georg Bürkli: Biographie von Joseph Haydn. Zweyte Abtheilung, Zürich 1831 (=XIX. Neujahrsgeschenk an die Zürcherische Jugend von der allgemeinen Musik-Gesellschaft in Zürich auf das Jahr 1831 / Neunzehntes Neujahrsstück der allgemeinen Musik-Gesellschaft in Zürich). Darin: „Verzeichniß sämmtlicher Werke von Joseph Haydn, aus Gerbers Tonkünstler-Lexikon, aus vielen andern Quellen, und aus den besten bestehenden Musikalien- Catalogen ausgezogen “, S. 24ff., hier S. 25.

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54

SINFONIE NR. 54 G-DUR HOB. I:54, erweiterte Fassung (1775 – Frühjahr 1776)

Besetzung:
a) urspr. Fassung: 2Ob, Fg, Hr, Str, ohne Einleitung
Entstehungsjahr: [1. Hälfte?] 1774
b) erweiterte Fassung: mit 2 Fl, 2 Fg, 2 Trp, Pk, mit Einleitung
Entstehungsjahr: [1775-Frühjahr 1776]

Adagio maestoso – Presto / Adagio assai / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Einen Quintsprung bzw. in Jahrzehnten etwa anderthalb von Haydns früher festlicher C-Dur–Sinfonie entfernt, liegt ein Werk, dessen unterhaltsamer, theatralischer Stil sich ,problemlosʻ in die Zeit der legendären großen Hoffeste auf Schloss Eszterház einfügt – 1772 zum Besuch des französischen Gesandten Prinz Rohan, 1773 für Kaiserin Maria Theresia, 1775 für Erzherzog Ferdinand Karl und seine Gemahlin Maria Beatrice Ricciarda aus dem zu Modena ansässigen Haus Este veranstaltet. Egal, ob es die Urfassung des auf 1774 datierten Autographen, oder die darin später nachgetragene, stimmlich erweiterte Fassung von ca. 1775/76 ist, die auf den Pulten liegt – die ,gute Nachbarschaftʻ, die Hob. I:54 mit Werken wie der Sinfonie Nr. 60 «Il distratto» oder Sinfonie Nr. 67 pflegt, ist unüberhörbar. Angesicht der üblicherweise, so auch durch das Kammerorchester Basel präsentierten Fassung mit hinzugefügten Stimmen für je zwei Flöten und Trompeten, für Pauken und ein zweites Fagott, mag man sich natürlich fragen, was den Ausschlag für die einst vorgenommene beträchtliche Vermehrung innerhalb des Bläserapparats gab. Immerhin ließ sie die G-Dur–Sinfonie, die zuvor ganz gewöhnlich mit zwei Oboen, zwei Hörnern und einem einzelnen, allerdings über weite Strecken bereits vom Streicherbass unabhängig geführten Fagott besetzt war, mit einem Mal auf die Dimension der gattungsgleichen Werke von Haydns späterer, erster Londonreise anwachsen. Der Grund hierfür dürfte in der Neubesetzung etlicher Musikerposten um die seinerzeitige Jahreswende und dem mit April 1776 einsetzenden allabendlichen Theaterbetrieb auf Schloss Eszterház zu finden sein. Drei neue Oboisten – von denen zwei sich auch auf das Spiel der Traversflöte verstanden – sowie einen jüngst eingestellten, aus Wien ,importiertenʻ Fagottisten galt es zu präsentieren – kein geringes Unterfangen, wenn es zu gleicher Zeit noch die feierliche Eröffnung der Opernsaison vorzubereiten gab! Ob sich das auch mit einer bereits aufgeführten, dem Anlass entsprechend mit orchestralen Farben erweiterten Instrumentalkomposition bewerkstelligen ließ? An Zuversicht sollte es offenbar nicht mangeln...

Im ersten Moment mag sie tatsächlich etwas ,aufgeputztʻ wirken, die gleichsam nachgereichte, über siebzehn Dreivierteltakte im majestätischen Adagio dahinschreitende Einleitung zur Sinfonie Nr. 54. Was deren erste Niederschrift betrifft, so muss sie sich ursprünglich auf einem gesonderten Blatt befunden haben, denn das in der Budapester Eszterházy Sammlung bewahrte Autograph steigt erst mit dem Presto des Kopfsatzes und seiner kühnen, anfänglichen Mischung aus tief gelegter Bläsermelodie zu getupftem Paukenfell und unisono geführter Streicherbegleitung ein. Wem mag es da schwerfallen, der hierzu von H. C. Robbins Landon kreierten Vorstellung eines der esterházyschen Opernbühne entkommenen Buffone1 zu folgen? Das Klopfen der Streicher nimmt ostinatohafte Züge an und bemächtigt sich alsbald weiter Teile des musikalischen Geschehens. Dann Schnitt, Generalpause. Wie um zu verhindern, dass allmählich so etwas wie vieltönende Eintönigkeit entsteht, legt unser Spaßmacher mit einem Mal – Verfechter der Sonatensatz-Theorie würden Ort und Stelle des Geschehens als „Durchführung“ deklarieren – ganz andersfärbige, vermutlich gelbe2 Kleider an. Noch eine Generalpause und das Spiel beginnt wieder von vorne. Allerdings hat Harlekin oder Hanswurst oder Wen ihr wollt noch einen letzten Spaß auf Lager: einen Trugschluss mit Septnonakkord und Fermate – noch dazu im Pianissimo und nur wenige Takte entfernt vom Doppelstrich.

Nach solcherlei imaginärem Mummenschanz wird es doch höchste Zeit für etwas Ruhe. Und ausruhen dürfen Sie sich, wertes Publikum, nun wirklich und im wahrsten Sinn des Wortes – zu einem der längsten langsamen Sätze, die Haydn jemals geschrieben hat. Aber keine Sorge – aufgrund der „traumähnlichen Schönheit“3 des Adagio assai verbleiben Sie dort sicher überaus gerne für eine Weile ... oder zwei. Die Violinen sind gedämpft, der durch die Stimmen des Orchesters ziehende Gesang mit seinen vielen kleineren, sich auf- und alsbald wieder abbauenden harmonischen Spannungen ist von berückender bis tröstlicher Intensität. Die Hörner steuern tiefenentspannende Pedaltöne bei (bis hin zum Kontra-C) und zu guter Letzt treibt uns eine voll ausgeführte Kadenz von Violino I und II vollends in Morpheus' Arme. Was ist wohl die beste Medizin gegen einen auf solch kunstvolle Weise herbeigeführten wohligen Schlummer? Ein rustikaler Menuet mit schnalzenden Achtelvorschlägen und schwungvollen Drehfiguren – dazwischen ein munteres Liedchen von den Lippen des Solofagottisten! Samt seiner Kollegin wird er auch im an- wie abschließenden zweiten Presto überaus gut beschäftigt sein. Schließlich ist es ihr mit den tiefen Streichern geteilter Walking Bass, der in Verbindung mit der zugleich ausgeführten synkopischen Bewegung der mittleren (bis hohen) Streicher und jeweils abgelöst von einer kurzen, Murky Bass-unterlegten Passage den eigentlichen Motor des hin- und mitreißenden Finalsatzes bildet.

Vgl. H. C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works, Vol. 2, Haydn at Eszterháza: 1766-1790. London 1978, S. 307f.
Vgl. Justus Johannes Heinrich Ribock: „Über Musik, an Flötenliebhaber insonderheit“, in Carl Friedrich Cramer (Hg.): Magazin der Musik, Jg. 1, Hamburg 1783, S. 686–736, hier S. 708: E dur, wie wenn ein sonst Zanksuechtiger recht froelich, oder lieber lustig ist: eine Haerte bleibt fuehlbar. Gelb ist die Farbe und Macis Geruch.
H. C. Robbins Landon: The Symphonies of Joseph Haydn. London 1955, S. 329: „dream-like beauty“. 

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55

SINFONIE NR. 55 ES-DUR «DER SCHULMEISTER» (1774)

Besetzung: 2 Ob, Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [1. Hälfte?] 1774

Allegro di molto / Adagio, ma semplicemente / Menuetto – Trio / Finale. Presto

von Christian Moritz-Bauer

Unter den vier Sinfonien, die in den erhalten gebliebenen autographen Partituren Joseph Haydns das Kompositionsjahr 1774 nennen – Nr. 54 in G-Dur, Nr. 55 in Es-Dur, Nr. 56 in C-Dur und Nr. 57 in D-Dur – sticht die hier Zweitgereihte schon allein dadurch hervor, dass sie mit einem (möglicherweise durch Verwechslung zustande gekommen Beinamen) ausgestattet ist. Dieser, nämlich «Der Schulmeister», taucht zum ersten Mal im zweiten Band von Ernst Ludwig Gerbers «Neue[m] historisch-biographische[n] Lexikon der Tonkünstler» (Leipzig, 1812) auf, worin der Bezug zur Es-Dur-Sinfonie durch die Beschreibung «Das Violoncell macht zum Menuet-Trio einen obligaten Baß»1 eindeutig hergestellt erscheint. Tatsächlich geht «Der Schulmeister» als Beiname bereits auf den 1765 begonnen Entwurf-Katalog zurück, wo er sich – laut eines Vermerks von Haydns persönlichem Notenkopisten Joseph Elßler auf ein – später verschollenes – sechsstimmiges Divertimento in G-Dur («Der Schulmeister genant») bezieht, das dann in dem 1805 von Elßlers Sohn Johann angelegten «Haydn-Verzeichnis» als «Der verliebte Schulmeister» wieder auftauchen wird. Ab dem 1840 von Aloys Fuchs zusammengestellten «Thematischen Verzeichniß der sämmtlichen Kompositionen von Joseph Haydn» scheint die Verbindung aus Sinfonie und Beiname dann endgültig konsolidiert, was u. a. dadurch zustande gekommen sein dürfte, dass die originale Partiturhandschrift von Hob. I:55 mittlerweile zum Bestandteil der (heute in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrten) Fuchs’schen Autographensammlung geworden war. Die inhaltliche Erklärung für selbigen Umstand erfolgte schließlich durch Carl Ferdinand Pohl, der in dem erstmals 1882 erschienenen zweiten Band seiner Haydn-Biographie von der Wahrscheinlichkeit schreibt, dass das variierte Thema aus dem mit «Adagio ma semplicemente» überschriebenen langsamen Satz, bzw. «dessen abgemessener Gang» die (vermeintliche) Namensgebung «veranlaßt haben [wird].»2

Der Weg, auf dem die 55. der 107 Sinfonien Joseph Haydns dereinst zu ihrem Beinamen kam, mag zugebenerweise ein wenig verworren klingen. Einem ihr vonseiten der Forschung entgegengebrachten Kommentar, nämlich, dass sie zu den besten Beispielen für «die ‚Hinwendung‘ Haydns zu jenem leichteremStil» gehöre, der für ihn «im Lauf der späten 1770er-Jahre so sehr an Bedeutung gewann»3, darf allerdings bedenkenlos zugestimmt werden. Solcherlei kam – so etwa Ludwig Finscher – nicht zuletzt dadurch zustande, dass das Prinzip der Verarbeitung eines satzübergreifenden Themas in mehreren darauf folgenden, in Besetzung, Charakter und Dynamik voneinander abweichenden Variationen gleich an mehreren Stellen der Partitur von Hob. I:55 durchgespielt wird, nämlich sowohl im Adagio, «mit dessen ostentativ simplen Thema […] von Anfang an höchst subtile Späße getrieben [werden]»4, als auch im Variationen-Rondo des Finalsatzes. «Vorher», fügt James Webster dem hinzu, «traten solche Sätze nur selten in einer Sinfonie auf, nun aber verwendet sie Haydn als normale Bauelemente.»5

Den beiden Variationensätzen, die – ob der Eingängigkeit ihrer Themen – sehr zur Popularität wie zur Verbildlichung (beispielsweise auch der späteren Sinfonie Nr. 63 in C-Dur «La Roxolana») beitragen sollten, steht in der Es-Dur-Sinfonie Nr. 55 ein mit vier Tutti-Akkorden im Forte eingeleitetes Allegro molto gegenüber. Dessen markantes Hauptthema wiederum lebt von allerlei farblichen wie dynamischen Binnenkontrasten und hat überdies eine von «Haydns besten [und zugleich längsten] Scheinreprisen»6 vorzuweisen. Das ihm vorausgehende Menuett zeigt sich hingegen von lombardischen Rhythmen, einer neuartigen Rückführung sowie einem Trio geprägt, das hier tatsächlich aus nur drei Stimmen, dem der beiden Violinen und einem in Achteln dahin schreitenden Walkingbass der Violoncelli und Kontrabässe, besteht.

Siehe Fussnote 2.
James Webster, «Joseph Haydn: 1773–1774», S. 48.
Ernst Ludwig Gerber: Neues historisch-biografisches Lexikon der Tonkünstler. Zweiter Theil. E – I. A. Kühnel, Leipzig 1812, Sp. 573.
Carl Ferdinand Pohl: Joseph Haydn. Zweiter Band. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1882, S. 262.
Zit. nach James Webster, «Joseph Haydn: 1773–1774», in: Haydn Symphonies Vol. 8 (1773–1774). The Decca Record Company Limited, London 1998, Beiheft, S. 47.
Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber-Verlag, Laaber 2000, S. 286.

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56

SINFONIE NR. 56 C-DUR HOB. I:56 (1774)

Besetzung: 2 Ob, Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: [2. Hälfte?] 1774

Allegro di molto / Adagio / Menuet – Trio / Finale. Prestissimo

 

von Christian Moritz-Bauer

Nach Sinfonie Nr. 55, die mit ihrem Beinamen «Der Schulmeister» Patin für den (italienisierten) Titel des 18. Projekts von Haydn2032 – Il Maestro e il scolaro – stand, haben wir es bei der Nr. 56 abermals mit einem Werk aus dem Jahr 1774 zu tun. Zugleich stellt sie einen weiteren Beitrag zur ‚Unterart‘ der C-Dur-Sinfonie dar, deren Bestimmung – nicht nur, aber v. a. auch im Repertoire der esterházyschen Hofkapelle – gewöhnlich besonders festlichen, repräsentativen Anlässen vorbehalten war und die von Joseph Haydn (je nach Verfügbarkeit) mit einem um Trompeten und Pauken erweiterten Bläserapparat besetzt wurde.1 Dem hieraus resultierenden, durch die einleitende Dreiklangsfanfare noch zusätzlich unterstützten pompösen Charakter des Kopfsatzes sind aber auch ernste, nachdenkliche Züge eigen, die geradezu neuartig wirken und das Werk über sämtliche seiner Vorgänger gleicher Tonart hinwegheben. Mit Recht erkennt etwa H. C. Robbins Landon in ihm die bisher höchste und inspirierteste Verkörperung des Haydnschen C-Dur-Typus und rühmt die wunderbare Verschmelzung verschiedenartiger Elemente innerhalb der festlich-glanzvollen Atmosphäre des Werks.2 Als Beispiel hierfür mag man sogleich das Hauptthema mit seinem Kontrast aus straff rhythmisierten Unisonopassagen und weicher, ausdrucksvoller Melodik anführen, der durch den Wechsel vom Forte zum Piano und wieder zurück zum Forte eine zusätzliche Verstärkung erfährt. Das Spiel mit klanglichen und dynamischen Mitteln, mit Spannung und Entspannung herrscht das gesamte Allegro di molto über vor. Besonders eindrucksvoll ist dabei der fast ausschliesslich in Moll gehaltene erste Abschnitt der Durchführung. Eine Vielzahl von instrumentatorischen Feinheiten verrät, wie subtil mittlerweile Haydns musikalische Sprache geworden ist. Ein Beispiel dazu ereignet sich zu Beginn der Reprise, wo er jene zart-verhaltene Phrase, die den Unisonotakten folgt, in eine sich durch sämtliche Streicherstimmen fortspinnende imitatorische Passage münden lässt und über zunächst die erste Oboe, darauf beide Oboen gemeinsam ein anmutiges SoIo erklingen lassen. Ein weiteres Beispiel gefällig? Mit einem geheimnisvollen Paukenwirbel im Pianissimo bereitet Haydn – noch in der Reprise befindlich – den Eintritt des thematischen Seitengedankens vor. Nach Ansicht von Landon handelt es sich dabei um den ersten Auftritt eines Paukenwirbels in einer Sinfonie der österreichischen Schule3, einen Moment, der das sich unweigerlich nähernde Ende dieses eindrucksvollen Satzes umso majestätischer erscheinen lässt.

Die besondere Rolle der Bläser tritt auch im darauffolgenden Adagio zutage. Nachdem die Violinen – wie üblich «con sordino» (mit Dämpfer) spielend – das feierliche, getragene Thema vorgestellt haben, wird es sogleich von den beiden Oboen übernommen. Hierauf tritt das bislang nur den Streicherbass verstärkende Fagott mit einem grossen Solo hervor, ein weiteres Novum im kompositorischen Schaffen Joseph Haydns, der in der Folge Töne und Harmonien erklingen lässt, die, ob ihrer dunkel gefärbten Eindringlichkeit, in romantisch anmutende Sphären vorzudringen scheinen. Festlich-pompöse Gestik und tänzerische Anmut wechseln sich im anschliessenden Menuett auf reizvolle Weise miteinander ab. Auch eine humorvolle Saite wird daselbst angeschlagen, wenn etwa Haydn den Beginn der Wiederholung des Satzbeginns durch die Einfügung eines Pausentaktes verzögert.

Im Menuett von Hob. I:55, das mit insgesamt 94 Takten zu den bisher längsten seiner Art gehört, ist auch der Grundstein für die (motivische) Substanz des darauf folgende Finale zu finden. Zu lokalisieren ist er in den Triolenketten, die im Vorfeld der besagten Generalpause mit einem Mal plötzlich hervorbrechen. Genau diese werden schließlich zum alles beherrschenden Element des darauffolgenden Prestissimo, ein Satz von mitreissendem Schwung, der nach scharfen dynamischen Kontrasten, technischer Brillanz und einer besonderen Spielfreude verlangt.

In Verbindung mit dem an Harmonien wie Bläserfarben überaus reich bedachten Adagio lässt sich aus der Lektüre des Finalsatzes leicht verstehen, warum die Sinfonie Nr. 56 – nachdem sie im Jahr 1777 sowohl in der Reihe des Pariser «Concert spirituel» als auch im «Concert des amateurs» erklungen war – binnen Jahresfrist von nicht weniger als drei verschiedenen dort ansässigen VerlegerInnen publiziert wurde. Werke wie eben dieses begründeten nicht zuletzt auch jene Popularität, die Haydn insbesondere bei seinem französischen Publikum genoss und ihm schliesslich jenen ehrenvollen Auftrag einbringen sollte, der die Entstehung der sogenannten «Pariser Sinfonien» zur Folge hatte. Erst unter den selbigen wird sich, zwölf Jahre später, wieder ein Werk finden, das den Komponisten innerhalb des Genres seiner C-Dur-Sinfonien auf einer noch höheren Stufe der künstlerischen Entwicklung zeigt: die Sinfonie Nr. 82, bekannt geworden unter dem Namen «L’Ours»(Der Bär).

Im Gegensatz zu ihrem späteren Schwesternwerk, dessen Autograph nach dem aus Paris erfolgten Auftrag in den Besitz von Claude-François-Marie Rigoley, Graf von Ogny und Gründer des Concert de la Loge Olympique, übergegangen war, verblieb die Partiturhandschrift der Sinfonie Nr. 56 über Jahrzehnte hinweg im Besitz des Komponisten. Schliesslich aber machte er sie – am 24. Oktober des Jahres 1805 – seinem aus Polen stammenden, hochgeschätzten Kompositionsschüler Franciszek (Franz) Lessel (um 1780–1838) zum Geschenk.

 

1 Sinfonie Nr. 56 stellt dabei das früheste im Autograph erhalteme Werk dar, bei der der Komponist zugleich nach Hörnern in «hoch C» und Trompeten (bzw. «Clarini») verlangt.
2 Vgl. Howard Chandler Robbins Landon: The Symphonies of Joseph Haydn. Universal Edition & Rocklife, London 1955, S. 340-41.
3 H. C. Robbins Landon, «Sinfonie Nr. 56 in C-Dur», in: Haydn Symphonies Vol. 10 [Nos.] 50, 54, 55, 56, 57, 64. L’Estro Armonico, Derek Solomons. CBS Masterworks 1986, Beiheft, S. 5.

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57

SINFONIE NR. 57 D-DUR HOB. I:57 (1774)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [2. Hälfte?] 1774
58

SINFONIE NR. 58 F-DUR HOB. I:58 (1767)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: vor 15.2.1773 [Ende 1767]
59

SINFONIE NR. 59 A-DUR «FEUERSINFONIE» HOB. I:59 (1768)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1769 [1768]

Presto / Andante o più tosto Allegretto / Menuet – Trio / Allegro assai

 

von Christian Moritz-Bauer

Noch etwas weiter zurück als Hob. I:48, genauer gesagt in etwa die Zeit der Eröffnung des ersten Opern- bzw. «Komödienhauses» auf Schloss Eszterház, also das Jahr 1768, reicht die Entstehung der Sinfonie Nr. 59. Ihre Tonart A-Dur gilt Haydn-Kennern – also gewiss auch manch einer bzw. einem unter Ihnen, werte LesererInnen – schon längere Zeit als äußerer Anzeiger für ein Werk von besonderer theatralischer Qualität. (Denken Sie etwa an die Sinfonie Nr. 64 «Tempora mutantur» aus SOLO E PENSOSO, an Nr. 65 aus GLI IMPRESARI oder zuletzt an Nr. 28 aus LA ROXOLANA.)

Im Fall von Hob. I:59 – die auf Eusebius Mandyczewski zurückgehende, dem Werk im Zuge der alten Gesamtausgabe verliehene Ordinalzahl muss hier wieder einmal als hoffnungslos veraltet angesehen werden – herrschte gar lange der erstmals im späten 19. Jahrhundert geäußerte Verdacht, das Werk hätte der Wahr‘schen Truppe 1774 zu Eszterház als Zwischenaktmusik zu einer Produktion des erst im Jahr zuvor durch Carl Theophil Döbbelin zu Berlin uraufgeführten dreiaktigen Schauspiels Die Feuersbrunst von Gustav Friedrich Wilhelm Großmann gedient.

Obwohl nun unsere Nr. 59 bekanntlich unter dem Namen «Feuersinfonie» geführt wird – was u. a. auch damit zu tun haben dürfte, dass Carl Ferdinand Pohl sie einst in Alois Fuchs‘ Thematisches Verzeichniß der sämmtlichen Compositionen von Joseph Haydn (München, 1839 bzw. Wien, 1840) als «Feuer Sinfonie / La Tempesta» vorgefunden hatte – bleibt festzustellen, dass eine inhaltliche Verbindung zu Großmanns Feuersbrunst schon allein zeitlich gesehen auszuschließen ist. Auch der ‹berüchtigte› Brand, bei dem 1779 das erste Opernhaus auf Eszterház in Schutt und Asche gelegt wurde, spielte bei der Entstehung unserer neuen A-Dur-Sinfonie keine Rolle, ging ihre Komposition doch dessen ursprünglicher Eröffnung im September 1768 (mit der Uraufführung von Haydns Dramma giocoso Lo speziale / «Der Apotheker») möglicherweise noch um einige weitere Monate voraus.1

Eine (wenngleich nicht besonders gut ,getimteʻ und zudem noch teilweise auf einer Anekdote basierende) Verbindung zwischen «Feuersinfonie» und Feuersbrunst gibt es aber doch: Anlässlich einer 1772 in Berlin abgehaltenen Abendgesellschaft des Autors der Letzteren mit Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing stellte der ehemalige Dramaturg und Berater des Hamburger Nationaltheaters, die Behauptung auf, «… für ein gutes Schauspiel ein Jahr zu brauchen». Großmann hielt dagegen «… gute Laune und gute Ideen vorausgesetzt selbiges in drei Tagen zu vollbringen!» und gewann alsbald die darauf abgeschlossene Wette mit besagtem Schauspiel.21 Lessing wiederum brachte im 27. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie – also bereits im Juli 1767 – etwas zu Papier, das ihn, der von der Vorherrschaft der Dicht- über die Tonkunst stets uneingeschränkt überzeugt war (in Bezug auf die Verwendung von Musik im Theater), offenbar besonders erregte: Itzt zerschmelzen wir in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? Wider eben den, für den unsere Seele ganz mitleidiges Gefühl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie lässt uns in Ungewissheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden wie im Traume; und alle diese unordentliche [!] Empfindungen sind mehr abmattend als ergötzend. Die Poesie hingegen lässt uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die plötzlichsten Übergänge nicht allein erträglich, sondern auch angenehm.3

Genau das, was Lessing hier als ungeordnete, traumhafte Abfolge affektiver Haltungen kritisierte, fand die amerikanische Musikwissenschaftlerin Wye Jamison Allanbrook auf das Genaueste mit dem Anfang eben jener A-Dur-Sinfonie eingelöst, die in einer handschriftlichen Quelle aus Wien den Beginn des ersten Satzes in der Violino Primo-Stimme mit dem Wort ,Feuerʻ charakterisiert («[d]ie Eröffnung ist sukzessive verkündigend, misterioso, zielgerichtet, aufgeregt, kultiviert, ausgelassen, abschiednehmend und dies alles in etwas mehr als einer Minute Musik»4) – und dann das Ganze noch im Tempo Presto – also bitteschön!
In besonderer Weise ,theatralischʻ mag auch der zweite Satz der «Feuersinfonie», ein in a-Moll und mit reinem Streicherklang anhebendes Andante o più tosto Allegretto empfunden werden, hinter dessen redender Melodik mit disputartig eingeworfenen Unisono-Passagen, mit «gesanglicher» Rückkehr nach A-Dur und signalartigem Kommentar der Hörner man (in Einklang mit Wolfgang Marggraf)5 durchaus ein dahinter stehendes «inneres Programm» vermuten darf.6

Ist der darauf folgende Menuet-Satz von auffälliger Aktivität der Hörner und einem wiederum geradezu dramatisch erscheinenden, schemenhaft dahin huschenden Trio-Abschnitt gekennzeichnet, so wirft das finale Allegro assai mit markanten, von den Oboen beantworteten Hornsignalen bereits seinen Schatten voraus bzw. – entstehungszeitlich gesehen – vielmehr zurück auf das ,Hauptwerkʻ unseres Projekts No. 13, die Sinfonie Nr. 31 in D-Dur mit dem tönenden Beinamen «Hornsignal».

Vgl. Sonja Gerlach, „Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie“, in: Haydn-Studien 7, S. 1-288, hier: S. 147-9 und 154f.
Zit. nach / vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Friedrich_Großmann (Abruf: 18.10.2020).
Zit. nach: Gotthold Ephraim Lessing, Minna von Barnhelm. Hamburgische Dramaturgie. Werke 1767–1769. Hg. Von Klaus Bohnen, Berlin, 2010 (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch Bd. 42, entspricht Bd. 6 der Edition Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Frankfurt a. M., 1985), S. 515, Zeilen 6-19.
Zit. nach Wye Jamison Allanbrook, The Secular Commedia: Comic Mimesis in Late Eighteenth-Century Music, hg. von Mary Ann Smart und Richard Taruskin, Oakland CA, 2014, S. 25-8, hier S. 26 (Übersetzung: Christian Moritz-Bauer).
Wolfgang Marggraf, Die Sinfonien Joseph Haydns. […] Die Sinfonien der Jahre 1766-1772. Die Hauptsätze (http://www.haydn-sinfonien.de/text/chapter4.1.html, Abruf: 18.10.2020).
Eine Ansicht die übrigens insbesondere auch von Sonja Gerlach geteilt wird, die von einer möglichen „programmatische[n] Bedeutung“ des Andante, sowie einem denkbaren Programm für das Themas des Kopfsatzes schreibt (siehe Fußnote 1, S. 147f.).

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60

SINFONIE NR. 60 C-DUR «IL DISTRATTO» HOB. I:60 (1774)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: vor 30.6.1774 [1. Hälfte 1774]

Adagio – Presto / Andante / Menuetto non troppo Presto – Trio / Presto / Adagio – Allegro / Finale. Prestissimo

 

von Christian Moritz-Bauer

Die Stadt Pressburg – einst Haupt- und Krönungsstadt des habsburgischen Oberungarns – bildete im späten 18. Jahrhundert ein musikalisches Zentrum von internationalem Rang. Nicht weniger als vier ständige Orchester wirkten hier mehr oder minder unabhängig nebeneinander. Zudem wurde der kulturelle Reichtum nicht als ein Privileg des Adels verstanden: Spielorte, wie die Sommerkonzerte des Grafen Batthyáni oder das Hoftheater des Grafen Erdödy, boten aufgrund ihrer breiten Öffentlichkeit ein ideales Podium, das nicht nur ortsansässige Komponisten wie Anton Zimmermann, Johannes Matthias Sperger und Georg Druschetzky für sich zu nutzen wussten. Dittersdorf, Vanhal, Mozart und Salieri, später sogar Beethoven – eine ganze Reihe von Künstlern europäischen Rangs traten hier auf, dazu die Größen des damaligen Theaterlebens: Mingotti, Zamperini, Wahr, Schikaneder u.v.m. Die Berichterstattung dieser Ereignisse war Sache der Pressburger Zeitung. Das zweimal wöchentlich im Verlagshaus des Johann Michael Landerer erscheinende Blatt, dessen Leserkreis weit über den lokalen Rahmen hinausreichte, brachte aber auch Nachrichten aus dem In- und Ausland, wie etwa folgender Beitrag eines Korrespondenten vom 6. Juli 1774:

Eszterház, vom 30. Junius. Heute werden hier hohe fremde Herrschaften erwartet. Der modenesische Herr Abgesandte nebst einem der vornehmsten Herrn Italiens. Sie werden sich zween Tage aufhalten, und alles hier sehenswürdige in Augenschein nehmen. Obgleich Se. fürstl. Durchlaucht abwesend sind, so werden dennoch zur Unterhaltung dieser hohen Fremden die vergnügendsten Anstalten gemacht. Heute Abend ist deutsche Komödie, und wird vorgestellt: Der Triumph der Freundschaft. Dann ist Nachtmusik und Tafel. Morgen wird das prächtige Schloss nebst dem Garten, der große neue Redoutensaal, das neue Marionettentheater in Augenschein genommen. Auf dem Abend ist italiänische Opera L’infidelta delusa. Die Musik ist von dem Herrn Kapellmeister Joseph Hayden. Dieser vortrefliche Thondichter hat auch kürzlich für die Schaubühne des Herrn Wahr zum Lustspiele der Zerstreute eigene Musik komponirt, welche von Kennern für ein Meisterwerk gehalten wird. Man bemerket in derselben in einer musikalisch-komischen Laune den Geist, welcher alle Heydnischen Arbeiten belebt. Er wechselt Kennern zur Bewunderung, und den Zuhörern gerade zu zum Vergnügen meisterhaft ab, verfällt aus der affektuösesten Schwulst ins niedrige, so dass H[aydn] und Regnard eifern, wer am launischsten zerstreut.

Die Besuche Joseph Haydns in Pressburg – sie ereigneten sich vornehmlich in den 1770er Jahren und waren zumeist geschäftlicher, teils aber auch privater Natur – brachten eine Reihe gefeierter Musikaufführungen mit sich, wie beispielsweise am 22. November 1774, als dann auch hier Der Zerstreute, ein aus „dem Französischen des Herrn Regnard frey nachgeahmt[es] Lustspiel“ mit der Musik des esterházyschen Kapellmeisters präsentiert wurde. Und wieder berichtete die Pressburger Zeitung:

Dienstags als am Cäcilientage wurde der Zerstreute gespielet. Herr von Hayden verfertigte eine sonderbare Musik dazu, welche unsern Lesern schon aus den vorigen Blättern unter den Artikeln Eszterház vorläufig bekannt gemacht worden ist. Hier wird nur so viel erinnert, dass es vortrefflich, ganz vortrefflich ist, und dass das Finale auf unablässliches Händeklatschen der Zuhörer wiederholet werden mußte. In demselben ist die Anspielung auf den Zerstreuten, welcher am Hochzeitstage vergessen hatte, dass er der Bräutigam sey, und sich daher im Schnupftuche einen Knoten machen musste, überaus wohlgerathen. Die Musicierenden fangen das Stück ganz pompos an und erinnern sich erst in einer Weile, dass ihre Instrumenten nicht gestimmt wären.

Bei der Musik, die Haydn einst dem Spiel der des Sommers auf Schloss Eszterháza, des Winters hingegen in Pressburg gastierenden Theatergesellschaft Carl Wahrs hinzufügen sollte, handelt es sich um eine Ouvertüre, vier Entr'actes und einen Finalsatz zum Abschluss der Darbietung. Knapp dreißig! Jahre später sah sich der Komponist dann abermals mit seinem Werk konfrontiert. Ein unerwartetes Ansuchen ließ ihn folgende Zeilen an Joseph Elssler jun., Oboist zu Eisenstadt und Bruder seines Kopisten und Faktotum Johann Elssler, richten:

Wien den 5. Juny 1803.
Liebster Elsler!
Sey er so gütig, mir bey allererster gelegenheit die alte Sinfonie (genannt DIE ZERSTREUTE) herauf zu schicken, indem Ihro Majestät die Kayserin den alten Schmarn zu hören ein verlangen trägt, ersuche ich demnach den Hrn Messner mir dieselbe auf etwelche tage zu leihen, ich werde daran nichts verletzen. […]
mein Compl[iment].
Jos. Haydn mpria

Tatsächlich findet sich in den Esterházy-Archiven der ungarischen Nationalbibliothek eine »Sinfonia in C. […] per la commedia intitolata Il Distratto« in der Handschrift Elsslers, die Anthony van Hoboken später als die Nr. 60 unter den Sinfonien Haydns einreihen sollte.
Immer wieder ist es zu Diskussionen über den programmatischen Gehalt der „Zerstreuten“ gekommen und keiner weiß, ob sie im Sinne des Komponisten geführt wurden. So seien denn mit den Worten Robert A. Greens, hier nur ein paar der wichtigsten Handlungsstränge der zugrundeliegenden Komödie wiedergegeben:

Die meisten Charaktere […] haben mit der Commedia dell’arte zu tun und waren für Haydn und das zeitgenössische Publikum als Typen sofort erfassbar: Clarice und Isabelle sind zwei wohlerzogene junge Damen. Der Chevalier, der Bruder von Clarice, ist der typische adlige Soldat, der zecht, Jagd auf Frauen macht und in den Künsten der Galanterie wohl bewandert ist. Mme Grognac ist die autoritäre Mutter auf der Suche nach einem reichen Mann für Isabelle, ohne Rücksicht auf die Wünsche ihrer Tochter. Der Geiz von Mme. Grognac wird gründlich ausgenutzt […]. Lisette und Johann sind die Diener, die ihre Stärken einsetzen, um die Schwächen ihrer Herrschaften auszugleichen […].

Für den zerstreuten Leander, der Isabelle heiraten soll, jedoch Clarice liebt, greift Jean-François Regnard als Autor der französischen Vorlage auf eine Personendarstellung zurück, die Jean de La Bruyère für die Zweitauflage seiner 1688 erschienenen Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle ersann:

Menalque steigt seine Treppe hinab, öffnet die Tür, um auszugehen und schließt sie wieder hinter sich zu: Da wird er gewahr, dass er die Nachtmütze noch auf hat, und indem er sich genauer besichtigt, findet er, dass er nur halb rasiert ist; er sieht, dass er seinen Degen an die rechte Seite geschnallt hat, dass seine Strümpfe ihm über die Fersen herabhängen, und sein Hemd über die Unterkleider hinausreicht […] Ein andermal macht er einer Dame seinen Besuch, und da er sich bald überredet, dass er es ist, welcher sie empfängt, so lässt er sich in ihrem Fauteuil nieder und denkt ganz und gar nicht daran, ihn zu verlassen. Er findet allmählich, dass die Dame ihre Besuche sehr in die Länge zieht, und erwartet jeden Augenblick, dass sie sich erheben und ihn von sich befreien werde, aber da der Besuch gar kein Ende nehmen will, da ihn Hunger anwandelt und die Nacht schon vorgerückt ist, so ladet er sie zum Abendessen ein. Sie lacht, und zwar so laut, dass er dadurch aus seiner Zerstreutheit erwacht. – Derselbe wird am Morgen getraut, vergisst es aber am Abende und schläft in der Hochzeitsnacht außer seinem Hause. [...]

Ob Haydn nun Satz für Satz die Stimmung der nachfolgenden oder vielmehr der vorausgehenden Akte, die darin vorkommenden Personen oder nur ein paar jener amüsanten Vorkommnisse auf der Bühne beschreibt – dies zu erörtern würde den Rahmen der vorliegenden Programmnotizen zweifellos sprengen. Ein kleiner Versuch in selbige Richtung scheint aber durchaus der Mühe wert:
Sicherlich dienten die kraftvollen Akkorde zu Beginn der Adagio-Einleitung dazu, das Publikum zur Ruhe zu ermahnen. Auch gefällt der Gedanke, dass jene Passage im anfänglichen Presto, in der sich die Streicher in Viertel- und Achtelrepetitionen verlieren (Vortragsanweisung »perdendosi«), eine Art von Gedankenlosigkeit zum Ausdruck bringt. Die thematischen Gegensätze im Andante lassen ebenfalls gewisse Personen bzw. deren Charakterzüge assoziieren: Eine Fanfare bricht in das grazile Hauptthema ein, noch bevor dieses zu Ende geführt werden kann (der Chevalier steigt der jungen Isabelle nach?). Das zweite Thema folgt – vergleichsweise schwerfällig – in Oktavparallelen geführt (die wachsame Mutter?). Schließlich die Durchführung mit ihrem Übermaß an Sforzati und Trillern: die Parodie eines französischen Tanzes, welche wiederum das Benehmen des Chevaliers aufs Korn zu nehmen scheint. Der Auftritt des Leander im 2. Akt mag mit dem Trio des Menuetts gleichzusetzen sein, aus dem ein desorientiert wirkender Achtelgang der Oboen und ersten Geigen hervorsticht.
Der 3. Akt mit seiner Vielzahl von Intrigen und Verkleidungen klingt in einem rauschenden Presto nach, in dessen weiterem Verlauf auch ungarische Tanzmelodien und -rhythmen zum Zuge kommen. Der fünfte Satz der Sinfonie, der nach einem im niederösterreichischen Stift Melk aufbewahrten Stimmensatz den Beinamen »di Lamentatione« trägt, mag einerseits das Ringen Leanders um die Kontrolle seiner selbst sowie der von ihm unfreiwillig verursachten Liebeswirren (4. Akt) darstellen. Andererseits könnte hierbei auch die List des Dieners Johann angedeutet werden, der bei Mme Grognac hereinplatzt, um ihr von der angeblichen Enterbung Leanders zu berichten, damit sie ihr Interesse an dem potenziellen Schwiegersohn verliert und dieser seine Clarice bekommt. Womit wir im 5. und letzten Akt angekommen wären: Alles scheint sich in Wohlgefallen aufzulösen, wenn nicht der gute Leander am Ende beinahe seinen Hochzeitstag vergessen hätte, genau wie die Geigen im Orchester, die nach sechzehn Takten Prestissimo noch eilends ihre Instrumente nachstimmen.

Sinfonie Nr. 60
VOL. 4 _IL DISTRATTO

Giovanni Antonini, Riccardo Novaro, Il Giardino Armonico

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61

SINFONIE NR. 61 D-DUR HOB. I:61 (1776)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Pk, Str
Entstehungsjahr: [ab April?] 1776
VOL. 12 _LES JEUX ET LES PLAISIRS

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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62

SINFONIE NR. 62 D-DUR HOB. I:62

Besetzung: Fl, 2 Ob, (2) Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1781 [1780]

Allegro / Allegretto / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Allegro

 

von Christian Moritz-Bauer

Am 18. November 1779 war auf Schloss Eszterház in Ungarn das „große Komödienhaus“ bis auf die Grundmauern abgebrannt, nachdem im benachbarten chinesischen Tanzsaal versehentlich ein nur zur Dekoration gedachter Ofen befeuert wurde. Während also nicht nur das 1768 eröffnete Theatergebäude sondern auch einige Instrumente wie wertvolle Partituren des Kapellmeisters Haydn zum Raub der Flammen wurden, zeigte sich Fürst Nikolaus ob des Fortbestehens seines über alle Maßen geliebten Theaterspiels, zu dem er erst wenige Jahre zuvor den Befehl erlassen hatte, es möge nun alle Abend lang im Wechsel von Oper, Komödie, Ballett und Marionettenspiel gegeben werden, offenbar keineswegs entmutigt, sondern voller Tatendrang.

So kam es etwa, dass nicht einmal drei Wochen später, am Vorabend des Namenstags des Fürsten, Haydns Azione teatrale „L’isola disabitata“ ersatzweise im nahestehenden Marionettentheater sowie am darauffolgenden Nikolaustag bereits der Grundstein für einen noch größeren, prachtvollen Neubau gelegt wurde. Überhaupt gehörten Namenstage, besonders wenn sie diejenigen des Fürsten, der Witwe seines verstorbenen älteren Bruders oder auch der Kaiserin und Königin von Ungarn, Maria Theresia, betrafen, stets zu den wichtigsten äußeren Anlässen, um einen neuen Höhepunkt im Theaterleben auf Schloss Eszterház zu setzen. Zu jenen gehörte auch der 15. Oktober 1780, der in diesem Jahr nicht nur – wie vormals üblich – das Ende der dortigen Spielzeit markierte, sondern – u. a. auch wegen des baldigen 40. Jahrestags der Thronbesteigung Maria Theresias, zur Eröffnung des neuen Theaterbaus auf Eszterház bestimmt wurde.

Dass die Monarchin, die seit ihrer Hochzeit mit Franz I. Stephan offiziell nur (mit)regierende Erzherzogin von Österreich war, ihr eigentliches Thronjubiläum, also den 22. November 1780 schließlich um nur mehr genau eine Woche überleben sollte, war außerhalb ihrer engsten Familie wohl kaum vorauszusehen. So bereitete man also ihr zu Ehren mit der großen Wiedereröffnung auf Schloss Eszterház ein Denkmal, das sie zwar nie sehen sollte, ihr aber mit Sicherheit gefallen hätte, wie eine Beschreibung des selbigen aus dem Jahr 1784 erahnen lässt: „Von der Vorhalle aus führte ein doppelter Treppenaufgang, der an beiden Seiten mit schmiedeeisernem Geländer verziert war, zu den Logen im Obergeschoss und zur Galerie. In der Nähe der Logen standen den Gästen Zimmer zur Verfügung, die mit Couches, Spiegeln, Uhren, Porzellan, verschiedenen Gebrauchs- und Ziergegenständen reich eingerichtet waren. Die Fürstenfamilie und die vornehmeren Gäste schauten die Aufführungen von den Logen und der Galerie im Obergeschoss aus an. Im Zuschauerraum befanden sich außer den Ehrenlogen 400 Sitzplätze. Er wurde mit vier großen Kachelöfen erwärmt, die von außen beheizt wurden.”

Da das mit allem Komfort versehene und der modernsten Technik der Zeit ausgestattete Theatergebäude aber im Oktober 1780 noch nicht vollendet, d. h. konkret die Bühnenmaschinerie noch nicht zur Gänze fertiggestellt bzw. funktionstüchtig war, musste im Zuge der diversen Vorbereitungen zur großen Festveranstaltung kurzerhand umgeplant werden. Ein, wenn nicht gerade der Leidtragende dabei war Joseph Haydn, dessen neuestes Bühnenwerk, „La fedeltà premiata“, eigentlich zu diesem Anlass hätte ‚aus der Taufe gehoben‘ werden sollen. Stattdessen war es die Gesellschaft des Franz Diwaldt, die gegenwärtig von Fürst Nikolaus verpflichteten Theatertruppe, der die Aufgabe zufiel, das neue Haus mit „Julius von Tarent“, einem Werk des literarischen „Sturm und Drang“ aus der Feder von Johann Anton Leisewitz zu eröffnen, in dem – basierend auf einer historischen Begebenheit am Hofe der Medici im Florenz des 16. Jahrhunderts – der Zwist der Brüder Julius und Guido von Tarent um die Bürgerliche Blanca zu derer beiden Tode führt. Da es für Nikolaus I. Esterházy aber wahrscheinlich undenkbar war, seinen hochverehrten Kapellmeister zu einem so großen besonderen Anlass ohne zumindest einen ersatzweisen Kompositionsauftrag außenvorzulassen, dürfte er wohl eilends noch eine neue Sinfonie bei Haydn bestellt haben, von der wir vermuten, dass es sich dabei um eben jenes Werk in D-Dur handelte, von dem aus gesehen unser heutiger, unter das Motto „Majestäten“ gestellter Reigen seinen Anfang nimmt. Als Begründung für diese These wären u. a. folgende Argumente vorzubringen:
1. Die Sinfonie Nr. 62 fällt allein schon aufgrund dessen, dass all ihre Sätze ausnahmslos in ein und derselben Tonart – nämlich in D-Dur – stehen, bereits so weit aus dem üblichen Kompositionsschema heraus, dass sie als ein genuin zusammenhängendes viersätziges Orchesterwerk wenigstens grundsätzlich infrage gestellt werden sollte.
2. Die Komposition, die mit der Bearbeitung der bereits um 1777 entstandenen, möglicherweise ursprünglich der verschollenen Marionettenoper „Genovefens vierter Theil“ zugehörigen Ouvertüre Hob. Ia:7 beginnt, trägt zahlreiche Merkmale einer in großer Eile vollbrachten Arbeit. Hierunter ist etwa das ursprüngliche Vergessen der Flötenstimme im ersten Satz der verschollenen Kopiervorlage zum „authentischen“ Stimmsatz des Esterházy-Kopisten und (kurzfristig beschäftigungslos gewordenen) Sänger Leopold Dichtler zu verstehen – ein Versehen, dem Haydn dadurch Abhilfe verschaffte, dass er den von Dichtler stammenden Vermerk „primo all[egr]o: Tacet“ am Beginn der Flötenstimme einfach tilgte. Daneben setzte Haydn die augenzwinkernde Bemerkung „Freund! Suche d[as] erste Allegro“ und trug schließlich das selbige im Anschluss an das zweite Allegro eigenhändig nach – wie auch die ergänzende Satzbezeichnung „Finale“ vor das vorherige.
3. Vom zweiten Satz, einem recht beschwingt daherkommenden Allegretto, schrieb etwa der Haydn-Forscher A. Peter Brown, dass hier der Topos einer Barkarole, ein (venezianisches) Gondel- bzw. Schifferlied anklinge, eine Art Charakterstück also, von dem etwa Charles Burney schrieb, dass es [um die Zeit seines 1771 erschienen „Present State of Music in Italy“] bereits so allgemein zelebriert wurde, dass ein jeder musikalischer Sammler von Geschmack in Europa gut damit ausgestattet sei.
4. Ein theater- wenn nicht gar opernhaftes Cliché, das den Beschluss der Exposition des Finalsatzes sowie die Durchführung des selbigen charakterisiert, korrespondiert zum besagten Barkarole-Topos auf eine seltsam eigensinnige Weise, in dem es ein Motiv, das dem sogenannten lombardischen Rhythmus folgt, bis ins scheinbare Gehtnichtmehr fortzuführen sucht.

Dem allen zufolge wäre es also durchaus möglich, dass die wohl ungewöhnlichste aller D-Dur-Sinfonien Joseph Haydns dereinst nicht nur an dem bereits erwähnten Namenstag von Maria Theresia bzw. der Heiligen Theresia von Avila auf Schloss Eszterház zur Uraufführung gelangte, sondern vielleicht sogar so um die Akte der Tragödie „Julius von Tarent“ herumgruppiert wurde, auf dass sie diese satzweise als Vor- und Zwischenspiele umrahme. Jedenfalls hätte solches Unterfangen ganz bestimmt auch dem gastgebenden Fürsten gefallen, der ja – wo immer nur möglich – der Komödie den Vorzug vor der Tragödie gab. Ein direkter charakterlicher Bezug zwischen Theaterstück und Rahmenmusik, wie Haydn2032-Fans sie von den ursprünglich aus Schauspielmusik bestehenden Sinfonien Nr. 28, 60, 63, 65 und 67 her kennen, wäre demnach bei „Julius von Tarent“ und Hob. I:62 nicht einmal unbedingt im Sinne ihres Erfinders gewesen...

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63

SINFONIE NR. 63 C-DUR «LA ROXOLANA» HOB. I:63 (Eszterháza, 1779)

Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1781 [Ende 1779]

Allegro / Die Roxolana. Allegretto / Menuet – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Schon längere Zeit wird die Sinfonie C-Dur Hob. I:63 zum Kreis jener Werke gezählt, die von der über Jahre hinweg dauernden Beschäftigung Joseph Haydns mit verschiedenen Ausprägungen des zeitgenössischen Theaterwesens künden sollen. In seiner heute erklingenden Fassung wurde diese Komposition von dem seit 1763 im Dienste der Fürsten Esterházy stehenden Tenor Leopold Dichtler, von Joseph Elßler senior sowie einem weiteren, nicht namentlich bekannt gewordenen Kopisten zu Papier gebracht. Bei ihrer Arbeit dürften diesen Herren verschiedene Partiturvorlagen zur Verfügung gestanden haben, allen voran die Ouvertüre zu Il mondo della luna, einem Dramma giocoso von 1777, die hier nach einigen Änderungen in der Bläserbesetzung an den Beginn der Komposition gestellt wurde.

Einen weiteren Fall «kompositorischer Wiederverwertung» scheint der zweite Satz darzustellen. Berichten der Pressburger Zeitung zufolge1 dürfte er mit der Schauspielgesellschaft des Carl Wahr, die seit 1772 alljährlich mit einer großen Zahl an Lust- und Trauerspielen auf Schloss Eszterháza gastierte, in Verbindung zu bringen sein. Eines ihrer Erfolgsstücke war Solimann der Zweyte, oder die drey Sultanninen, ein Werk des französischen Dichters Charles Simon Favart, das nach der Pariser Uraufführung des Jahres 1761 in zahlreichen Übersetzungen und vielen Ländern Europas nachgespielt wurde. In den Hauptrollen finden sich Elmira, eine der zärtlichen Schmeichelei wie auch der höfischen Intrige zugewandte Spanierin, Delia, eine Tscherkessin – wundersam schön in Erscheinung und Gesang – und schließlich Roxolane, eine Französin, kämpferisch, emanzipiert und freiheitsliebend wieder. Miteinander eifern sie um die Gunst des «Türkischen Kaisers» Soliman II. Natürlich ist es Roxolane, die am Ende als Siegerin hervorgeht, stellt ihre Figur doch eine Referenz an die historische Gestalt der Hürrem Sultan, Favoritin und späteren Hauptfrau von Sultan Süleyman I. (1494–1566) dar. Die auf dem Gebiet des polnischen Rutheniens (auch Rotruthenien oder Rotrussland) geborene Tochter eines Priesters soll bei einem Raubzug der Krimtataren entführt und als Sklavin nach Istanbul verkauft worden sein, wo sie in den Harem des Alten Serails gelangte. Das Wirken Hürrems war von unerhörten Traditionsbrüchen geprägt. So arbeitete sich die ob ihrer Herkunft auch Rossa oder Roxolana Genannte nicht nur zur Beraterin des Sultans empor, sondern mischte sich auch aktiv in das politische Tagesgeschehen ein. Bei Favart endet die Bühnenhandlung gar mit der Auflösung des Harems durch Roxolane, wodurch eine Ordnung nach europäischem Vorbild hergestellt wird.

Die sich daran anschließende «Krönungs-Ceremonie» sollte – so die Bühnenanweisung des begleitenden Textbüchleins – in einem «Ballet von türkischen Tänzern und Tänzerinnen» enden, die «eine Pantomime nach der Gewohnheit ihres Landes vorstellen».2 Anstelle dieses Balletts dürfte es bei einer Aufführung der im Pressburger Winterquartier befindlichen Wahr'schen Gesellschaft vom 13. Januar 1774 zu einer Tanzeinlage gekommen sein, die mit dem Allegretto der späteren Sinfonie Nr. 63 begleitet wurde: Bei diesem Satz, der in den Stimmen des esterházyschen Originalmaterials mit «Die» bzw. «La Roxolana» überschrieben wurde, lassen sich unterschiedliche Charaktere, möglicherweise sogar ein außermusikalischer Handlungsverlauf herauslesen.

Wie dies im vorliegenden Fall eines Variationssatzes mit einem zwischen c-Moll- und C-Dur-Abschnitten alternierenden Thema vor sich gehen könnte, soll folgender Versuch einer sogenannten Toposanalyse zeigen: Die Vorstellung des tänzerischen, durch kleine Schritte wie große Sprünge gekennzeichneten Themas in Moll, das mit gedämpften Violinen und kleinen Binnenzäsuren aber (noch) ohne innere Konflikte und dynamische Steigerung vonstatten geht, könnte als Beschreibung des für seine Zärtlichkeit gepriesenen Charakters der Elmire erkannt werden. Ihm gegenüber tritt mit solistisch geführten Bläserstimmen, die an das Spiel einer Hautboisten-Bande erinnern, des Themas stolze Durvariante: Roxolana, die Kämpferische. Mit einem Abschnitt, der formal gesehen als eine Variation der anfänglichen Mollvariante bezeichnet werden kann, tritt schließlich noch Delia auf. Die neu hinzutretende Flöte, die mit der chromatisch angereicherten Violinmelodie in der Oberoktave colla parte geht, zeichnet der Tscherkessin exotische Schönheit auf farbenfrohe Weise nach. Gegen Ende des Abschnitts gehen die Melodieinstrumente aber getrennte Wege, was einen Aufbau an Spannung bewirkt, den der nachfolgende zweite Auftritt jener Themenvariante für sich zu nutzen weiß, die zuvor dem Charakter Roxolanens zugeordnet wurde. Mit Forteschlägen der hohen Bläser und Streicher am Ende des ersten sowie einer «in sich gekehrten» piano-Phrase zu Beginn des zweiten Wiederholungsteils zeigt dieser sich von seiner kampfeslustigen wie gefühlvollen Seite gleichermaßen. Kein Wunder, dass eine solche Demonstration äußerer wie innerer Stärke die weibliche Konkurrenz in zunehmende Unruhe versetzt. Solches könnte jedenfalls die anschließende, zweite Variation auf die Elmiren und Delia zuerkannte Moll-Variante zum Ausdruck bringen, die mittels 16tel-Figurationen und gezupften Begleitakkorden, einer abwärts gerichteten Achtelskala mit staccato-Keilen und abschließendem Unisono-Gang (inklusive forzato-Akzent und vermindertem Septimsprung abwärts) auf das Heftigste dramatisiert wird. Ein Trio aus Oboen und Fagott kündet vom Sieg der Französin, der im Tutti von Bläsern und Streichern – die ersteren im sprechenden Gestus, die letzteren nun gänzlich ohne Dämpfer – mit einer 32-taktigen Coda gefeiert wird: Lebe, würdige Sultane! Lebe, Lebe Roxelane!

Es bleibt die Frage, was Haydn um die Jahreswende 1779/80, auf welche das in der Esterházy-Sammlung zu Budapest bewahrte Aufführungsmaterial datiert wurde, dazu bewegt haben könnte eine Opernouvertüre, eine Ballettpantomime zu einem Türkenstück und ein hinzukomponiertes Menuett samt Presto-Finale von buffoneskem Charakter kurzerhand zu einer neuen, vollgültigen Konzertsinfonie zu vereinen. Eine Möglichkeit: Man liest sie als ein Werk, das zum Gedenken an die glanzvolle Vergangenheit des esterházyschen Theaterwesens komponiert worden war – eine Würdigung gegenüber Fürst Nikolaus und seiner unmittelbar gefällten Entscheidung, das am 18. November 1779 zum Opfer der Flammen gewordene große Opernhaus noch schöner und prachtvoller wieder aufbauen zu lassen.

Siehe Pressburger Zeitung. Das 12. Stück. Mittwoch, den 9. Februar, 1774, S. 4 sowie vergleichenderweise: Pressburger Zeitung. Das 5. Stück. Mittwoch, den 18. Jänner, 1775, S. 7. 
Solimann der Zweyte, oder die Drey Sultaninnen. Ein Lustspiel in drey Handlungen. Aus dem Französischen des Herrn Favart. Uebersetzt von St. Wien, gedruckt bey Johann Thomas Edlen v. Trattnern, k. k. Hofbuchdruckern und Buchhändlern. 1770, S. 94-97 [= 84-87]. Universität Wien, Theater-Bibliothek Pálffy (BP 003/02).

Sinfonie Nr. 63 "La Roxolana"
VOL. 8 _LA ROXOLANA

Giovanni Antonini, Il Giardino Armonico

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64

SINFONIE NR. 64 A-DUR HOB. I:64 (1773)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1778 [Herbst 1773]

Allegro con spirito / Largo / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Eines hat an der Sinfonie A-Dur, Hob.I:64 schon immer für Diskussionen gesorgt: die Frage nach Herkunft und Bedeutung ihres Beinamens «Tempora mutantur». Ja, die zumeist nachträgliche Taufe Haydn'scher Werke ist so ein Thema – und das nicht nur im Bereich der Sinfonie, sondern auch beim Streichquartett bzw. überall dort, wo der Komponist seinem Umfeld oder seiner Nachwelt ein in seiner Vielgestalt mehr oder weniger unübersichtliches Œuvre hinterlassen hat. Die Qualität eines Beinamens wurde «von offizieller Seite» – ohne an die oft durchaus positiven «Nebeneffekte» zu denken – meist nach den Kriterien von Authentizität und Autorisierung beurteilt, d.h. nach der Frage, ob er vom Komponisten selbst oder aus seinem direkten Umfeld stammte, bzw. von einem der beiden als zutreffend anerkannt wurde. Im Fall von Hob I:64 jedenfalls – die relativ hohe Zählnummer innerhalb der Sinfoniengruppe entspricht nicht ganz der im Herbst 1773 vermuteten Entstehung des Werkes – herrscht bis heute noch relative Uneinigkeit, was die Akzeptanz gegenüber dem auf ein berühmtes lateinisches Sprichwort (Tempora mutantur nos et mutamur in illis: quomodo? Fit semper tempore peior homo / Die Zeiten ändern sich und wir uns in Ihnen: Wie das? Es wird mit den Zeiten auch schlechter der Mensch) zurückgehenden Titel, welcher den Umschlag einer in Frankfurt am Main aufbewahrten auf 1775 geschätzten Stimmenabschrift eindeutig esterházyscher Provenienz ziert. 1
Eigentlich wäre damit ja ein eindeutig positives Merkmal vorhanden, wenn nicht der (jüngere?) Umschlag aus einem anderem Papier bestünde und die Beschriftung darauf von einer anderen Hand als der des dazugehörigen Stimmensatzes stammen würde. Eine durch den Autor dieser Zeilen jüngst getätigte Einsichtnahme in besagte (durch den Verlust des Autographen zur Hauptquelle von Hob. I:64 gewordenen) Notenhandschrift, führte zumindest zu der Erkenntnis, dass der übrigens von H. C. Robbins Landon erstmals wieder ins Gespräch gebrachte Beiname, ganz sicher einst mit eben jenem Werk und nicht etwa mit einer auf der Innenseite der Mappe kopfstehend angezeigten Sinfonia in G [...] del Sig. Carlo Ditters. – wie dies der Autor des Artikels «Tempora mutantur» im Haydn-Lexikon vermutet 2 – in Verbindung gebracht wurde. Außerdem deutet die übereinstimmende, charakteristische Signierung von Umschlag und Stimmensatz auf eine (vorübergehende) Herkunft, wenn nicht gar Zusammenführung beider Elemente aus bzw. in der für die europaweite Verbreitung Haydn'scher Sinfonien so überaus wichtigen Wiener Kopisten-Werkstätte des Johann Traeg hin.

Besonders der langsame Satz der A-Dur-Sinfonie hat seit jeher die Aufmerksamkeit von Kennern und Liebhabern von Musikausübenden, -forschenden wie KonzertgängerInnen erregt – wobei die Reaktionen von Haydns Zeitgenossen noch um einiges stärker ausgefallen sein dürften als die heute zu beobachtenden – verstößt doch das Largo in permanenter Weise gegen eine der grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der musikalischen Grammatik und spielt zugleich mit den Erwartungshaltungen aller beteiligten Ohren. Lange Rede, kurzer Sinn: Es geht um sogenannte Kadenzen, also die Schlüsse musikalischer Phrasen, die für das Erkennen von Tonalität und Formabschnitten von entscheidender Bedeutung sind, wie Haydn diese einfach verschwinden und dann mit zeitlicher Verzögerung wieder auftauchen lässt.
Die amerikanische Wissenschaftlerin Elaine Sisman – überzeugt davon in Hob. I:64 Teile einer verschollenen Theatermusik zu Shakespeares Hamlet, wie sie im Rahmen einer für das Jahr 1774 angekündigten Pressburger Produktion der Schauspieltruppe des Karl Wahr von Haydn erwartet wurde, wiederentdeckt zu haben – erkennt bei besagtem lateinischen Sprichwort einen inneren Zusammenhang mit jener bereits angedeuteten, trickreichen Vorgehensweise des Komponisten, wobei sich ihre Begründung auf einen von Goethes Wilhelm Meister zum Schlüsselwort erklärten Ausspruch des Prinzen von Dänemark beruft: «Die Zeit ist aus ihren Fugen gekommen; o unseliger Zufall! Dass ich geboren werden musste, sie wieder zurecht zu setzen!» 3
Sismans Gedanke wurde zuletzt in einer von Danuta Mirka publizierten Studie über «Absent Cadences» aufgegriffen und durch die aus der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts entlehnten rhetorischen Mittel der «Ellipsis» und «Aposiopesis» erklärt. 4Letztlich vermögen aber auch ihre Ausführungen keine wirklich überzeugungskräftige Antwort auf die Frage des inneren Zusammenhangs zwischen dem Largo aus Hob. I:64 und dem Sinnspruch des «Tempora mutantur» zu liefern. Vielleicht sollten wir – bis sich einmal ein tieferes Wissen einstellen wird – doch einfach nur von Haydns Musik ausgehen und was sie bei ihren Hörern auszulösen vermag. Eine Beschreibung dessen finden wir etwa bei Dean Sutcliffe, dem zu vorliegendem Spiel mit unterbrochenen Kadenzen und unvollständigen Phrasen, die Vorstellung einer «affective reading that concerns nostalgia and melancholy» 5 kommt, wobei wir – wohl nicht ganz unmerklich – zur Idee des «Solo e pensoso»-Sonetts zurückgekehrt wären. Ein paar aufwühlende Passagen, welche das «Theatralische» im Vokabular des Komponisten hervortreten lassen, wären hier auch zu finden, wie etwa die dramatische Wendung nach d-Moll beim erstmaligen Hinzutreten der Bläser zum gedämpften Streichersatz, «einem jähen Crescendo vom Pianissimo bis zum Fortissimo und einem ebenso jähen Zurücksinken in leises, düsteres Verharren.» 6 Von einer überraschenden klangfarblichen Note wird schließlich noch die finale, schaurig schöne Wiederkehr der Düsternis begleitet: So tönt hier nämlich im Orgelton aus Streichbässen und 2. Horn das tiefe D während das 1. Horn anstelle der Geigen die melodische Führung übernimmt.
Mit der besonderen Eigenart und undurchsichtigen musikalischen Logik der A-Dur-Sinfonie ist es damit aber längst nicht getan. So bekommen wir es etwa im Allegro con spirito mit dynamischen Schroffheiten, synkopierter Rhythmik und ausgefallenen Harmoniefolgen zu tun, wobei hier übrigens für die Kenner des klassischen Tonsatzes noch manch weitere «Ellipsis» versteckt wurde. Das Presto hingegen beliebt sich zunächst als Sonatensatz zu geben, wenngleich die Ritornellform des Instrumentalrondos immer öfter in unverwechselbarer Weise hervortritt. Ganz zu schweigen von den dramatischen, «Sturm und Drang»-artigen Ausbrüchen, für die an wiederholter Stelle gesorgt wurde … Einen Fortissimo-Tusch gibt es dann auch noch – den aber, wie es sich gehört, erst ganz zum Schluss.

vgl. u.a. Joseph Haydn Werke, Reihe I, Band 5a, Sinfonien um 1770-1774, hg. von Andreas Friesenhagen und Ulrich Wilker, München 2013, S. VII & 250.
Horst Walter, Artikel „Tempora mutantur“, in: Das Haydn-Lexikon, hg. von Armin Raab, Christine Siegert und Wolfram Steinbeck, Laaber 2010, S. 780.
Elaine R. Sisman, Haydn's Theater Symphonies, in: Journal of the American Musicological Society, 43 (1990), S. 320ff.
Danuta Mirka, Absent Cadences, in: Eighteenth Century Music, Bd. 9, Heft 2, September 2012, S. 213-235.
W. Dean Sutcliffe, Expressive Ambivalence in Haydn's Symphonic Slow Movements of the 1770s, in: The Journal of Musicology, Bd. 27, Heft 1 (2010), S. 110f.
Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Band II, Baden-Baden 1988, S. 88.

VOL. 3 _SOLO E PENSOSO

Giovanni Antonini, Francesca Aspromonte, Il Giardino Armonico

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65

SINFONIE NR. 65 A-DUR HOB. I:65 (1769)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1778 [1769]

Musik zu Der Postzug oder die edlen Passionen, Lustspiel von Cornelius von Ayrenhoff 

 

Vivace con spirito / Andante / Menuet – Trio / Finale. Presto

 

[Impresari: Joseph Hellmann & Friedrich Koberwein]

So schnell ändern sich die Zeiten! Im Oktober 2017 ging sie noch als «Musik zu einem unbekannten Schauspiel» über das Konzertpodium von Haydn2032, die Sinfonie in A-Dur Hob. I:65. Als eine der Hauptverdächtigen unter den Orchesterwerken Joseph Haydns, deren Ursprung im Bereich der musikalischen Umrahmung gesprochener Theaterproduktionen vermutet wurde, stand sie im Konzertprogramm von No. 9 __GLI IMPRESARI an vorderster Stelle. Dann aber, nur wenige Woche nach der finalen Haydn-Nacht zu Rom, lag er auf einmal vor den Augen des Autors dieser Zeilen: der entscheidende Hinweis über das Woher und Warum all jener kompositorischen Eigenartigkeiten, die dem Werk wie ein «Hauch von Theaterschminke»1 anzuhaften scheinen: ein Tagebucheintrag des Karl Johann Christian von Zinzendorf.

Den Grafen, dessen Aufzeichnungen «reiche Einblicke in das Netzwerk der europäischen Eliten und Mentalitäten, in die Welt der Bücher, der Theater und Opernhäuser [bieten]»,2 hatten seine Reisen am 28. Mai des Jahres 1772 ins Zentrum des «Esterházyschen Feenreichs» geführt, wo ihn ein Besuchsprogramm bestehend aus einem Festempfang mit anschließendem Konzert unter der Leitung des die Violine spielenden Joseph Haydn und einer Park- mit anschließender Schlossbesichtigung erwartete. Den Ausklang jener Lustbarkeiten sollte eine Aufführung im fürstlichen «Salle des Spectacles» bilden, bei der man einen gewissen Postzug zum besten gab. Der Autor dieses Stücks war Cornelius Hermann von Ayrenhoff (1733–1819), ein Offizier der k. u. k. Armee, der – seiner Passion für die Schaubühne folgend – zu einem der erfolgreichsten Theaterschriftsteller im Wien des späten 18. Jahrhunderts avancieren sollte.3 Infolge seiner Uraufführung, die am 30. September 1769 im Wiener Kärntnertortheater stattgefunden hatte, durfte sich Der Postzug oder die noblen Passionen bald zahlreicher Bühnen erfreuen, die ihn in ihr Repertoire aufnehmen sollten, darunter also auch diejenige der Fürsten Esterházy.

Um zu verstehen, was an des Postzugs satirischem, sich auf die Konversation eines typisierten landadeligen Personals konzentrierenden Tonfall so sehr gefiel, dass er ein gutes Jahrzehnt später und dazu von keinem Geringeren als Friedrich dem Großen, zur einzig «echten Komödie» des deutschen Theaters deklariert wurde,4 ja seinen Verfasser uns heute als Wegbereiter der Nestroy'schen Posse erscheinen lassen,5 sie hier in aller Kürze (und mit den Worten des Ayrenhoff-Forschers Matthias Mansky) der Inhalt jener Bühnenhandlung wiedergegeben, deren Name sich auf den seinerzeit üblichen Begriff für ein Gespann aus vier Kutschpferden bezieht:

Auf Schloss Forstheim soll die Verlobung der jungen Leonore mit dem Grafen Reitbahn gefeiert werden. Während der Baron von Forstheim seiner Jagdleidenschaft nachgeht, ist seine Gattin mit den Vorbereitungen beschäftigt. Vor allem aufgrund des angekündigten Besuchs des Grafen von Blumenkranz, eines Freundes des Bräutigams, der nach seiner Rückkunft aus Paris «in allen Orten von Galanterie den Ton angiebt», geht es im Haus drunter und drüber. Unterdessen bedauert die Braut, die in Wahrheit nicht Reitbahn, sondern den Major von Rheinberg liebt, ihr Schicksal. Doch schließlich kommt alles anders. Während der Major sich durch das Geschenk zweier Windhunde die Gunst Forstheims sichert, zeigt sich Reitbahn von dessen Postzug angetan. Da Rheinberg seine Schecken allerdings nicht verkaufen will, kommt es zu einem Tauschgeschäft: Für die Pferde verzichtet Reitbahn auf die Hochzeit mit Leonore. Nachdem Forstheim gerne in eine Verbindung seiner Tochter mit dem Major einwilligt, muss sich schließlich auch die zutiefst enttäuschte Baronin fügen.

Warum soll nun aber ausgerechnet unsere A-Dur-Sinfonie mit ungewöhnlich hoch gegriffener Hobokennummer in einem näheren Beziehungsverhältnis zu der hier gerade skizzierten Komödie des Cornelius von Ayrenhoff gestanden haben? Eine absolut berechtigte Frage, die sich auf zwei verschiedene Wege beantworten lässt – ein sich auf unser begrenztes Wissen um die Entstehung von Hob. I:65 und das zur gleichen Zeit auf Schloss Eszterháza dargebotene Theaterprogramm berufender sowie ein nach übergeordneten Erzählstrukturen bzw. sich an einer Deutung derselbigen (ver)suchender. Beginnen wir mit dem letzteren der beiden:

Nachdem man von einer dramengebundenen Schauspielmusik erwarten darf, dass sie sich ganz in den Dienst der ihr zugehörigen Theaterproduktion begebe, so stellt sich die Frage, ob anhand ausgewählter Textstellen gezeigt werden kann, wie die Musik Joseph Haydns sich ihr auf kommentierende, interpretierende, inhaltlich ergänzende oder gar weitererzählende Weise zur Seite stellt. Lassen wir es auf einen Versuch ankommen …

Zu Beginn des 2. Akts in Ayrenhoffs Postzug kommt es zu folgender Unterhaltung zwischen der Kammerjungfer Lisette und dem Verwalter der Familie Forstheim:6

LISETTE. [...] Aber sagen Sie mir, Herr Verwalter oder Interimshofmeister: wie geht es zu an der Tafel?
VERWALTER. Recht bunt, meine liebe Lisette. Unser Fräulein, scheint mir, hat sich nicht am besten nach dem Sinne der Frau Baronin aufgeführt.
LISETTE. Wie so?
VERWALTER. Sie sitzt zwischen dem Major und ihrem Bräutigam; und der Major hört wohl eher hundert Worte von ihr, als der Bräutigam eines.
LISETTE. O weh! und wie bezeigt sich dieser dabey?
VERWALTER. Zum Glücke hatte er nicht immer Zeit sich darum zu bekümmern: denn der Hauptmann, der ihm zur andern Seite sitzt, gab ihm von Zeit zu Zeit Stoff von Pferden zu reden: und da vergaß er seine Braut. Aber die Baronin schnitt zuweilen saure Gesichter.

Hier wird also von einer im Rahmen der Bühnenhandlung ausgesparten, komischen Szene berichtet, die sich gerade eben, d. h. also «zwischen den Akten» zugetragen hat. Und genau diese Situation ist es, welche die Musik des Andante aus Hob. I:65 auf eine geradezu pantomimische Weise auszudrücken versucht: Den Anfang macht eine kantable Einstiegsmelodie der ersten Violinen (das Fräulein Leonore?), die von einer militärischen Fanfare unterbrochen wird. Die Violinmelodie beginnt auftaktig auf a'' – einen Ton, den Haydn zunächst 22-, später sogar einmal 32-mal wiederholen lässt (Leonore erklärt ihrem Major Rheinberg, dem der vorherige punktierte Einwurf der Oboen und Hörner gegolten haben dürfte, in «hundert Worten» ihre Liebe). Kein Wunder, dass eine tiefliegende dreitaktige Unisono-Passage des Streichertuttis (die sauren Gesichter der Baronin?) dazu ihren Einspruch erhebt, während Graf Reitbahn, der Pferdenarr, ob seiner zeitgleich geführten Fachsimpelei mit Hauptmann Edelsee von all dem nichts mitbekommt (eselrufartige Schleifer der ersten Violinen).
In dieser Weise betrachtet wird aus einem Sinfoniesatz, der zuvor einer «zusammenhangslosen Aneinanderreihung von eigenartig gestalteten Motiven»7 glich, mit einem Mal eine veritable Zwischenaktmusik. Aber es kommt noch besser, denn nun erfährt Lisette, wie es mit dem Auftritt jener Musikanten vor sich ging, «die bey der letzten Kirchweihe in dem herrschaftlichen Wirthshause gespielt», und dabei «die schönsten Minuets» und «steyerischen Tänze»8 gemacht hatten:

LISETTE. […] die Kocherey war heute gewiß nicht übel.
VERWALTER. Sie wissen, daß ich wegen der stinkenden Stalljungen, die aufwarten mußten, vor dem Essen Rauch machen ließ?
LISETTE. Nu?
VERWALTER. Graf Blumenkranz kann keinen Weihrauch riechen. Mit einem eau de lavande Fläschgen an der Nase, versicherte er der Gesellschaft, daß er nie mehr als heute von der Stärke seines Naturels überzeugt worden sey, weil er bey allen dem abscheulichen Geruche nicht in Ohnmacht gefallen wäre.
LISETTE. O Himmel! und ist über diese Versicherung nicht die Baronin ohnmächtig worden?
VERWALTER. Ich weiß nicht, ob sie es recht verstand. Sie war eben mit einer Ordre beschäftigt, die sie der Musik zum Anfangen ertheilen ließ. Und diese Musik – es ist zum todlachen – mit der Helfte des ersten Menuets mußte sie aufhören.
LISETTE. Darum hörte ich nichts davon.

Ein Menuett, das durch allmähliche, von Trillern und forte-Akzenten gekennzeichnete Verschiebung seiner Taktschwerpunkte zu einem «Steyrischen» mutiert, um sich beim anschließenden Trio in einem Wechsel aus ornamentalem Ostinato und hemiolisch ansteigenden Sequenzen zu verlieren9 – bildhafter hätte sich die tragische Komik der eben beschriebenen Situation wohl nicht in Musik umsetzen lassen.
Nachdem wir es bei den Mittelsätzen der Sinfonie Nr. 65 also «erwiesenermaßen» mit einer zweigeteilten (bzw. zweisätzigen) «Musik zwischen Akten» zu tun haben könnten, bleibt noch die Frage, wie dann das eröffnende Vivace con spirito sowie das abschließende Presto auf den Postzug und seine in Wahrheit gar nicht so noblen Passionen zu beziehen wäre. Aus der formalen wie auch der charakterlichen Perspektive betrachtet erfüllen sie ihre jeweilige Funktion – nämlich diejenige der Ouvertüre bzw. der Schlussmusik – gewiss aufs beste. So lotet der Beginn des Kopfsatzes mit seinen lärmtötenden Tuttiakkorden, seinem Gegensatz aus «zierlicher Geigenmelodie» und «pathetischen Unisonotakten der tiefen Streicher»10 – wir erinnern uns an die motivische Vielfalt des vorhin besprochenen Andante – gleich einen der wesentlichen Konflikte der späteren Bühnenhandlung aus: eine junge adelige Dame vom Lande, die sich gegen die Heiratspläne ihrer karrieristisch gesinnten Mutter stellt.

Das letzte Wort im Postzug hat Baron Forstheim, glücklich beschenkt mit einem Paar ungarischer Windhunde durch seinen Schwiegersohn in spe:
Ha mein Schatz, es ist so recht gut geschehen. Morgen ist die Hochzeit. Unterrichte die Lenorl noch heut, was sie dabey zu beobachten hat. Lade mir alle Nachbarn dazu, Alle, nur den dummen Lembrand nicht! Er soll in seinem Leben keinen Bissen von meinem Wildpret essen! – Und Du Major, komm itzt mit mir auf den Anstand.

Und was hat ein Haydn dem auf musikalischer Ebene hinzuzufügen? Einen Finalsatz im 12/8-Takt der sich aus der (vor allem rhythmusbezogenen) Beschäftigung der Horn- und diversen anderen Orchesterstimmen mit einem französischen Jagd-Signal namens «Ton pour la quete» nährt! Wozu dieses seinerzeit geblasen wurde? Zum Ableinen der Hunde, die den Hirsch von seiner Ruhestätte aufscheuchen sollen!11

Da des zu Wien geborenen, neulich erst zum Major beförderten und schriftstellerisch begabten Offiziers Komödie anno 1769 das Kerzenlicht der Theaterwelt erblickte – im selben Jahr also, auf das die Haydn-Forschung auch Hob. I:65 zu datieren pflegt12 – sei zu guter Letzt noch ein Blick auf die damaligen Verhältnisse im esterházyschen Theaterwesen geworfen:

Die erste Schauspielgesellschaft, die Fürst Nikolaus nach Eszterháza verpflichtete bzw. verpflichten wollte, war diejenige des Simon Friedrich Koberwein, Sohn eines Wiener Weinhändlers, der seine Theaterlaufbahn 1753 in Linz (unter Anton Jakob Brenner) begonnen, sich in den frühen 1760er Jahren mit seinem Schwager Johann Joseph Felix von Kurz (genannt Bernardon) assoziiert und 1763 in München die Truppe von Franz Gerwald Wallerotti übernommen hatte. Um 1766 erwuchs ihm ein gewisser Franz Joseph Hellmann zum Kompagnon, mit dem zusammen er bereits in Brünn, Pressburg und einige Monate am «hochfürstlich esterházyschen Theater» gespielt hatte, als es am 31. Juli 1769 daselbst zum Abschluss eines Dreijahresvertrags gekommen war, der mit 1. Mai 1770 in Kraft treten sollte. Warum diese Vereinbarung, die u. a. festgelegt hatte, dass das Ensemble «mit wenigstens vierzehn convenablen gut erfahren agirenden Persohnen alltaglich […] eine Comedie aufzuführen und die erforderlichen Kleyder, wie auch Comedien selbsten anzuschaffen» habe, bereits nach wenigen Monaten wieder aufgelöst wurde, d. h. dass die beiden Prinzipale noch im Oktober des Jahres 1769 die Aufforderung erhielten, den Vertrag und die erlangte Spielerlaubnis an die fürstliche Kanzlei zurückzusenden, dürfte an einer Intrige der Catharina Rößl gelegen haben. Kurze Zeit zuvor nämlich hatte die «Rößlin» die Hellmann-Koberweinsche Compagnie verlassen, um gemeinsam mit ihrem Mann zur Gesellschaft des Franz Passer zu wechseln – eine durchaus pikante Angelegenheit, wenn man bedenkt, dass ihr eine Affäre mit dem esterházyschen Kanzleidirektor Kleinrath nachgesagt wurde. Wie dem auch sei: Das vorausgegangene erfolgreiche Spiel wie alle protestierenden Schriften von Hellmann und Koberwein waren vergebens: Im Frühjahr 1770 übernahm Passer den Theaterbetrieb auf Schloss Eszterháza.

Während sich in letzter Zeit einige Hinweise darauf verdichten, dass um die Mitte des Oktober 1769 ein bisher noch unbekanntes Hoffest auf Esterháza gefeiert wurde, das neben einer Aufführung der Oper La contadina in corte von Giacomo Rust, nebst Maskenbällen und einem Feuerwerk möglicherweise auch unseren Postzug auf dem Programm stehen hatte, so blieb die Suche nach entsprechenden musikalischen Quellen bisher leider erfolglos.
Ein aus den kunstvoll verschlungenen Buchstaben «FD» bestehendes Monogramm, welches das Titelblatt der Abschrift eines unbekannten österreichischen Kopisten ziert, die einst von der weithin berühmten polnischen Fürstin, Kunstmäzenin und regen Theaterbesucherin Elżbieta Izabela Lubomirska für ihre Musikaliensammlung auf Schloss Łańcut erworben wurde,13 könnte allerdings darauf hinweisen, dass sich jenes Exemplar einst im Besitz des Schauspielers Franz Diwald(t) befand. Dieser war Mitglied der Passer'schen Gesellschaft gewesen und sollte zwischen 1778 und 1785 als Impresario seiner eigenen Schauspieltruppe auf Eszterháza wirken.

Zit. nach H. C. Robbins Landon: «Haydn: Symphonien Nr. 50, 64 & 65», Textbeitrag zur gleichnamigen CD-Aufnahme mit dem Ensemble Tafelmusik unter Bruno Weil, Vivarte / Sony Classical 1994, S. 8.
2 Die Tagebücher des Karl Grafen Zinzendorf (1764–1790), in: Umgang mit Quellen heute: Zur Problematik neuzeitlicher Quelleneditionen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. von Grete Klingenstein, Fritz Fellner, und Hans Peter Hye. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2003. Teil II Editionsprojekte, S. 263-266, hier S. 264.
3 Hierzu ausführlich bei Matthias Mansky: Cornelius von Ayrenhoff. Ein Wiener Theaterdichter, Hannover: Wehrhahn Verlag, 2013.
4 «Vom deutschen Theater will ich zu Ihnen nicht sprechen. Melpomene ist der Hof nur von grobschlächtigen Liebhabern gemacht wo.den, von denen die einen stocksteif auf Stelzen einherkommen, die anderen sich im Schmutz wälzen, und die alle miteinander, ihren Gesetzen unzugänglich, weder zu fesseln noch zu rühren wissen und ihrer Altäre verwiesen sind. Die Liebhaber Thalias sind glücklicher daran gewesen; sie haben uns zumindest eine echte Komödie geliefert; ich spreche vom Postzug. Was der Dichter auf der Bühne darstellt, sind unsere Sitten, ist das Lächerliche an uns; das Stück ist gut gemacht. Hätte Molière den gleichen Stoff behandelt, es wäre ihm nicht besser gelungen.» Zit. nach: Friedrich II. von Preußen, «Über die deutsche Literatur, die Mängel, die man ihr vorwerfen kann, welches ihre Ursachen sind und mit welchen Mitteln man sie beheben kann» , in: Ders., Schriften und Briefe. Aus dem Französischen.Übersetztung von Herbert Kühn, hg. von Ingrid Mittenzwei, Frankfurt am Main: Röderberg-Verlag, 1986, S. 364–397, hier S. 367.
Vgl. Michael Mansky, «Hätte Molière den gleichen Stoff behandelt, es wäre ihm nicht besser gelungen» (Friedrich II.) – Cornelius von Ayrenhoffs Komödien zwischen Lustspiel- und Possendramaturgie, in: Nestroyana, 27. Jahrgang 2007, Heft 1–2, S. 8–19, hier besonders S. 14-16 und 19.
6 [Cornelius von Ayrenhoff:] Der Postzug oder die noblen Passionen. Ein Lustspiel in zween Aufzügen. Aufgeführt auf dem k. k. privilegirten Theater. Zu finden beym Logenmeister. Wien, bey Joseph Kurtzböcken. N. Oe. Landschafts und Univerſitätsbuchdruckern. 1769. S. 49-53.
7 Christian Moritz-Bauer, «Gli Impresari» Programmhefttext zur Haydn-Nacht des Kammerorchester Basel im Rahmen der Reihe Haydn2032, Sonntag, 1. Oktober 2017, 19.00 Uhr, Martinskirche Basel, S. 13.
8 Der Postzug oder die noblen Passionen, 1769, S. 3.
9 Vgl. James Webster: Hob.I:65 Symphonie in A-Dur. Informationstext der Haydn-Festspiele Eisenstadt : http://www.haydn107.com/index.php?id=2&sym=65&lng=1 (Abruf: 14. Mai 2018).
10 Walter Lessing: Die Sinfonien von Joseph Haydn, dazu: sämtliche Messen. Eine Sendereihe im Südwestfunk Baden-Baden 1987-89, hg. vom Südwestfunk Baden-Baden in 3 Bänden. Bd .2, Baden-Baden 1989, S. 77.
11 Vgl. Jean de Serre de Rieux: Les dons des enfans de Latone: La musique et la chasse du Cerf. Poëmes dédiés au Roy. Paris 1734, S. 333 (und 289).
12 Vgl. Joseph Haydn: Sinfonien um 1766-1769 [Hob. I:26 (Lamentazione), 38, 41, 48 (Maria Theresia), 58, 59, 65], hg. von Andreas Friesenhagen und Christin Heitmann, München: G. Henle Verlag, 2008 (= Joseph Haydn Werke, hg. vom Joseph Haydn-Institut, Köln Reihe I, Bd. 5a), S. XI-XII.

Sinfonie Nr. 65
VOL. 7 _GLI IMPRESARI

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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66

SINFONIE NR. 66 B-DUR I:66 (1775?)

Besetzung: 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1779 [1775/1776]
VOL. 12 _LES JEUX ET LES PLAISIRS

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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67

SINFONIE NR. 67 F-DUR HOB. I:67 (1775/1776)

Besetzung: 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str (mit Solo-Str)
Entstehungsjahr: bis 10.11.1779 [1775/1776]

= Musik zur Komödie «Die Jagdlust Heinrich des Vierten» (Eszterháza, Juni/Juli 1772?)

Presto / Adagio / Menuet – Trio / Finale. Allegro di molto – Adagio e cantabile – Allegro di molto

 

[Impresario: Carl Wahr]

Einen Höhepunkt des ,spartenübergreifendenʻ Zusammenwirkens der von auswärts engagierten Gesellschaften mit der von Nikolaus I. Esterházy installierten Hofmusik unter Joseph Haydn, scheinen die Jahre ab 1772 gebildet zu haben, in denen sich Carl Wahr (1745-1811) für das sommerliche Theaterprogramm verantwortlich zeichnete.1 In eben jene Zeit fällt nicht nur die Entstehung und frühe Aufführungsgeschichte der Musik zu Der Zerstreute (eigentlich: Le distrait), einer ins Deutsche übersetzten Komödie von Jean-François Regnard (1697), die bereits im Mittelpunkt eines Haydn2032-Projekts (No. 4 IL DISTRATTO) stand, sondern – und das bereits innerhalb der ersten Monate nach Spielbeginn der Wahr'schen Truppe – auch ein Festereignis aus Anlass des Besuchs des französischen Botschafters Louis René Edouard de Rohan-Guéméné, über das György Bessenyei, zugleich Grenadier und auf Ungarisch dichtender Hofchronist mit folgenden Zeilen begann:

„Also kommt Prinz Rohan in das Schlossgebäude, in ein großes Zimmer führt ihn sein Geleite.
Eine Schauspielbühne war hierorts errichtet, wo auf zartes Fühlen ward das Herz gerichtet.
Heinrich den Vierten zeigte man, beim Jagen, den Franzosenkönig, Rohan zum Behagen.“


Diese Verse belegen, dass es sich bei dem Stück, welches von Carl Wahr und seinem zwölfköpfigen Ensemble – darunter Sophie Körner, seine ständige Bühnenpartnerin – ausnahmsweise nicht im separaten Theatergebäude, sondern in der Sala Terrena oder in dem im ersten Obergeschoß befindlichen Prunksaal gegeben wurde, um „Die Jagdlust Heinrich des Vierten“, die von Christian Friedrich Schwan gefertigte Übersetzung von La Partie de Chasse de Henri IV, eine Charakter- und Sittenkomödie des Franzosen Charles Collé handelte. Sie erzählt von einem Monarchen und einer Nation, die einen der gewaltsamsten religiösen wie machtpolitischen Konflikte der Geschichte Mitteleuropas – die Hugenottenkriege – soeben erst hinter sich gelassen hatten:

Heinrich IV., König von Frankreich, ist der Intrigen, die sich am Hof von Fontainebleau um seinen Minister, den Herzog von Sully gesponnen haben, müde geworden und fordert Freund wie Feind auf, sich zur gegenseitigen Aussöhnung an einer Hirschjagd zu beteiligen. Durch die Schlauheit des Wildes, den Aufzug eines Unwetters und den Einbruch der Dunkelheit verirrt und verliert sich die Jagdgesellschaft untereinander, wird von den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes Lieursains erspäht und gerettet. Heinrich gerät in die Obhut des Müllers Michau, dem und dessen Familie gegenüber er seine Identität verbirgt, um sich von ihrer Königstreue zu überzeugen aber auch um wieder einmal seines zur Großherzigkeit wie Libertinage neigenden Wesens nachgehen zu können. Als er von der Entführung Agathens, der Verlobten des Müllersohns Richard durch den Marquis von Conchiny und zugleich ärgsten Widersacher des Herzogs von Sully erfährt, bestraft er diesen und beschließt darauf die für den morgigen Tag befohlene Doppelhochzeit von Agathe und Richard sowie dessen Schwester Catau und Lucas, einem armen jungen Bauern, mit einer Gabe von jeweils 10.000 Gulden zu bereichern und überdies beiden Paaren als Trauzeuge beizustehen.

Besagter Festaufführung im Spätsommer 1772 sollten freilich weitere Vorstellungen der Jagdlust folgen, von denen allein in Press- und Salzburg, wo die Wahr'sche Gesellschaft in den Jahren 1773/74, 1774/75 und 1775/76 in Winterquartier aufschlugen, je eine pro Spielzeit gegeben wurde. Zudem dürfte das Erfolgsstück wenigstens einmal zwischen Mai und Oktober der Jahre 1773 – 1776 aufgeführt worden sein. (Im Sommer 1777 wurde das Engagement Carl Wahrs und seiner Theatertruppe vorzeitig beendet, nachdem diese durch ein nicht näher bekanntes schwerwiegendes Vergehen zweier Mitglieder bei Fürst Nikolaus I. Esterházy in Ungnade gefallen war ...)

Über die Musik zu den genannten Darbietungen schweigen sie, die Berichterstatter der Preßburger Zeitung wie auch des Theaterwochenblatts für Salzburg. Und doch lassen sich zwischen einer vom Autor dieser Werkeinführung unter den Haydn'schen Sinfonien der 1770er Jahre wiederentdeckten, mehrsätzigen Schauspielmusik und der Collé'schen Komödie Bezüge erkennen – Bezüge mannigfaltiger Natur, welche vonseiten der TheaterbesucherInnen wahrgenommen, entschlüsselt und mittels der Imagination eines/r jeden in neue, die Bühnenhandlung interpretierende, vorwegnehmende oder gar weitererzählende Inhalte übersetzt werden wollen.
Dass dieser Prozess den Zeitgenossen Haydns freilich um einiges leichter gefallen sein dürfte, als einem, (sei es auch noch so gebildeten) Publikum unserer Tage, hängt nicht zuletzt mit der jeweiligen Hörerfahrung zusammen, die sich im Laufe der Geschichte durch sozio-kulturelle wie technische Entwicklungen in einer Weise verändert hat, dass wir manch „Zeichen der Vergangenheit“ erst wieder erlernen bzw. neu vermitteln müssen, um die Musik von einst und ihr Vermögen Außermusikalisches zu kommunizieren zu verstehen bzw. erfahrbar zu gestalten.

Aus jener gedanklichen Position vermag das eröffnende Presto, welches bislang „nur“ als Kopfsatz der um 1775/76 datierten Sinfonie Nr. 67 in F-Dur galt, durch seinen wiedergefunden theatralischen Kontext als eine das gesamte folgende Bühnengeschehen überblickende Ouvertüre erscheinen. Nehmen wir etwa das eigentümlicherweise im Pianissimo der Primgeigen eingeführte Jagdmotiv, welches eine wohl ganz bewusst verfremdete Abwandlung des Flügelhorn-Signals „Retraite de Soir“ (zu dt.: „Zapfenstreich“) darstellt und auf den späteren Höhepunkt der Handlung, die Bewirtung des vergeblich um sein Nichterkanntwerden bemühten Königs durch die Familie des Müllers Michau abzielen dürfte, oder den vorübergehende Trübung der stürmischen Aufbruchstimmung durch eine von tragischen Untertönen geprägte Mollpassage. Auch der abendliche, vom Bordun der vereinten Hörner unterlegte Gesang der ,einfachen Leuteʻ gibt zu Beginn der zweiten Satzhälfte schon eine Kostprobe von sich.

Im Adagio – welches der Musik zum zweiten Akt entspräche – liefern sich kurze rhythmisch prägnante Motive, die (zusammen erfasst) ein von Achtel- und Sechszehntelpausen durchsetztes melodisches Geflecht ergeben, ein imaginäres Such- und Verfolgungsspiel, wie es die Protagonisten des Theaterstücks mehr oder weniger freiwillig mitmachen, nachdem sich die königliche Jagdgesellschaft im Walde verirrt hat und nun bei stetig zunehmender Finsternis versucht, sich im immer dichter erscheinenden Unterholz gegenseitig wiederzufinden. Wie klingt das in der Musik? Es raschelt und knackt, eben so wie wenn gedämpfte Darmsaiten mit dem Holz der Streichbögen traktiert werden – und das natürlich staccato und im Pianissimo! Der König, der statt der befürchteten Wilderer vom rechtschaffenen Dorfmüller aufgestöbert und sich in dessen guter Stube – natürlich vollkommen inkognito – von (Apfel)wein, (des Müllers) Weib (und Tochter) und natürlich Gesang verwöhnen lässt – dies köstliche Schauspiel von zwei aufeinanderprallenden Welten, welches nicht weniger als zwölf von insgesamt vierzehn Szenen des dritten und letzten Aufzugs der Collé'schen Komödie für sich beansprucht, findet im Menuett-Satz sein kompositorisches Pendant. Die hier verwendeten Zutaten lauten: Eine Solistin aus den Reihen der zweiten Geigen, die vor Beginn ihre g-Saite nach f verstimmt, ein achtaktiger gefolgt von einem sechs- plus achtaktigtem Wiederholungsteil, wie er höfischer nicht klingen könnte sowie ein „Trio“ aus zwei Soloviolinen, die erste eine volkstümliche Melodie auf einer Saite mit gehörig viel Schleiftönen vortragend, die andere dazu einen zweistimmigen Brummbaß ausführend.

Dass die scheinbar plötzliche Wiedererkennung ihres „guten Königs“ in Wahrheit einem geschickt gehegten Plan der Müllersfamilie folgte, nämlich die zukünftige Schwiegertochter Agathe aus den Fängen des bösen Hofschranzen Conchiny zu befreien wird erst ganz zum Schluss offenbar. Dies, (wie mancherlei mehr) lässt vermuten, dass die Musik des abschließenden Allegro di molto von den in den letzten Zeilen des Dramentextes angekündigten Hochzeitsfeierlichkeiten berichtet. Und weil es um eine Doppelhochzeit geht, nämlich diejenige der sich zuvor selbst befreiten Agathe mit ihrem Müllerssohn Richard und dessen schlaue Schwester Catau mit ihrem armen Jungbauern Lucas und Heinrich IV. sich zu der beiden Paare Trauzeuge und finanziellem Wohltäter erklärt, gibt es noch einen eingeschobenen Adagio e cantabile-Mittelteil mit solistisch geführten Abschnitten für zwei Violinen und Cello bzw. zwei Oboen und Fagott sowie obendrein drei „Hochrufe“ des Orchestertuttis.

Als Haydn den Beginn des Oboen und Fagott-Trios nur wenige Monate nach der (noch als hypothetisch zu bezeichnenden) Erstaufführung seiner Jagdlust-Musik im Kyrie der Missa Sancti Nicolai Hob. XXII:6, komponiert zum Namenstag des Fürsten Esterházy am 6. Dezember 1772 wieder verwenden sollte, durfte dies als Akt einer besonderen Ehrerbietung verstanden werden: Ein musikalischer Vergleich von Nikolaus I. Esterházy von Galántha mit Heinrich IV., König von Frankreich und Navarra, dem Großvater des Sonnenkönigs Ludwig XIV.

1 Vgl. James Webster, Hob.I:67 Symphonie in F-Dur: http://www.haydn107.com/index.php?id=2&sym=67&lng=1 (Abruf: 10. September 2017).

Sinfonie Nr. 67
VOL. 7 _GLI IMPRESARI

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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68

SINFONIE NR. 68 B-DUR HOB. I:68 (1774/1775)

Besetzung: 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1779 [1774/1775]
69

SINFONIE Nr. 69 C-Dur «LAUDON» Hob. I:69 (1775?)

Besetzung: 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: bis 1779 [1775/1776]
VOL. 12 _LES JEUX ET LES PLAISIRS

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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70

SINFONIE NR. 70 D-DUR HOB. I:70 (1779)

Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, 2 Hr, (2 Trp, Pk), Str
Entstehungsjahr: vor 18.12.1779 [1779]

Vivace con brio / Andante. Specie d'un canone in contrapunto doppio / Menuet. Allegretto – Trio – Menuet da capo – Coda / Finale. Allegro con brio

 

von Christian Moritz-Bauer

Nur drei Jahre nach der Eröffnung des regelmäßigen Theaterbetriebs auf Schloss Eszterháza, der dem Kapellmeister Haydn so viel an Erfahrung im Bereich der Opernproduktion bescheren sollte, am 18. November 1779 genau genommen, kam es zu einem, das Musikleben am esterházyschen Hof betreffenden, einschneidenden Ereignis: Durch die Befeuerung zweier mehr zur Zierde als zum Gebrauch gedachter chinesische Kamine war vom Redoutensaal des Schlosses ausgehend ein Brand entstanden, in dessen Folge beträchtliche Teile der Bibliothek, v.a. aber das Opernhaus mitsamt der »prächtige[n] Theaterkleidung, allen Musikalien, an welchen lange und mit vielen Kosten gesammelt wurde; die musikalischen Instrumente, worunter der schöne Flügel des berühmten Kapellmeisters Haiden und die Konzertvioline des Virtuosen Luigi […] ein Raub der Flammen […] geworden« – so der Bericht der Pressburger Zeitung vom 24. November.

Nun waren Theaterbrände in damaliger Zeit ja keine Seltenheit und somit der Verlust – zumindest vonseiten des Fürsten – wohl als ein primär finanzieller empfunden, zumal er es gewöhnt war, von seinem Hausoffizier und dessen Musikern stets etwas neu Geschaffenes präsentiert zu bekommen. So scheint dies dann auch der Fall gewesen zu sein, als Nikolaus I. genau einen Monat nach der verheerenden Feuersbrunst – man feierte die Grundsteinlegung zum neuen Opernhaus und außerdem noch seinen 65. Geburtstag – eine prachtvolle Sinfonie in D zu Gehör bekam, ein zwischen galantem und gelehrtem Stil angesiedeltes Werk von ausgesprochener gedanklicher Tiefe, für deren Abschluss sich Haydn – wie hätte man es auch anders erwarten können – noch einen wohl platzierten Scherz aufbehalten hatte. Dass der Kompositionsprozess an Hob. I:70 den Erkenntnissen der jüngeren Haydnforschung zufolge noch größtenteils auf die Zeit vor dem 18. November 1779 zu datieren ist, mag u.a. auch damit zusammenhängen, dass die erwähnte Geburtstagsfeier wohl bereits seit längerer Zeit geplant gewesen war.

Im feurigen Dreiertakt eröffnet ein Vivace con brio die Festmusik, wobei sich das vorherrschende Motiv als ein bloßer, wenngleich überraschend abtaktig geführter Quartsprung erweist. Aus diesem entwickelt Haydn das gesamte Material des monothematisch angelegten Satzbildes, wobei er es geschickt versteht mit reizvollen dynamischen Kontrasten und kleinen kontrapunktischen Finessen musikalische Spannung zu erzeugen. Aus selbigem erwächst dann im folgenden zweiten und abschließenden vierten Satz manch polyphones Kunstwerk, das präsentieren zu können den Komponisten sicher einst mit Stolz erfüllte.

Der sich zwischen »galant« und »gelehrt«, zwischen Dur und Moll bewegende Bauplan der Komposition spiegelt sich in kleinerem Maßstab aber auch in den anschließenden Andante-Variationen wieder, deren ernsthafter d-Moll-»Hauptsatz« in einen rondoartigen Dialog mit einem sanft-lyrischen D-Dur-»Seitensatz« tritt, wobei die herbe Schönheit des Beginns, die sich aus dem Klang der gedämpften Violinen und staccatoweise fortschreitenden Sechzehntelpunktierungen nährt – und nach allen Regeln der Satzkunst den canto fermo der Bassstimme gegen einen contrapunto der Violinen und Bratschen führt – beim Hinzutreten der Flöte in der Oberoktave eine beinahe unheimliche Stimmung annimmt. Das spielerische Dur-Thema scheint dagegen aus einer ganz anderen Welt zu stammen, die schlussendlich aber nicht mehr zum Zug kommt, nachdem sich sein Gegenüber mit chromatisch verdichteter Melodieführung und gehauchten Tuttiakkorden verabschiedet hat.

Nach so viel formaler Gelehrsamkeit, »vielleicht aber« – so Walter Lessing – »auch als Entspannung vor der par force-Tour des Finales« lässt Haydn »ein betont festliches, resolutes Menuett« folgen, welches auf originelle Weise mit dem auf einen Zwiegesang zwischen Oboen und Streichern reduzierten Trio kontrastiert und von einer überraschenden Coda samt Bläsersextett-Einlage gekrönt wird. Mit einem »Hauch von Theater« – vor dem inneren Auge von Haydnforscher Robbins Landon trippelt ein Harlekin auf die Bühne, um leise den herabgelassenen Vorhang beiseite zu ziehen – öffnet eine Fuga »a 3 soggetti in contrapunto doppio« ihre Pforten, um dem »anspruchsvollen Kenner«, für den sie geschrieben wurde, sich als ein Kunstwerk von großer Schaffenskraft zu präsentieren. Da Haydn aber auch um den Humor seines Fürsten wusste, lässt er zu guter Letzt dann noch einmal den bunt geflickten Spaßmacher auftreten, um mit einer lautstarken Geste den Vorhang wieder zu schließen.

Sinfonie Nr. 70
VOL. 4 _IL DISTRATTO

Giovanni Antonini, Riccardo Novaro, Il Giardino Armonico

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71

SINFONIE NR. 71 B-DUR HOB. I:71 (1778/1779)

Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: bis 1780 [1778/1779]
72

SINFONIE NR. 72 D-DUR HOB. I:72 (1763)

Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, 4 Hr, Str (mit Solo-Str)
Entstehungsjahr: bis 1781 [Aug.-Dez. 1763]
73

SINFONIE NR. 73 D-DUR «LA CHASSE» HOB. I:73 (1781)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, (2 Trp, Pk), Str
Entstehungsjahr: bis 1782 [um 1781]
74

SINFONIE NR. 74 ES-DUR HOB. I:74 (1780)

Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: vor 22.08.1781 [1780]
75

SINFONIE NR. 75 D-DUR HOB: I:75 (1779)

Besetzung: Fl, 2 Ob, Fg, 2 Hr, (2 Trp, Pk), Str
Entstehungsjahr: bis 1781 [Ende 1779]
76

SINFONIE NR. 76 ES-DUR HOB. I:76 (1782)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [1782]

Allegro / Adagio ma non troppo / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Allegro ma non troppo

 

von Christian Moritz-Bauer

 

Ab den späten 1760er-Jahren verbreiteten sich – ob als handschriftliche Kopien oder daraus gewonnene Druckerzeugnisse – die Sinfonien Joseph Haydns in erstaunlichem Tempo über Europa. Waren hierbei zunächst vor allem in Paris ansässige Verlage federführend, kamen alsbald auch solche aus London hinzu, wo diverse Konzertreihen um die Gunst eines zahlungskräftigen Publikums konkurrierten. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Präsenz, welche der esterházysche Kapellmeister am Musikalienmarkt und in weiterer Folge auch auf den Bühnen einer immer weitere Kreise ziehenden musikalischen Öffentlichkeit gewinnen konnte, in den Jahren um 1780. Nachdem ihn ein am 1. Januar 1779 unterzeichneter neuer Dienstvertrag von der Pflicht befreit hatte, seine Kompositionen «mit niemand zu Communiciren, viel weniger abschreiben zu lassen, sondern für Ihro Durchlaucht eintzig und allein vorzubehalten», begann Haydn seine Aufmerksamkeit auf das als besonders florierend geltende Musikleben der Hauptstadt des britischen Königreichs zu lenken.

Möglich, dass bereits Johann Christian Bach, der 1735 geborene jüngste Sohn des Thomaskantors zu Leipzig sowie sein aus Köthen stammender Kollege Carl Friedrich Abel sich darum bemühten Haydn als komponierenden ‹Gaststar› für ihre weithin bekannte, seit 1775 in Hanover Square Rooms im Londoner Stadtteil West End beheimatet, zu gewinnen. Ein erster nachweisbarer Versuch solches zu bewerkstelligen ging jedenfalls von Willoughby Bertie, dem komponierenden wie Flöte spielenden 4. Earl of Abingdon aus, dessen Schwager, der aus Italien stammende Tänzer, Choreograph und Impresario Giovanni (alias «Sir John») Gallini, sich seit 1776 im Besitz der Hanover Square Rooms befand. Nach dem überraschenden Tode Bachs am Neujahrstag des Jahres 1782 und des binnen weniger Monate folgenden Rücktritts von Abel hatte jedenfalls besagter Earl die geschäftlichen Agenden der fortan unter dem Namen «Hanover Square Grand Concert» laufenden Veranstaltungsreihe übernommen.

Im November 1782 berichtete der vielgelesene «Morning Herald», dass Haydn «stündlich erwartet» werde. Im Februar 1783 war er allerdings noch immer nicht eingetroffen, worauf im «Morning Chronicle» zu lesen stand, dass «wir [zwar aktuell] weder ihn noch seine Musik haben, die Musik aber sicherlich kommen wird, während der Musiker höchstwahrscheinlich in Wien bleiben muss.» Während die Musik tatsächlich kam und zwar in einem solch reichen Masse, dass an den zwölf Abenden der ersten Saison der Grand Concerts nicht weniger als elf Mal eine seiner Sinfonien erklingen konnte, blieb der Komponist der selbigen tatsächlich bis auf weiteres fern. Seinem englischen Publikum schien dies alles natürlich recht befremdlich und führte zudem auf Seiten der Presse zu immer bunteren Blüten, wie sie etwa der «Gazetteer & New Daily Advertiser» vom 17. Januar des Jahres 1785 seinen Leser*innen bot: «Dieser wunderbare Mann, den man den Shakespeare der Musik nennt und den Triumph des Zeitalters, in dem wir leben, ist dazu verdammt, am Hof eines jämmerlichen deutschen Fürsten zu residieren, der sowohl unfähig ist, ihn zu würdigen, als auch der Ehre unwert … Wäre es nicht eine Leistung, die einer Pilgerfahrt gleichkäme, wenn ihn einige tatkräftige junge Männer von seinem Schicksal erlösen und nach Grossbritannien verpflanzen würden, dem Land, für das seine Musik wie geschaffen erscheint?»

Tatsächlich konnte sich Haydn ob der Wertschätzung seines Fürsten alles andere als beklagen und verrichtete seine künstlerische Arbeit in der ihrer architektonischen Vollendung zustrebenden Schlossanlage namens Eszterház überdies eh und je nach bestem Wissen und Gewissen. Trotzdem (oder vielleicht auch gerade deshalb) kam eine auch noch so kurze, räumliche «Verpflanzung» seiner selbst einem Wunschdenken gleich.

Da also Haydn nichts anderes blieb, als seine Musik auf Reisen zu schicken, brachte er in den Jahren 1782 und 1784 je eine Serie von drei Sinfonien zu Papier. Zugleich entwickelte er einen Geschäftssinn sondergleichen, der ihn die Werke der heute im Zentrum stehenden Trias der Sinfonien Nr. 76-78 binnen kürzester Zeit sowohl in handschriftlicher Form über diverse Notenhändler vertreiben als auch den Verlagen von Christoph Torricella in Wien, William Forster in London und Charles-George Boyer in Paris zum Kauf anbieten liess.1

Als erste der drei für Haydns versäumte Englandreise der Jahre 1782–83 bestimmten Sinfonien, beginnt diejenige in Es-Dur Hob. I:76, mit einer nachdrücklichen Festlegung der Grundtonart, indem sie auf ihr erstes, von einem mondän auftretenden Fagottsolo geprägtes Thema zu gegebener Zeit ein zweites auf der Dominante B-Dur folgen lässt, das unter den Oboen und Violinen geteilt und von einer energischen Unisono-Passage durchkreuzt wird. Die zentrale Durchführung treibt sodann ihr Spiel mit einem dem Schluss der Exposition entnommenen Motiv, bevor sie das Hauptthema in neue Tonarten führt und das Material des Anfangs wieder aufgreift. Auch das darauf folgende Adagio ma non troppo hat zwei Themen anzubieten, von denen sich das erste lyrisch, das zweite hingegen düster-bedrohlich gibt. Beide Elemente werden abwechselnd variiert, wobei das letztere ein ausgeprägtes Gefühl von Dramatik vermittelt. Im Trio-Teil des Menuet wird der melodieführende Part durch eine Kombination aus Flöten-, Fagott- und erster Violinstimme gebildet, wobei dieser von den beiden Hörnern eine nicht unerhebliche Unterstützung erfährt. Das nicht zu schnell zu nehmende Allegro des letzten Satzes erfährt seine Zündung im abermaligen Zusammenspiel von Flöte und erster Violine, dessen monothematischer Verlauf in einer Folge von Imitationen ungeahnte Kräfte freisetzen wird.

 

1Haydn hat also mindestens drei als «authentisch» zu bezeichnende Abschriften seiner Sinfonien aus der Hand gegeben. Bald kursierten aber auch unerlaubte Abschriften der selbigen, obwohl dies der Komponist – was sich zumindest am erhalten gebliebenen Aufführungsmaterial der B-Dur-Sinfonie Hob. I:77 belegen lässt – nachweislich zu unterbinden versuchte. So schreibt etwa Wolfgang Amadeus Mozart aus Wien in einem Brief an den Vater in Salzburg adressierten Brief vom 15. Mai 1784: «… ich weis ganz zuverlässig, daß Hofstetter des Haydn Musique dopelt copiert – ich habe seine Neuesten 3 Sinfonien wirklich

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77

SINFONIE NR. 77 B-DUR HOB. I:77 (1782)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [1782]

Vivace / Andante sostenuto / Menuet. Allegro – Trio / Finale. Allegro spiritoso

 

von Christian Moritz-Bauer

 

Die Sinfonie B-Dur Hob. I:77 ist zweifellos die kompositorisch profilierteste der drei Sinfonien des Jahres 17821, weshalb sie auch möglicherweise von Charles-George Boyer zu Paris an den Beginn seiner mit der Opuszahl 37 versehenen, 1784 erschienen Druckausgabe2 gesetzt wurde.

Die beiden Themen des mit Vivace überschriebenen ersten Satzes sind aus demselben rhythmischen Grundimpuls abgeleitet. Nachdem sie nacheinander vorgestellt wurden, beginnt mit der Durchführung ein kontrapunktisches Spiel, in dem der Kopf des ersten Themas in wechselnder Folge der mit sich selbst‹enggeführt› wird. Ein ähnliches Spiel, das auf dem selbigen des zweiten Themas basiert, wird indes frühzeitig abgebrochen, um der Reprise Platz zu machen. Im Gegensatz zum Andante sostenuto, das mit sordinierten Violinen und den dazu kontrastierenden Stimmen der mittleren und tiefen Streicher gefällt, wirkt der darauffolgende Menuet derb und behäbig. Zu guter Letzt nimmt das Allegro spiritoso3 den Duktus des Eröffnungssatzes wieder auf und schliesst insofern den Bogen, als auch hier die Durchführung über weite Strecken auf einem Fugato mit dem Kopf des Hauptthemas basiert.

 

Zur Vorgeschichte von Hob. I:77 vgl. den Wissenstext zur Sinfonie Nr. 76 Es-Dur.
2 Nouvelle Suite / DE SYMPHONIES / A GRAND ET PETIT ORCHESTRE. / Composées / Par differens Auteurs. / DEDIÉES / à Monsieur le Baron de Bagge / Par le Sr. BOYER, Editeur. / No. 1 Contenant trois Symphonies / PAR J. HAYDN. / ŒUVRE 37e. / […] .
Der Zusatz «spiritoso» zur Tempoangabe des Finalsatzes geht auf eine handschriftliche Ergänzung Haydns zur Stimme der 1. Violine in der durch den Wiener Berufskopisten Johann Radnitzky erstellten Stichvorlage für William Forster zurück. Der Londoner Verleger registrierte den Eingang des dazugehörigen Stimmsatzes am 24. Februar 1784.

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78

SINFONIE NR. 78 C-MOLL HOB. I:78 (1782)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [1782]

Vivace / Adagio / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

 

Wie schon die ihr unmittelbar vorausgegangene B-Dur-Sinfonie mit einem Vivace beginnend, ist die (nach der Zählung in Anthony van Hobokens «Thematisch-bibliographischem Werkverzeichnis») 78. der Sinfonien Joseph Haydns dazu imstande, eine denkbar grosse Palette an Gemütsbewegungen auszulösen, die von der zärtlichsten Liebe bis zu wütender Verzweiflung reichen kann.1

Nach einem bewegten Einstieg in c-Moll wendet sich das zweite Thema der verwandten Tonart Es-Dur zu, die auch den weiteren Verlauf der Exposition bestimmt. Abermals zeichnet sich die Durchführung mit ausgefeilten kontrapunktischen Passagen aus, in denen Fragmente beider Themen verarbeitet werden. Im Gegensatz zu den langsamen Sätzen ihr vorausgehenden beiden Sinfonien werden die Blasinstrumente im wiederum in Es-Dur stehenden Adagio von Anfang an integriert was einer Vorausschau auf die späteren eigentlichen «Londoner Sinfonien» gleichzukommen scheint. Dem burschikos auftretenden Menuet in C-Dur folgt ein Presto bezeichnetes Rondofinale, das in einer Mischung aus Sonatenform und zwischen Moll und Dur changierenden Doppelvariationen daherkommt, wobei die ‹volkstümlichen› Episoden in C-Dur allmählich die Oberhand gewinnen.

 

1 Zur Vorgeschichte von Hob. I:78 (wie auch von Hob. I:77) vgl. den Wissenstext zur Sinfonie Nr. 76 Es-Dur.

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79

SINFONIE NR. 79 F-DUR HOB. I:79 (1784)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [Ende 1784]

Allegro con spirito / Adagio cantabile – Un poco allegro / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Vivace

 

von Christian Moritz-Bauer

Als letztes der 1784 entstandenen Sinfonien Nr. 81, 80 und 79, musste die Sinfonie F-Dur in ihrer Rezeptionsgeschichte immer wieder manch mehr oder weniger harsche Kritik – vor allem was die Gestaltung der beiden Ecksätze betrifft – über sich ergehen lassen. So wird in den Schriften eines Ludwig Finscher von «lauter konventionellen, kaum individualisierten Formeln» im Allegro con spirito oder bei A. Peter Brown von «a touch of gypsy music» und «something of a grinding organ» in den Binnenabschnitten des Rondo-Finale berichtet. Alles «unterhaltsam, aber auch nicht mehr».
Eine ausgesprochen wortgewandte Verteidigungsrede für Hob. I:79 entstammt indes der Feder des britischen Musikjournalisten Anthony Hodgson:

«The most unusual feature of the first movement is a single downward phrase of pure Mozart; this apart, glowing melody is underpinned by a firm staccato bass. The Adagio cantabile which follows is simple, touching and quietly optimistic. At length the gentle forward motion rests, and suddenly a delightful, quietly hastening section marked un poco allegro bustles in. Isolated from this movement it would be difficult to guess where else it might be used in a symphony – a Finale would perhaps be the place but even that would not quite be suited to such tension. One of those fine Menuetti follows, of the style in which the double bars leave a question mark in the air. The Trio is a country dance, plain and simple, with inverted use of the main Material and solo flute and oboe adding delicate touches of pastel colour. The Finale, in Haydn's »homecoming” style (it could never be mistaken for anything else), spins happily along to conclude a work typical of its composer, brightly entertaining in concept yet without a single shallow moment.»

Dem sei nur hinzuzufügen, dass wohl kein einziger von Haydns bisherigen Sinfoniesätzen den Ton der späteren «Londoner Sinfonien» in einer solch klaren Weise vorauszeichnet wie das Adagio mit seiner luziden Kombination aus Flöten- und Violinenklängen und dem sich daraus hervorschälenden «Kehraus»-Allegro, welches seine Zuhörerschaft vorübergehend befürchten lässt, dass das Werk und somit auch das schöne Konzert bereits zu Ende wäre.

A. Peter Brown: The Symphonic Repertoire Vol. II: The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert. Indiana University Press: Bloomington, 2002, S. 203.
Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber Verlag, Laaber, 2000, S. 318.
Anthony Hodgson: The Music of Joseph Haydn: The Symphonies. Tantivy Press: London, 1976, S. 106f.

Sinfonie Nr. 79
VOL. 6 _LAMENTATIONE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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80

SINFONIE NR. 80 D-MOLL HOB. I:80 (ca. 1783/84)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [bis 8.11.1784]

Allegro spiritoso / Adagio / Menuet – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Ein ganzes Jahrzehnt war vergangen, dass Haydn mit der sog. «Abschiedssinfonie» sein letztes größeres Orchesterwerk in Moll komponiert hatte – eine Zeit in der er auf dem Gebiet der Sinfonik aber alles andere als untätig geblieben war und seiner musikalischen Sprache manch neue Ausdrucksweise hatte angedeihen lassen. In der Forschung ist hierbei meist von einem (weitgehenden) Verzicht auf jene ins Extrem geführte Kompositionweise die Rede, welche – traditionellerweise mit dem aus der Literaturwissenschaft entlehnten Begriff des «Sturm und Drang» umschrieben – in einer ganzen Reihe Haydn'scher Werke ab Ende der 1760er Jahre zutage getreten war.
Dass es in Haydns sinfonischem Œuvre fortan weniger «experimentell», dafür aber deutlich «populärer» zugehen sollte, davon kann nach gut informierter Sichtweise kaum mehr die Rede sein. Auch lässt sich wohl nicht bestreiten, dass der «musikalische Sturm und Drang» zu seiner Hochzeit ein gleichermaßen beliebtes wie weitverbreitetes Stilmittel gewesen sei.
Ein Grund, warum das Extreme, das Schroffe und Ungebändigte in des Komponisten Vokabular zwar fortan in den Hintergrund getreten, nie aber wirklich verschwunden war, liegt wohl auch v.a. darin begründet, dass Haydn, nachdem ihm ein neuer Dienstvertrag aus 1779 erlaubte, den internationalen Musikalienmarkt nunmehr aktiv mit eigenen Tonschöpfungen zu bedienen, es sich zur Regel machte, ein jedes seiner künftigen Publikationsprojekte fortan mit einem Werk aus dem «weichen Tongeschlecht» abzurunden. So sollte sich selbiger Beschluss dann nicht nur auf den um 1782 entstandenen und bald darauf als «schön, prächtig und nicht gar zu lange» beworbenen Trias der Sinfonien Hob. I:76-78 mit seiner «ex C minore» an letzter Stelle, sondern auch auf dessen nachfolgenden Werkzyklus auswirken, welchem die hier nun besprochene «Sinfonia in D la Sol re minore / Di me Giuseppe Haydnmpria» – so der autographe Titel einer als Stichvorlage für den Londoner Erstdruck durch William Forster verfassten Stimmenabschrift – angehört.

Als »turbulent and unstable”, «erregt» und «ungestüm», als «heftigen, aber thematisch kaum konturierten und harmonisch unruhigen, im Ton düsteren Komplex», wurde der wahrhaft stürmische Beginn von Hob. I:80 beschrieben. Und tatsächlich fühlt sich das Publikum gleich mitten im Geschehen, wo ihm eine die ersten Takte beherrschende «kräftig markierte Melodie zu flirrenden Streichertremoli» den Eindruck verleiht, als ob sie zuvor ihres Anfangs beraubt oder aus einem größeren Zusammenhang herausgerissen wurde.
Von kompositionstechnischer Warte aus betrachtet, lässt sich in diesem Kontext hingegen auch von einem Dreitonmotiv mit variabler Intervallstruktur berichten, welches den entscheidenden Stimmungsgehalt der ersten Themenperiode maßgeblich beeinflussen wird. Selbiges leitet sodann in ein vermeintliches «Seitenthema» über, das aber – bevor es eine ordentliche Schlusskadenz bilden kann – von einem verminderten Septakkord unterbrochen und wie wider Willen weiter nach f-moll getrieben wird. Bis zu diesem Zeitpunkt sei alles, so A. Robert Browns treffende Bemerkung, »almost one big Sturm und Drang gesture” gewesen. Dann aber geschieht etwas geradezu unerhört Haydn'sches: Einer fingerschnippartigen Vorschlagsfigur folgend, wiegt sich ein flöten- und geigengeführtes Ländlerthema mit Pizzicatobegleitung ein – und als dann nach weiteren sieben Takten das Zeichen zum Sprung an den Satzbeginn erfolgt, scheint guter Rat teuer – zumal (nach der erwarteten Wiederholungsschleife) der folgende Formabschnitt gleich einem Moment der Besinnung mit einer zweitaktigen Generalpause beginnt. Was mag sich da wohl in der Ideenschmiede des Tonsetzters zugetragen haben? Über einschneidende Septakkorde und manch harmonische Terra icognita (anfänglich Des-Dur!) fegt der Sturm dann in g-Moll dahin, bis ihm der Ländler zum wiederholten Male Einhalt und eine Wendung nach F-Dur gebietet. Als sich die Streicherbässe in weiterer Folge auf den Orgelton a einigen, wird des Komponisten Plan vollends klar: das Ziel liegt in D-Dur und mit dem vorausgehenden Kampf der Tongeschlechter ist es dann endgültig vorbei, als das «Seitenthema» mit dem entsprechenden Vorzeichenwechsel seine triumphale Rückkehr feiert.

In eine verwandte und doch wiederum anders geartete Sphäre leitet der zweite Satz der Sinfonie, ein Adagio in B-Dur, der Subdominante von d-Moll hinüber. Obwohl also tonartlich gesehen ein Bezug zum finsteren Werkbeginn aufgebaut wird, schlägt die Stimmung nun eine heitere, freundliche, der Welt und der Liebe geöffnete Richtung ein. Die Vermutung, dass Haydn hier mit seinen ausschweifenden, von allerlei Zierwerk angereicherten Melodiebögen eine Brücke zur Oper schlagen wollte, mag jedenfalls durchaus überzeugen, hatte er doch beinahe zeitgleich an Armida, seinem letzten für das Theater auf Schloss Eszterháza selbst verfassten Bühnenwerk gearbeitet. Der musikalische Atem ist jedenfalls von beeindruckender Länge und durchläuft sogar sämtliche Teile der klassischen Sonatensatzform, der im weiteren Verlauf noch ein von sextolischen Akkordbrechungen begleitetes Seitenthema, eine rhythmisch-pointierte Überleitung sowie ein tänzerischer Schlussgedanke beigesteuert werden. Dass es inmitten dieser Idylle nicht auch an einer vorübergehenden Verdunkelung, an diversen dramatischen Abbrüchen und melodischen Stillständen mangeln darf, versteht sich beinahe von selbst.
In einer das Dreitonmotiv des Allegro spiritoso zitierenden Weise geht es – ins anfängliche d-Moll zurückgekehrt – mit dem erwarteten Menuettsatz weiter. Ein energisch-angespannter Dreivierteltakt? Hätte da nicht viel eher der vorherige Ländler gepasst? Auf diese hypothetische Zuhörerfrage könnte Haydn es bei seiner Werkkonzeption durchaus abgesehen haben.
Jedenfalls scheint hier der Konflikt der Tongeschlechter auch eine gewisse Rolle zu spielen, kehrt doch der Trioteil mit seinem simplizistischen Oboe-Horn-Violine-Thema nach ein paar mehrdeutigen Takten entschieden nach Dur zurück.
Ganz und gar «unklar» wirkt indes der Beginn des Presto-Finale, welches von Walter Lessing einst als «ein Kabinettstück an bizarrem Humor und rhythmischer Delikatesse, gepaart mit überraschenden instrumentalen und harmonischen Effekten» charakterisiert wurde. Wie recht er dabei hatte: Ein über alle Streicherstimmen hinweg geradtaktig angelegtes Thema erst gegen Ende seiner zwölftaktigen Vorstellungsphase als synkopisch versetzten Zweivierteltakt zu outen – das grenzt schon beinahe an Verwegenheit!
In Windeseile ergreift das Synkopen-Motiv auch von den übrigen Orchesterstimmen Besitz, während die Violinen sich über einige Takte hinweg mit ungestümen 32tel-Läufen ein wenig Luft verschaffen können. Freilich werden die Flüchtigen gleich wieder eingefangen und von einem chromatischen Motiv der sie umzingelnden übrigen Stimmen mit Argusaugen beobachtet – bis sie sich aufs Neue losreißen und einem kleinen aber feinen Terzengesang der Oboen Tor und Tür öffnen. Mit munter aufsteigenden Staccato-Motiven geht es zurück in die Wiederholung und dann auch weiter in die zweite Satzhälfte, die, so Ludwig Finscher, einer «wahre[n] tour de force [motivisch-]thematischer Arbeit» gleich komme. Mit akzentuierter Chromatik und einer Kombination aus Synkopen- und Staccato-Motiven zeigt sich der Schluss des Finalsatzes ebenso bewegt wie auch in seinen harmonischen Streifzügen, die von d-Moll bzw. F-Dur über g-, fis- und cis-Moll bis hin nach H- und ins schlussendliche D-Dur reichen – ein außergewöhnliches Ende einer außergewöhnlichen Sinfonie!

Matthew Riley: The Viennese Minor-Key Symphony in the Age of Haydn and Mozart. Oxford & New York 2014, S. 210.
Andreas Friesenhagen: Begleittext zur CD-Aufnahme «Haydn. The Harmonia Mundi Edition: Violin Concerto no.1, Symphonies no.49 »La Passione” & no.80. Freiburger Barockorchester, Gottfried von der Goltz”. Arles 2009, S. 21.
Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2000, S. 318.
Siehe Fußnote 2..
A. Peter Brown: The Symphonic Repertoire Vol. II – The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert. Bloomington 2002, S. 203.
Walter Lessing, Die Sinfonien von Joseph Haydn, Band II, Baden-Baden 1988, S. 233.

Sinfonie Nr. 80
VOL. 5 _L'HOMME DE GÉNIE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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81

SINFONIE NR. 81 G-DUR HOB. I:81 (1763)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: [bis 8.11.1784]

Vivace / Andante / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Allegro ma non troppo

 

von Christian Moritz-Bauer

«Die Verbindung von Unkompliziertem, Populärem und Artifiziellem gelingt Haydn nicht immer.»
(Michael Walter: Haydns Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer. C. H. Beck: München, 2007, S. 84)

«[...]no surprising or dramatic gestures, little use of the minor mode, no overt displays of a learned style, and all of it […] accessible upon first hearing […] this work would be easily received by [an] elite group, who could concern themselves with going to concerts or private entertainments.»
(A. Peter Brown: The Symphonic Repertoire Vol. II: The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert. Indiana University Press: Bloomington, 2002, S. 207)

«The whole work has the sleek elegance which [...] marks Haydn in the role of the Great Entertainer.»
(H.C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works, Vol. 2: Haydn at Eszterháza: 1766-1790. Thames and Hudson: London, 1978, S. 567)

«Es sind jetzt die Ausnahmefälle, wenn das Sonderbare und Exzentrische, das so häufig wie eh und je in seinem Werk auftritt, nicht [wie in der unterschätzten Symphonie Nr. 81] durch Lyrik verklärt wird.»
(Charles Rosen: Der klassische Stil. Haydn, Mozart, Beethoven. Bärenreiter: Kassel u.a. 1983, S. 175)

Wie aus den vorausgegangenen Zitaten ersichtlich, reichen die Meinungen hinsichtlich der G-Dur-Sinfonie Hob. I:81, ihrer kompositorischen Qualitäten, aber auch ihres auf das Schaffen Joseph Haydns bezogenen Stellenwerts, seit jeher weit auseinander.

An der Schwelle zwischen den sog. «Sturm und Drang-» bzw. den «Theatersinfonien» der späten 1760er und 1770er Jahre, sowie der Zeit der Pariser und Londoner Sinfonien stehend, bildete sie ursprünglich den Auftakt zu des Komponisten zweiter, sich an ein internationales Publikum wendenden Werkgruppe, innerhalb derer sie im März 1785 durch das Wiener Verlagshaus Artaria ihre Erstveröffentlichung erfuhr.

Was den Erfordernissen des Marktes entsprechend unterhaltsam und von den Musikausübenden in nah und fern ohne besondere Schwierigkeiten wiederzugeben sein sollte, musste mit den an sich selbst gestellten und über Jahre hinweg gewachsenen Ansprüchen in Übereinstimmung gebracht werden, welch eine Herausforderung! Und genau dieser versucht Haydn hier mit überraschend neuartig, ja mitunter sogar regelwidrig angeordneten Kompositionselementen zu begegnen.
Als ein besonders beliebtes Spielfeld bietet sich natürlich die Werkeröffnung an, für die sich der Komponist im vorliegenden Falle einen Schachzug von geradezu genialer Simplizität hatte einfallen lassen: Aus einem kraftvollen Tutti-Schlag, von dem bald nichts als der Rest einer Schallwelle zurückbleibt, schält sich ein in seiner Fragilität geradezu mysteriös erscheinender Trommelbass der Violoncelli heraus, zu dessen leise pochenden Tonrepetitionen auf g sich ein darüber geschichtetes f der zweiten sowie ein den harmonischen Bezugspunkt weiter verschleierndes Vorhaltsmotiv der ersten Violinen gesellt. Als letztere dann doch noch den klärenden Leitton ausspielen und mittels sanft ausschwingender Achtelbewegung wieder Bodenkontakt gewinnen, rutscht der gesamte Streicherapparat ganz unvermutet ins dominantische D-Dur ab. Ein klassischer Fehlstart? also: Kommando zurück, zweiter Versuch.
Ob es der vorgezogene Einsatz der Violen war, der dem locker gefügten Kaleidoskop an Motiven die nötige Stabilität verschaffte? Was zählt ist der Erfolg – und genau diesen verspricht ein von kräftigen rhythmischen Konturen akzentuierter Forteblock, der gegen Ende der nächsten Periode auf einem von Tuttiakkorden gestützten harmonischen Grundgerüst erscheint, das auch ein neuer, von Achtelpausen und chromatischem Melodieverlauf geprägter thematischer Grundgedanke für sich zu nutzen weiß.
Spätestens hier bewegt unser Meister sich dort, wohin ihm sein damaliges Zielpublikum wohl gerade noch zu folgen vermochte und kann es somit wagen, sein altbekanntes Verwirrspiel von Neuem zu beginnen. Zu guter Letzt wird sie, die Zuhörerschaft, aber dennoch erhört und mit einer vollständigen Wiedergabe des Anfangsthemas versöhnt, die in einer schlichten Schlusskadenz mündet.
Der angeklungenen freundlich-gelassenen Stimmung darf sich das Publikum aber auch im anschließenden Andante, einem Siciliano-Thema mit drei darauf folgenden Variationen erfreuen, aus dem an zentraler Stelle ein kontrastreich dazwischen geschaltetenes, dorisch notiertes Interludium hervorsticht.
Nach einem Menuett von rustikaler Natur und einem Fagottsolo-lastigen Trio mit exotisch anmutender Mollwendung, hält der Finalsatz mit denkbar vielgestaltigen rhythmischen Impulsen Einzug. Dabei zeigt sich das Allegro nicht nur im Tonfall, dem eher die Position des Kopf- als diejenige des Schlusssatzes gebührend erschiene, sondern auch des entschleunigten Tempozusatzes (ma non troppo) wegen, als durchaus erwartungsenttäuschend. Ein Gutes hat das Haydn'sche Vexierspiel aber doch: die Gefahr, den monothematischen Melodieverlauf mit all seinen Stimmüberkreuzungen, motivischen Abwandlungen und wechselnden Akzentsetzungen aus dem Auge zu verlieren oder mit Ohr und Verstand nicht mehr folgen zu können ist deutlich gesunken!

Sinfonie Nr. 81
VOL. 5 _L'HOMME DE GÉNIE

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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82

SINFONIE NR. 82 C-DUR «L'OURS» HOB. I:82 (1786)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr oder Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: 1786

Vivace / Allegretto / Menuet – Trio / Finale. Vivace [assai]

 

von Christian Moritz-Bauer

Die Idee eines Jahrmarktspektakels, wie sie uns H. C. Robins Landon hinsichtlich der Sinfonie Nr. 2 von ca. 1759 näher brachte,1 lässt sich auch auf den Schluss- und Höhepunkt von Haydn2032-Projekt Nr. 11 „Au goût parisien“ übertragen: die Sinfonie Nr. 82 in C-Dur, bekannt geworden unter dem Beinamen „L'Ours“. ,Schuld daranʻ ist dessen berühmter Finalsatz mit seinem 2/4-taktigen Contredanse-Charakter, bei dem sich „[i]n unaufhörlichem Wirbel“2 Bild an Bild einer sich an sich selbst und einem bunten Treiben von Schaustellern erfreuenden Gesellschaft reihen. Ob diese Szenen nun im Park von Schloss Eszterház nahe Süttor, oder vielmehr am Platz um die Kirche Saint-Germain-des-Prés, im gleichnamigen Quartiers des 6. Pariser Arrondissement gelegen, stattgefunden haben, möge ein(e) jede/r ihrer/seiner eigenen Phantasie überlassen. Als besonders bildhaft erweist sich dabei sogleich das dem sprunghaften Hauptthema unterlegte Spiel der Streicherbässe mit brummenden Liegetönen und schrappenden Vorschlagsnoten, das an das Drehleier- und Dudelsackspiel des Fahrenden Volkes erinnert. Jedenfalls sollte schon im Jahr der ersten Stimmendrucke von Hob. I:82 in einer Anthologie des Speyrer Verlegers Philipp Bossler eine Klavierbearbeitung eben jenes Vivace assai erscheinen, das dort den Beinamen „Bären-Tanz“ erhielt. Von hier bis zur späteren Taufe der gesamten Sinfoniekomposition auf „L'Ours. Bärentanz“ im Haydn-Verzeichnis der Zürcher Neujahrsblätter (1831) und in der gleichnamigen Partiturausgabe von 1860/61 beim Offenbacher Verlag André, war es also – zumindest inhaltlich gesehen – alles andere mehr als weit.

Die Wildheit und Energie der Großen „Ex C“ aus Haydns sechsteiligem Sinfonienzyklus von 1785/86 greift weit um sich und bemächtigt sich nicht nur des zweiten, „polkaartig schwingenden“3 Themas des Finalsatzes samt strettaartiger Schlusspassage mit Fortissimo-Paukenwirbel. Schon auf das anfängliche Vivace streckt es seine Fühler aus. So vermutet auch der bereits zitierte A. Peter Brown, wenn – laut eines W. A. Mozart – das französische Publikum für den Anfang einer Sinfonie in der Regel nach einem premier coup d'archet, einer lautstarken, oft tutti geführten Passage verlangte, der Kompositionsbeginn hier bei Haydn auf selbiges wie ein Energieschock gewirkt haben müsste.4
Nach einem so glutvollen Werkbeginn, entpuppt sich das Allegretto als ein für den Haydn jener Jahre so typisch wie kunstvoll gestalteten Variationssatz, in dem zwei alternierende Themen von gegenteiligem Tongeschlecht (F-Dur bzw. f-Moll) in wechselnder Folge verarbeitet werden. Bernard Harrison fügt dem hinzu, dass die Natürlichkeit und Einfachheit dieses (gar nicht so) langsamen Satzes der (scheinbaren?) Würde der Gesamtkomposition gegenüber in jeder Hinsicht angemessen gewesen wären.5 Ob das auch auf dessen schmissige Coda zutreffend ist? mais oui, bien sûr...
Besaß der Menuet-Satz des vor der Konzertpause erklungenen Schwesternwerks in A-Dur einen eher rustikalen, handfesten Charakter, so zeigt sich selbiger – hier sofort hörbar – dem festlichen Charakter des Kopfsatzes verwandt. Auch Landon bezeugt, dass er in puncto Schreibweise wie innerem Geiste vor allem nach einer Art gestaltet worden sei, nämlich nach der französischen.6
Und somit wären wir wieder beim Bärentanz angelangt, dessen eigentlicher Witz, James Websterzufolge, darin bestünde, wie Haydn „dessen starres Thema mit kunstvollen kontrapunktischen Partien […] verschmelze – so, als wäre zuvor nichts gewesen …“7

H.C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn: The Early Years: 1732–1765, London 1980, S. 287.
Jürgen Mainka: „Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 82 C-Dur »L'ours« Hob. I:82 (1786)“ in: Malte Korff (Hg.): Konzertbuch Orchestermusik 1650–1800. Wiesbaden / Leipzig 1991, S. 364.
Ibid.
Vgl. A. Peter Brown: The Symphonic Repertoire Volume II. The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven, and Schubert. Bloomington & Indianapolis 2002, S. 221–222.
Vgl. Bernard Harrison: Haydn. The Paris Symphonies. Cambridge 1998, S. 53.
Vgl. H. C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn at Eszterháza 1766–1790. London 1978, S. 614.
Zit. nach: Einspielungen und Informationen zur 82. Sinfonie Haydns vom Projekt „Haydn 100&7“ der Haydn-Festspiele Eisenstadt, Abruf: 2. Mai 2019.

Sinfonie Nr. 82 "L'Ours"
VOL. 11 _AU GOÛT PARISIEN

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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83

SINFONIE NR. 83 G-MOLL «LA POULE» (1785)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1785
84

SINFONIE NR. 84 ES-DUR HOB. I:84 (1786)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1786
85

SINFONIE NR. 85 B-DUR «LA REINE» HOB. I:85 (1785)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1785

Adagio – Vivace / Romance. Allegretto / Menuet. Allegretto – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

Als Maria Theresia im Spätsommer 1773 zu Eszterház weilte, befand sich ihre jüngste Tochter, Erzherzogin Maria Antonia, längst zu Frankreich und mit dem dortigen Thronfolger Louis-Auguste, der als scheu, fromm und sittenstreng galt, verheiratet. Auch nannte man sie, die auf ihrer als bereits als Fünfzehnjährige angetretenen Brautfahrt gen Westen alles an ihre frühere Heimat Erinnernde, ihre Kleidung, ihren Schmuck, ja selbst ihren deutschen Namen ablegen musste, nunmehr Marie Antoinette, als die sie auch heute noch – befördert durch manch filmisches Porträt der letzten Jahre – für ihren individuellen wie extravaganten Lebensstil ein Begriff ist. Die Dauphine, die bald darauf zur vielbeachteten, vielkopierten wie letztlich auf geradezu tragische Weise vom eigenen Volk verachteten Königin der Franzosen wurde, war aber auch eine Musikerin von beachtlicher Begabung, sang und spielte das Cembalo wie die Harfe und galt überhaupt als eine Förderin der schönen Künste. In Paris frequentierte sie die bedeutendsten Orte des öffentlichen Lebens, namentlich die Oper. Der Komponist, dem Marie Antoinette dabei zeitlebens innigste Treue hielt war Christoph Willibald Ritter von Gluck, der ihr als Mädchen den Gesang und das Spiel diverser Tasten- wie Zupfinstrumente gelehrt hatte und den sie nun nach Versailles und Paris einlud. Mit ausgesprochenem Erfolg unterstützte sie Gluck dabei, das Musiktheater der französischen Hauptstadt mit Übertragungen seiner Wiener Reformopern „Orfeo“ und „Alceste“, sowie einer Serie von neukomponierten Tragédies, allen voran die „Armide“ von 1777, nachhaltig zu verändern.

Ab 1780 bot der Königin ihr Lustschloss Petit Trianon, nordwestlich des Schlosses von Versailles im sogenannten Petit Parc gelegen, die ideale Bühne ihren legendären Geschmack auszuleben, sich mit allerlei illustren Personen aus der Welt der Mode, der Literatur, des Theaters und der Musik zu vergnügen, worunter sich etwa so bekannte Persönlichkeiten wie Grétry, Delayrac und Monsigny, die Italiener Paisiello, Piccinni und Sacchini, der Dichter Beaumarchais, aber auch Antonio Salieri, Glucks Nachfolger im Pariser Opernleben, sowie ein gewisser Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges befanden. Als Geigenvirtuose, Komponist und Dirigent, aber auch als Athlet und Fechter mit karibischen Wurzeln weithin bekannt, soll dieser eine entscheidende, wenngleich nicht wirklich nachweisbare Rolle bei der Bestellung der sogenannten „Pariser Sinfonien“ Hob. I:82-87 von Joseph Haydn in Eszterház gespielt haben. Aus dieser (freilich recht wagen) Verbindung, bzw. den 1788 erschienenen ersten französischen Druckausgaben der bereits drei Jahre zuvor komponierten und von der Pariser Société Olympique, einer Freimaurerloge mit eigenem Orchester samt in der Salle des Gardes des Tuilerien-Palasts gegebener Konzertreihe aufgeführten Sinfonie B-Dur Hob. I:85, die unter dem Kopftitel „La Reine de France“ bzw. der Nennung des Beinamens „La Reine“ publiziert wurde, entstand schließlich die namentlich von Carl Ferdinand Pohl verbreitete These, dass sie ein Lieblingsstück von Marie Antoinette gewesen sein soll.

Wenngleich sich dies sich weder be- noch widerlegen lässt, zudem Pohls weitere Behauptung, Haydn habe für den zweiten Satz der selbigen die französische Romanze „La gentille et jeune Lisette“ verarbeitet wohl „unzutreffend“ ist, so lässt sich der Charakter von Haydns Musik, insbesondere der von den Anklängen an seine eigene Abschiedssinfonie von 1772 im Kopfsatz Vivace hervorgerufene – gemeint sind die dort immer wieder überraschend hereinbrechenden Skalengänge in f-Moll – doch ohne weiteres auch mit jenen düsteren Vorboten in Einklang bringen, die sich (nicht zuletzt ausgelöst durch den verhängnisvollen Betrugsskandal der „Halsbandaffäre“ des Jahres 1785) längst über der tragischen Gestalt der „Reine de France“ zusammenbrauten.

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86

SINFONIE NR. 86 D-DUR HOB. I:86 (1786)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, (2 Trp, Pk), Str
Entstehungsjahr: 1786
87

SINFONIE NR. 87 A-DUR HOB. I:87 (1785)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1785

Vivace / Adagio / Menuet – [Trio] / Finale. Vivace

 

von Christian Moritz-Bauer

Von 1764, dem Kompositionsjahr Sinfonie Nr. 24 D-Dur, bis 1784, dem Jahr des vermeintlichen Vertragsschlusses zwischen Haydn und den Vertretern der Freimaurerloge « de la Parfaite Estime & Société Olympique » bzw. deren hauseigener Veranstaltungsreihe, dem Concert de la Loge Olympique, waren ungefähr ein halbes Hundert Haydn'scher bzw. Haydn unterschobener Sinfonien bei verschiedenen Pariser Verlegern herausgekommen. Bis zur Veröffentlichung der Six SINFONIES A DIVERS INSTRUMENS DU RÉPERTOIRE DE LA LOGE OLYMPIQUE sollten allerdings noch einige Jahre ins Land ziehen und selbiger Sammlung sogar drei weitere Drucke – wenngleich in voneinander abweichender Reihung der Werke folgen.1 Beim Verlag Artaria Compagnie in Wien, welcher schließlich der erste war, der Haydns „Pariser Sinfonien“ zum Verkauf anbieten konnte, hatte Haydn sogar versucht, Einfluss auf die Publikationsreihenfolge zu nehmen: „[...] Ich vergasse lezthin die Ordnung der Sinfonien anzuzeigen, und müssen solche folgender arth gestochen werden: Die Sinfonie Ex A. Numero 1, Ex b fa Nro 2, Ex g Nro 3, Ex Es Nro 4, Ex D Nro 5, Ex C Nro 6.“2 Dieser (am Ende unerfüllt gebliebenen) brieflichen Anweisung entsprechend, hatte Haydn also geplant, sein jüngstes Oeuvre mit eben jenem Werk beginnen zu lassen, das in der offiziellen Zählung schließlich das Schlusslicht einnehmen sollte: die Sinfonie Nr. 87 in A-Dur.

Der ursprünglich zugedachten Position unter den Sinfonien Hob. I:82–87 entsprechend, zeigt sich der Beginn jenes Werks, das H. C. Robbins Landon einmal als „stepchild of the Paris Symphonies“ bezeichnete,3 den Anfängen seiner früheren, aus dem Bereich der Theatermusik erwachsenen Sinfonien als durchaus nahestehend. Haydn-Forscher Felix Diergarten bringt es auf den Punkt: „Der Fanfaren-Gestus [des anfänglichen, drei Mal hintereinander auftretenden] rhythmischen Motivs, der rauschende Klang, die eher amorphe Melodik und das Unisono ab Takt 6 […]. Welche der verschiedenen motivischen Gestalten […] zum Gegenstand der sinfonischen Entwicklung werden wird, macht erst [die in] Takt 18 [einsetzende Fortspinnung] klar.“4 Doch damit nicht genug, was die zahlreichen Überraschungen dieses lebhaften Sinfoniesatzes angeht. Da wäre etwa das hin und her trippelnde Seitenthema der Streicher, mit dessen Einsatz sich der Komponist so viel Zeit lässt, dass er es – um „seine Pointe“ zu verstärken – nach einem eingeschobenen Orchestertutti gleich nochmals wiederholt, um damit den ersten Wiederholungsteil im Pianissimo verklingen zu lassen. (Ganz nebenbei sei auch noch erwähnt, dass eben jenes Seitenthema im weiteren Verlauf des Satzes zu des Komponisten liebstem motivisch-thematischen Spielball avanciert, mit dem er seine Zuhörerschaft auf einen Orbit voller genialischer Stimmungsumschwünge schicken wird.)
Auf soviel ,innere Erregungʻ wirkt das Adagio „mit [seinen] schönen Themen und variierter wiefarbenprächtiger Instrumentierung, als ideales Medium für bläsersolistische Alleingänge, die möglicherweise v. a. dazu entworfen wurden, dem Geschmack der Pariser zu schmeicheln“.5 In eben jene Richtung, nämlich seinem entfernt gelegenen Publikum mit einen Höchstmaß an kompositorischer Vielfalt aufzuwarten, dürfte auch das anschließende Menuetkonzipiert worden sein. Landon etwa vermag aus ihm „eingängige Peitschenschnalzer“ und „leichte Balkan-Drehungen“ herauszuhören,6 sowie ein überaus anspruchsvolles Oboensolo in dem dazwischen geschalteten Trio-Abschnitt. Und zum finalen Vivace lesen wir bei Ludwig Finscher, dass es „in gewisser Hinsicht einfach, aber zugleich einer der merkwürdigsten Sonatensätze“ sei, die Haydn je geschrieben habe: „[D]ie thematische Substanz ist gering, das einzige Thema wird kein einziges Mal geschlossen präsentiert, sondern bricht ständig in lärmende Tutti-Durchführungsabschnitte um. An die Stelle eines durch ausbalancierte Form gebändigten Satzes […] tritt die permanente Turbulenz, nach deren Festlaufen in Septakkorden das endlich erscheinende Thema nur noch ein witziges apercu ist. Das Publikum, das sich schon über die Witze im Finale von Mozarts Pariser Symphonie so gefreut hatte, wird [solcherlei Spiel gewiss] goutiert haben.“7

Siehe: Hiroshi Nakano (Hg.), Johann Haydn Werke I/12: Pariser Sinfonien, 1. Folge, München 1971, S. VI–VII.
Joseph Haydn: Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Unter Benutzung der Quellensammlung von H. C. Robbins Landon, hg. von Dénes Bartha, Kassel, Budapest u.a. 1965, S. 175(–176).
H. C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn at Eszterháza 1766–1790. London 1978, S. 606.
Felix Diergarten: „Jedem Ohre klingend.“ Formprinzipien in Haydns Sinfonieexpositionen. Laaber 2012, S. 173.
Bernard Harrison: Haydn. The Paris Symphonies. Cambridge 1998, S. 92 (Übers.: Christian Moritz-Bauer).
Landon: Haydn at Eszterháza, S. 607.
Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber 2000, S. 343–344.

VOL. 11 _AU GOÛT PARISIEN

Giovanni Antonini, Kammerorchester Basel

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88

SINFONIE NR. 88 G-DUR HOB. I:88 (1787)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: 1787? [-1788]
89

SINFONIE NR. 89 F-DUR HOB. I:89 (1787)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1787
90

SINFONIE NR. 90 C-DUR HOB. I:90 (1788)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, (2 Trp, Pk), Str
Entstehungsjahr: 1788

Adagio – Allegro assai / Andante / Menuet – Trio / Finale. Allegro assai

 

von Christian Moritz-Bauer

Haydn liebte es zu lachen. Belegen lässt sich dies etwa durch eine Beschreibung des in London wirkenden Klaviervirtuosen und Komponisten Muzio Clementi, an die sich der Musikhistoriker Charles Burney, ein großer Bewunderer Haydns, erinnerte:

„Clementi, der ihn in Ungarn bei Fürst Esterhazy sah, sagt er sei ein kleiner Mann mit brauner Gesichtsfarbe, um die fünfzig, trägt eine Perücke, und wenn er eines seiner eigenen kapriziösen Werke aufgeführt hört, lacht er wie ein Narr.“ 1

Wenn also Haydn beim Hören seiner Kompositionen lachen musste, so darf man sich vorstellen, dass er dies auch von anderen daran Teilhabenden erwartete, besonders wenn sie aus den Reihen jenes Publikums stammten, das er direkt vor Augen hatte. Eine besonders einprägsame musikalische Passage, die er zu diesem Zweck auserkoren hatte, findet sich in der Sinfonie Nr. 90 wieder.
Gegen Ende des Finales der Komposition scheint die Musik zu einem vorzeitigen Ende zu gelangen, auf welches schon so manches Konzertpublikum – man hört und erzählt es sich allenthalben – hereingefallen sein soll. Doch nach einer vier Takte langen Generalpause wird – welch feinsinniger, die Komik der Situation noch verstärkender Humor – der (ganz selbstverständlich) in der Grundtonart angesiedelte Satz in Des-Dur, der tiefalterierten zweiten bzw. neapolitanischen Stufe von C, wiederaufgenommen und endet schließlich in einer gewaltigen Coda.
Insgesamt darf Haydns ursprünglich für die Konzerte der Pariser Freimaurerloge Société Olympique verfasste C-Dur-Sinfonie, die laut Datierung des Partiturautographs im Jahr 1788 entstand, als ein ausgesprochen „charmantes, gewinnendes, mit festlichem Blechbläserglanz ausgestattetes Werk“ umschrieben werden – wie geschaffen als musikalischer Auftakt, nicht nur für ein Publikum heutiger Tage, sondern auch das der Mr. Salomon’s Concerts zu London, jener im Jahr 1786 ins Leben gerufenen Veranstaltungsreihe des aus Bonn stammenden Violinisten und Impresario Johann Peter Salomon. Ihm war es bekanntlich gelungen, den nach dem Tod seines jahrzehntelangen Dienstherrn Fürst Nikolaus I. Esterházy mit einem Mal beschäftigungslos gewordenen Joseph Haydn für musikausübende wie neue kompositorische Beiträge zu gewinnen.
Da Haydns erstes sich über die Jahre 1791-92 erstreckendes Londoner Engagement aus nicht weniger als zwölf Konzerten pro Saison zuzüglich eines Benefizkonzerts bestand, zu denen er insgesamt sechs neu komponierte Sinfonien beizusteuern hatte, erscheint es nur allzu logisch, dass dies ohne einen bereits mitgebrachten Vorrat an älteren Kompositionen nicht zu bewerkstelligen war. Zu diesen gehörte u. a. jenes Werk, das nach Beendigung von Haydns erster ‚London Season‘ anlässlich der von Charles Burney initiierten Ernennung des Komponisten zum Ehrendoktor der Universität Oxford aufgeführt wurde und deshalb fortan auf den gleichnamigen Beinamen hören sollte, aber auch die heute eingangs Erklingende. In einer Anzeige der Tageszeitung „The Times“ vom 23. November 1791 wurden jedenfalls Drucke beider Werke als „Haydn’s Grand Symphonies No. 7 and 8, performed at Mr. Salomons Concert, 1791“ annonciert,2 erschienen beim Verlag Longman & Broderip, No. 26 Cheapside, Music Sellers to the Royal Family.

1 Zit. nach Alvaro Ribeiro (Hrsg.):The Letters of Dr Charles Burney, Vol. 1. Oxford: Oxford University Press, 1991, S. 400 (Übersetzung: Christian Moritz-Bauer).
2 Vgl. H. C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn in England 1791–1795. London: Thames and Hudson, 1976, S. 54.

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91

SINFONIE NR. 91 ES-DUR HOB. I:91 (1788)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, Str
Entstehungsjahr: 1788
92

SINFONIE NR. 92 G-DUR «OXFORD» HOB. I:92 (1789)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, (2 Trp, Pk), Str
Entstehungsjahr: 1789
93

SINFONIE NR. 93 D-DUR HOB. I:93 (1791)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: London 1791, UA 17.2.1792
94

SINFONIE NR. 94 G-DUR «THE SURPRISE» («MIT DEM PAUKENSCHLAG») HOB. I:94 (London 1791, UA 23.3.1792)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: 1791
Uraufführung: 23.3.1792

Adagio – Vivace assai / Andante / Menuet – Trio / Finale. Allegro di molto

 

von Christian Moritz-Bauer

„[In Salomons Konzerten wurden …] auch Gesangsstücke, Concertstücke auf verschiedenen Instrumenten und zuweilen Chöre aufgeführt, so dass die Concerte öfters bis nach Mitternacht dauerten, wobei die Damen nicht selten eingeschlummert waren. Dies brachte Haydn auf den Gedanken, etwas zu schreiben, was dieselben aus dem Schlaf wecken sollte, und bei dieser Gelegenheit entstand das beliebte Andante mit dem Paukenschlag, worüber die Damen wirklich aus dem Schlaf zusammen fuhren, und manche sogar einen lauten Schrei hören ließen. Als Haydn eben dieses Andante komponierte, kam Gyrowetz zu ihm auf Besuch. Haydn war über seinen eigenen Gedanken so erfreut und fröhlich, dass er ihm sogleich das Andante auf seinem viereckigen Fortepiano vorspielte, dabei herzlich lächelte, und gleichsam im prophetischen Geiste ausrief: Da werden sie aufspringen!“1

Der in England enthusiastisch gefeierte Joseph Haydn trug die ihm daselbst verliehenen Ehrentitel – „Doktor der Musik“, „Shakespeare der Musik“, usw. – egal, ob sie nun offizieller oder auch inoffizieller Natur waren, allemal zurecht. Hymnengleiche Adagios, subtile Komödien, ja sogar kleine Rüpelszenen – sie alle finden sich in den Werken, insbesondere Sinfonien, die er dort zur Aufführung brachte, wieder. Dass er mit der Kreation der selbigen aber nicht nur Mühe, sondern gelegentlich auch eine rechte Freude hatte – wie aus dem autobiographischen Bericht seines ihn gerne zu London besuchenden Musikerkollegen Adalbert Gyrowetz hervorgeht – sei ihm natürlich von Herzen gegönnt, auch über all die vergangene Zeit hinweg. Der Paukenschlag-Akkord der G- Dur-Sinfonie Hob. I:94 war also eine nachträgliche kompositorische Zutat – was auch ein Blick in Haydns Autograph der zunächst festgehaltenen Erstfassung des langsamen Satzes bestätigt. Denn jene Stelle, an der er später erschallen sollte, wird hier noch von einem einfachen Wiederholungszeichen eingenommen, das den Vorder- vom Nachsatz in der anfänglichen Präsentation des „semplice“ vorzutragenden Themas dieses wohl berühmtesten aller jemals komponierten Variationensätze trennt.

Einfachheit und Eingängigkeit gepaart mit Expression und solennem Pathos aber sehr gerne auch mit Witz und Ironie stellten seinerzeit eine Art Maxime im ästhetischen Empfinden der gehobenen Gesellschaft Englands dar, die auf literarischer Seite ihre wohl stärkste Ausprägung in den Werken eines Laurence Sterne fand. Die selbige nunmehr auch in der Musik anzutreffen, war hingegen etwas vollkommen Neues und dementsprechend stark wie nachhaltig auch der Eindruck, den insbesondere der langsame Satz aus Haydns Sinfonie Nr. 94, die am 23. März 1792 – also genau drei Wochen nach der im vorigen Konzertteil erklungenen Nr. 98 uraufgeführt wurde – beim damaligen Publikum hinterließ.

„Der große Name Haydns und die allgemeine Vortrefflichkeit der Konzerte unter der Leitung Salomons haben eine entsprechende Wirkung auf die Welt des Geschmacks und der Mode. Der Saal war gestern Abend überfüllt, und zwar von einer sehr eleganten Gesellschaft.
Eine neue Komposition von einem Mann wie Haydn ist ein großes Ereignis in der Geschichte der Musik. Die Neuheit des gestrigen Abends war eine großartige Sinfonie, deren Thema bemerkenswert einfach war, sich aber zu einer enormen Komplikation ausweitete, exquisit moduliert und auffallend in der Wirkung. Der Beifall der Kritiker war inbrünstig und reichhaltig.“
2

Waren ‚Nobility and Gentry‘, das sich aus Adel und Bürgertum zusammensetzende Publikum, welches der „Sixth Performance“ der 1792er Serie der Mr. Salomons Concerts einst beiwohnte, schon nach dem Verklingen des „ersten Allegros“ von Hob. I:94 – eigentlich ein Vivace assai, das sich aus der Ruhe der einleitenden Adagio-Takte heraus entwickelt, von all der bis dato erfahrenen „simplicity“ bereits dermaßen angetan, dass es sofort in Applaus und Bravo-Rufe verfiel, so dürfte das, was unmittelbar darauf folgen sollte, einen wahren Sturm an Begeisterung ausgelöst haben:

„Der zweite Satz entsprach den glücklichsten Vorstellungen des großen Meisters. Die Überraschung [‚The surprise‘] ließe sich – auf nicht unpassende Weise – mit der Situation einer schönen Hirtin vergleichen, die, durch das sanfte Rauschen eines fernen Wasserfalls eingeschläfert, von dem plötzlichen Schuss einer Vogelflinte entsetzt hochfährt.“3

Die also mit ‚einem Schlag‘ berühmt gewordene liedhafte Weise des Andante, egal ob nun tatsächlich damit einst eingeschlafene oder anderweitig abgelenkte Zuhörer*innen geweckt oder vielmehr zum erneuten Geschenk ihrer Aufmerksamkeit angeregt werden sollten, wurde bald so berühmt, dass sie in zahlreichen, zumeist mit Gesangstext unterlegten, anonym angefertigten Arrangements für den musikalischen Hausgebrauch erschien. Schließlich war es sogar Haydn selbst, der das beinah zum Volkslied gewordene Thema aus Hob. I:94 gleich einem ironischen Selbstzitat in sein letztes Oratorium „Die Jahreszeiten“ einbaute, wo es nunmehr wie auf Stichwort („In langen Furchen schreitet er dem Pfluge flötend nach“), zum musikalischen Spiel des Bauern Simon im Orchester erklingt.
Ein volkstümlich-musikantischer Bezug lässt sich aber auch zum Menuett der – bis auf den ‚Paukenschlag‘ – zwar noch in 1791 komponierten aber erst im darauffolgenden Frühjahr aufgeführten G-Dur-Sinfonie herstellen: Stampfende Akzente und stilisierte Juchzer zu ländlerartigen Rhythmen lassen vor dem inneren Auge bäuerlich-einfache Akteure einer in Tönen gegossenen Komödie, deren Gesten, Mienenspiel und Humor generierenden Dialoge erscheinen.
Eine weitere „überaus gesprächige Versammlung“ betrete – so der Eindruck von Wolfgang Stähr – schließlich „[i]m Finale der ‚Surprise‘-Sinfonie […] die unsichtbare Bühne, redet mit-, über- und durcheinander, tauscht Argumente aus, wagt scheue Einwände und polternde Machtworte, stutzt und verstummt, um zuletzt unter knallenden Paukenschlägen Szene, Satz und Symphonie wirkungsvoll zu beschließen.“4
Joseph Haydn, dem großen Erzähler der klassischen Sinfonie, gingen sie wohl niemals aus – die in Töne gegossenen Geschichten – erst recht nicht in jener gleichsam spannenden wir bislang erfolgreichsten Zeit seiner großen künstlerischen Karriere, wenige Tage vor Abschluss seines sechzigsten Lebensjahrs.

1 Zit. nach: Rita Fischer-Wildhagen (Hg.): Biographie des Adalbert Gyrowetz. Text der Originalausgabe 1848. Stuttgart: Matthaes Verlag, 1993, S. 89.
2 The Morning Herald, 24. März 1792. Zit. nach H. C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn in England 1791–1795. London: Thames and Hudson, 1976, S. 149 (Übersetzung: Christian Moritz-Bauer).
The Oracle. Bell’s new world, 24. März 1792. Zit. nach H. C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn in England 1791–1795. London: Thames and Hudson, 1976, S. 150 (Übersetzung: Christian Moritz-Bauer).

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95

SINFONIE NR. 95 C-MOLL HOB. I:95 (1791)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: London 1791, UA 1791
96

SINFONIE NR. 96 D-DUR «THE MIRACLE» HOB. I:96 (1791)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: London 1791, UA 1791
97

SINFONIE NR. 97 C-DUR HOB. I:97 (1792)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str (mit Solo-V)
Entstehungsjahr: London 1792, UA 3. oder 4.5.1792
98

SINFONIE NR. 98 B-DUR HOB. I:98 ([1791/1792], UA 2.3.1792)

Besetzung: Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: 1791/92
Uraufführung: 2.3.1792

Adagio – Allegro/ Adagio / Menuet. Allegro – Trio / Finale. Presto

 

von Christian Moritz-Bauer

„In 3tn Concert wurde die neue Sinfonie in bfa gegeben, und wurden das Erste und letzte Allegro encort“1 – also fasste Joseph Haydn auf trocken-humorvolle, (teil)anglisierte Weise in seinem ersten Londoner Notizbuch die Ereignisse rund um die Uraufführung seiner Sinfonie B-Dur Hob. I:98 zusammen, die am 2. März 1792 in den Hanover Square Rooms im Rahmen der Mr. Salomons Concerts über die Bühne ging.
Wie begeistert das Publikum damals sein neuestes Werk aufgenommen hatte, dürfte den Komponisten gleichermaßen stolz gemacht wie in gewisser Weise auch beruhigt haben. Schließlich war es noch nicht allzu lange her, dass die mit Salomons Konzertreihe in Konkurrenz stehenden Professional Concerts des auch aus Deutschland, genauer gesagt aus Mannheim stammenden und noch dazu gleichfalls am Hanover Square veranstaltenden Violinisten Wilhelm Cramer, seinen früheren Schüler Ignaz Pleyel aus Straßburg an die Themse geholt hatten, um diesen mit fleißiger Unterstützung der Presse als seinen großen künstlerischen Gegenspieler zu installieren.
Wann genau Haydn seine erste Londoner B-Dur-Sinfonie komponierte – mit Hob. I:102 sollte ihr etwa drei Jahre später noch eine weitere folgen –, lässt sich nur vermuten, da die entsprechende Stelle am Titelblatt des Autographs abgerissen und verlorengegangen ist. Angesichts des großen Arbeitspensums, das Haydn im Winter 1791/92 zu bewältigen hatte, ist jedoch anzunehmen, dass er das Werk bereits in Grundzügen während seines auf einem Landgut in Herfordshire verbrachten vorausgehenden Sommers konzipiert hatte. Dies wiederum würde allerdings der u. a. von Donald Francis Tovey vertretenen These widersprechen, dass insbesondere der zweite Satz der Sinfonie von Haydn einst als eine Art sinfonisches Requiem für Wolfgang Amadé Mozart erdacht worden war.2 Unstrittig ist jedoch, dass Haydn im langsamen Satz von Hob. I:98 einen besonders tief berührenden Ton anschlug und dadurch, so Ludwig Finscher, „die Sphäre der […] gesellschaftlichen Unterhaltung und Verbindlichkeit radikal transzendier[te]“.3
Im ersten Takt der ersten Violine mit der ergänzenden Spielanweisung „cantabile“ vorgezeichnet, verfügt das Adagio über eine leicht zu erfassende thematische Verwandtschaft mit der seinerzeit noch auf den Ausruf „God save the King!“ endenden englischen Nationalhymne und darf daher mit Fug und Recht sowie in den Worten A. Peter Browns als „the last of Haydn’s noble hymntype slow movements in triple meter and the most moving of its type“4 betrachtet werden.
Kaum hörbar, aber sicherlich nicht zufällig ist das Menuett mit dem vorausgehenden langsamen Satz auf subtile motivische Weise verbunden, allerdings lassen das schnelle Tempo und mittels Forzati hervorgehobene Akkorde inmitten der dunkel getönten B-Teile die ansonsten hier gerne anzutreffende spielerische Leichtigkeit des höfischen Tanzes vermissen. (Eine besondere, in diesem Fall sogar satzimmanente, innere Verbindung hat übrigens auch schon der erste Satz der B- Dur- Sinfonie, nämlich eine solche zwischen der gleichsam im Tempo Adagio gehaltenen Einleitung und dem darauffolgenden Allegro-Hauptteil vorzuweisen, denn beide greifen sie auf eine nahezu gleiche anfängliche Tonfolge zurück. Im ersteren Fall entwickelt sich daraus ein pathetisches instrumentales Rezitativ der Streicher, im zweiten schließlich ein dichtes Geflecht an kontrapunktisch-thematischer Arbeit.)
Wie schon das erste, so wurde – nach des Komponisten eigenen Worten – auch das ‚letzte Allegro‘ der Sinfonie Nr. 98, eigentlich deren abschließendes Presto, auf besonderes Bitten des Publikums seiner Erst- wie Zweitaufführung wiederholt. Dass es sich dabei, laut H. C. Robbins Landon, um das „komplexeste und ambitionierteste Finale in Haydns gesamter Karriere“5 handelt, hat mit seiner ausgewöhnlichen Länge aber auch seiner mit denkbar großem Ehrgeiz umgesetzten Sonatenform zu tun. Seine themen- wie motivverarbeitenden Elemente prägen aber nicht nur die Durchführung, bereits im Hauptteil des Satzes nehmen sie einen breiten Raum ein. Umso größer die Überraschung, wenn Haydn gleich nach dem hier angesetzten Doppelstrich und einer an sich schon seltsam anmutenden Generalpause sogleich ein „grotesk-gemütliches“ ursprünglich Salomon höchstpersönlich zugedachtes Violinsolo ‚vom Stapel lässt‘– und das zudem noch in der vollkommen unvorbereiteten Tonart As-Dur – ein Scherz, der sich übrigens vor Satz- und Werkende noch einige weitere Male in veränderter Form wiederholen wird. Das Schlusswort im zunehmend komischen Geschehen des B-Dur-Finale hatte allerdings an jenem Abend im März des Jahres 1792 der frischgebackene Doctor of Music himself – und zwar in Form eines kleinen, aber wohl ungemein wirkungsvoll vorgetragenen Tastensolos! Also umspielte Haydn – nach vorausgegangener Temporeduzierung und mit perlenden Figurationen – das allerletzte Erscheinen des Hauptthemas des Satzes.

 

Zit. nach Denes Bartha (Hg.): Joseph Haydn, Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Unter Benutzung der Quellensammlung von H. C. Robbins Landon. Kassel, Budapest u.a.: Bärenreiter, 1965, S. 512–13.
Vgl. Donald Francis Tovey, „Symphony in B Flat (Salomon, No. 8; chronological List, No. 98)“, in: Ders.: Essays in Musical Analysis. Symphonies and other Orchestral Works. Oxford & New York: Oxford University Press, 1989, S. 352–53.
Ludwig Finscher: Joseph Haydn und seine Zeit. Laaber: Laaber-Verlag, 2000, S. 368.
A. Peter Brown, The Symphonic Repertoire, Volume II: The First Golden Age of the Viennese Symphony: Haydn, Mozart, Beethoven and Schubert, Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press, 2002, S. 262.
Vgl. H. C. Robbins Landon: Haydn: Chronicle and Works. Haydn in England 1791–1795. London: Thames and Hudson, 1976, S. 534 (Übersetzung: Christian Moritz-Bauer).

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99

SINFONIE NR. 99 ES-DUR HOB. I:99 (1793)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Klar, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: 1793, UA 10.2.1794
100

SINFONIE NR. 100 G-DUR «MILITÄRSINFONIE» HOB. I:100 (1793/1794)

Besetzung: (2) Fl, 2 Ob, 2 Klar, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Grosse Trommel, Becken, Triangel, Str
Entstehungsjahr: 1793/1794, UA 31.3.1794
101

SINFONIE NR. 101 D-DUR «DIE UHR» HOB. I:101 (1793/1794)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Klar, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: 1793/1794, UA 3.3.1794
102

SINFONIE NR. 102 B-DUR HOB. I:102 (1794)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: London 1794, UA 2.2.1795
103

SINFONIE NR. 103 ES-DUR «MIT DEM PAUKENWIRBEL» HOB. I:103 (1795)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Klar, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str (mit Solo-V)
Entstehungsjahr: London 1795, UA 2.3.1795
104

SINFONIE NR. 104 D-DUR «SALOMON»; «LONDON» HOB. I:104 (1795)

Besetzung: 2 Fl, 2 Ob, 2 Klar, 2 Fg, 2 Hr, 2 Trp, Pk, str
Entstehungsjahr: 1795, UA 4.5.1795
105

SINFONIE NR. 105 B-DUR (SINFONIA CONCERTANTE) HOB. I:105 (1792)

Besetzung: V, Vc, Ob, Fg – Fl, Ob, 2 Hr, 2 Trp, Pk, Str
Entstehungsjahr: 1792, UA 9.3.1792
107

SINFONIE NR. 107 B-DUR HOB. I:107 "A" (bis 1762 [1760/1761)

Besetzung: 2 Ob, 2 Hr, Str
Entstehungszeit: bis 1762 [1760/1761]
108

SINFONIE NR. 108 B-DUR HOB. I:108 "B" (bis 1765 [1762])

Besetzung: 2 Ob, Fg, 2 Hr, Str
Entstehungszeit: bis 1765 [1762]
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